Von Horst Trapp
Nach zwei Weltkriegen und der Beendigung des Kalten Krieges soll das neue, größere und geeinte Europa entstehen. Eine wichtige Rolle kommt dabei einer Europäischen Verfassung zu. Im vergangenen Jahr wurde von einem Konvent hochrangiger Personen ein entsprechender Entwurf vorgelegt. Dieser wurde im Oktober nach einigen Änderungen von den Staatschefs verabschiedet. Nun steht die Ratifizierung in den 25 Mitgliedsstaaten an. Da eine Verfassung einen weitaus höheren Stellenwert als ein einfaches Gesetz hat, müsste der Entwurf deshalb auch entsprechend behandelt werden. Er muss zunächst bekannt gemacht und dann über einen längeren Zeitraum allgemein zur Diskussion gestellt werden. Änderungen müssen möglich sein. Aus einem derartigen Prozess könnte im Ergebnis einer Volksabstimmung eine breite Zustimmung der Bevölkerung erwachsen. Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes lediglich durch den Parlamentarischen Rat und der Ausdehnung des vielfach veränderten Grundgesetzes auf die Länder der DDR wäre es an der Zeit, mehr Demokratie zu wagen.
Einzufordern ist eine öffentliche
Debatte über das größer gewordene Europa, seine Chancen für die Menschen, über
die Rolle einer Verfassung und deren zentrale Inhalte. Die vom Bundesauschuss
Friedensratschlag veranlasste öffentliche Befragung zeigte die große Unkenntnis
über den Verfassungsentwurf. Dies ist weniger dem immer wieder beklagten
allgemeinen Desinteresse als vielmehr der Tatsache geschuldet, dass die Politik
sich mit Informationen sehr zurückhält und eher die Angelegenheit unter
weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit über die Bühne bringen will. Nicht
zerreden lassen wollen zahlreiche Politiker den Entwurf, sonst würde der Inhalt
sehr viel schlechter werden, wird als Totschlagargument gegen ein
demokratisches Verfahren ins Feld geführt.
Eine Verfassung soll den Rahmen
abstecken, innerhalb dessen Regierungen Entscheidungsspielräume besitzen, um
dem Volkswillen zu entsprechen. Bei einer Aussprache über den vorliegenden
Entwurf würde sehr schnell klar, dass weder der Auftrag zur Stärkung der militärischen
Interventionsfähigkeit Europäischer Streitkräfte noch die Verpflichtung auf
eine neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik in eine Verfassung gehören.
Würde wirklich demokratisch verfahren, dann interessierten sich mit Sicherheit
künftig bei Europawahlen mehr als 43 Prozent der Wahlberechtigten für dieses
Europa, zu dessen Selbstverständnis nach dem vorliegenden Verfassungsentwurf
die Militarisierung der Außenpolitik und die Demontage sozialstaatlicher
Substanz gehören.
Einige sehen in dem Entwurf auch
positive Aspekte. Aber was soll der Hinweis auf die nachträgliche angeblich
prominente Positionierung des Friedens und die Anerkennung des Völkerrechts,
wenn klipp und klar eine militärische Aufrüstungsverpflichtung und
Kampfeinsätze auch außerhalb der Union festgeschrieben werden sollen. Die
Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeit, Forschung,
Beschaffung und Rüstung hieß zwar im vorhergehenden Entwurf etwas weniger
anspruchsvoll Amt. Aber ihr Zweck ist es, unverändert gezielt auf Aufrüstung
hinzuarbeiten und darauf, dass unser Geld in die Kanäle der Rüstungswirtschaft
fließt.
Die hervorgehobenen Werte der
Europäischen Union im Teil 1 und die Grundrechte im Teil 2 werden durch die
konkreten Vorgaben im Teil 3 ausgehebelt oder gar ins Gegenteil verkehrt. Das
neoliberale Wirtschaftsmodell soll in der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und
Geldpolitik festgeschrieben, die öffentliche Daseinsvorsorge weitgehend
privatisiert werden. Anstelle eines “Rechts auf Arbeit”, wie es bereits die
Weimarer Verfassung kannte, soll nun das “Recht zu arbeiten” gewährt werden.
Und anstelle der Sozialbindung des Eigentums tritt die “unternehmerische
Freiheit”.
Andere verweisen darauf, dass das
Europäische Parlament in seinen Anhörungs- und Vetorechten gestärkt würde, was
richtig ist. Doch zu sagen haben die Parlamentarier wenig. Ihre Kontrollrechte
gegenüber der Kommission, dem Ministerrat oder dem Europäischen Rat sind ebenso
unzureichend wie die Möglichkeiten zu eigenen Gestaltungsinitiativen.
Auch ohne Verfassung nimmt die
Militarisierung der Europäischen Union bereits konkrete Gestalt an. Binnen fünf
Jahren hat sie ihren militärischen Arm wachsen lassen. Schnelle Eingreiftruppe,
Battle groups, neue Waffensysteme und was sonst noch auf den Weg gebracht
wurde.
Die nationalen Regierungen haben
auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der europäischen Völker immer weniger
Einfluss. Viele politische Entscheidungen werden schon heute in Brüssel
getroffen. Wir können daran nichts ändern, das ist EU-Recht, solches und
ähnliches wird künftig öfter zu hören sein. Die Demokratie hat das Nachsehen.
Über die Verlagerung von Standorten wird ohnehin in Konzernzentralen
entschieden. Investitions- und Kapitalströme haben längst die nationalen
Grenzen hinter sich gelassen.
Erwartungen, wonach im
europäischen Verbund vieles arbeitsmarkt- oder sozialpolitisch besser wird,
werden sich sehr bald in Luft auflösen. Schon hat EU-Kommissar Bolkestein eine
EU- Richtlinie vorgelegt, um nicht nur den Dienstleistungsbereich, sondern auch
weite Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Sozialsysteme zu
entsorgen. Nationale Errungenschaften, bei uns unter “Rheinischem Kapitalismus”
bekannt, sollen als mit EU-Recht unvereinbar beseitigt werden. Der
angelsächsische Aktionärs-Kapitalismus lässt grüßen.
Besonders verrückt muten
Überlegungen an, wonach eine starke europäische militärische Aufrüstung den
Kontinent in die Lage versetzte, den USA kontra zu bieten. So ließen sich
friedenspolitische Ansätze möglicherweise eher verwirklichen. Abgesehen davon,
dass dies angesichts der überwältigenden militärischen Überlegenheit der USA nicht möglich ist,
wäre ein solches Herangehen kein Beitrag zu Frieden und Unabhängigkeit von der
US-Politik.
Wenngleich eine gute Verfassung
noch lange keine Garantie für eine ebensolche Politik ist, muss es
interessieren, wie die Europäische Verfassung letztlich aussieht. Um es noch
einmal ganz deutlich zu sagen: Die Bundesrepublik Deutschland führt, wenn es
Politik und Verfassungsgericht wollen, entgegen dem grundgesetzlichen
Friedensauftrag, Krieg. Auch wird die Republik trotz Sozialstaatsgebot bis zur
Unkenntlichkeit umgekrempelt. Ferner lassen die derzeitigen Kräfteverhältnisse
den großen friedenspolitischen und sozialen Aufschwung auch im Rahmen einer
Diskussion über die EU-Verfassung nicht erwarten.
Dennoch oder auch gerade deswegen
ist es unerlässlich, Alternativen zum vorliegenden Entwurf öffentlich zu
machen. Sie zielen auf ein friedliches und sozial gerechtes Europa ab. Sie
könnten Teil der Diskussion verschiedener gesellschaftlicher Kräfte sein, die
bereits in der Friedensbewegung, eher zögerlich in einigen Gewerkschaften und
der Sozialforumsbewegung in Gang gekommen ist.
Das neue Europa muss eine aktive
friedensbewahrende Rolle in der internationalen Politik spielen. Krieg und
militärische Gewaltanwendung zur Lösung von Konflikten sind zu ächten,
Kampfeinsätze im Rahmen von Krisenbewältigung sind zu unterlassen, das
Völkerrecht ist zu achten, die UNO ist zu stärken und zu demokratisieren.
Militärische Kapazitäten sind bis zur strukturellen Nichtangriffsfähigkeit
abzubauen, Massenvernichtungswaffen sind zu beseitigen und Rüstungsexporte sind
einzustellen. Konflikte sind präventiv zu bearbeiten. Statt einer Agentur für
Aufrüstung ist eine solche für Abrüstung zu schaffen. Politische Entscheidungen
müssen durch ein Parlament, das diesen Namen verdient, kontrolliert und
transparent gemacht werden.
In diesem Europa gibt es Arbeit
für alle, von der die Menschen in Würde leben können, soziale Sicherheit,
Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit. Flächendeckende öffentliche
Dienstleistungen gewährleisten eine bezahlbare Versorgung. Das Solidarprinzip
hat Vorrang vor dem Konkurrenzprinzip. Verbindliche Mitbestimmungs- und
Beteiligungsrechte werden ausgebaut. Und es gibt Regeln gegen Steuer- und
Sozialdumping sowie akzeptable Mindeststandards, die nicht unterschritten
werden dürfen.
Zu den Anforderungen an ein
friedliches, demokratisches und sozial gerechtes Europa gehört es, dass die
Völker über die Verfassung entscheiden können. Was die Deutschen betrifft, so
ist das bislang nicht vorgesehen. Franz Müntefering, stets um Entlastung der
Bundesregierung bemüht, hat nach der Ausbildungsabgabe, einer
Bürgerversicherung und einem gesetzlichen Mindestlohn nun ein Referendum über
die EU-Verfassung ins Spiel gebracht. Möglicherweise natürlich nur und falls
die anderen mitmachen. Tun die aber nicht, wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts
schon mal vorsorglich mitteilte. Begeisterte Europäer seien nicht durch eine
“gönnerhaft gewährte Volksbefragung” zu schaffen, ließ er sich zitieren. Wenn
er zugleich Gleichgültigkeit gegenüber der europäischen Einigung feststellt, so
muss er begreifen, dass diese Haltung durch die Missachtung demokratischer
Mitwirkungsrechte gefördert wird.
Ein anderes Europa ist möglich. Diese hoffnungsfrohe Botschaft ist richtig. Aber das andere Europa wird mit der vorgesehenen Verfassung nicht erreicht. Der inakzeptable Entwurf wird auch nicht besser, wenn es der CSU gelingt, den ersehnten Gottesbezug unterzubringen. Vielfältige Initiativen unterschiedlicher Kräfte sind erforderlich, die ja zu Europa, aber nein zu dieser Verfassung sagen.