Von Norman Paech
Der
Verfassungsentwurf schreibt nur fest, was sozialpolitisch die Entwicklung in
der EU seit langem bestimmt. Die Wirtschaftsordnung des Entwurfs nimmt den
alten Maastricht-Vertrag auf. Alle Koordinaten einer kapitalistischen
Wirtschaftsordnung sind fast unverändert aus dem Vertrag in die neue Verfassung
übernommen worden, darunter das ausgewogene Wirtschaftswachstum und die “in
hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung
und sozialen Fortschritt zielt” (Art. I-3 (3)).
Gelangt man nach einigem Blättern
in den umfangreichen dritten Teil des Entwurfes, hat sich auch das soziale
Element weitgehend verflüchtigt: Die Mitgliedsstaaten werden in Art. III-69 auf
den "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb
verpflichtet". Bei Verstoß gegen das vorrangige Ziel der Europäischen
Wirtschafts- und Währungspolitik, die Preisstabilität, werden strikte und
detaillierte Sanktionen angedroht (Art. III-77), während die angeblich
gewünschte Vollbeschäftigung nur zur Zusammenarbeit, Unterstützung und Ergänzung
ohne jegliche Sanktionsmöglichkeiten verpflichtet. Auf die
Allgemeinwohlverpflichtung des Eigentums entsprechend Art. 14 II des deutschen Grundgesetzes und die Sozialisierungsmöglichkeit
gemäß Art. 15 GG verzichtet der Entwurf ohnehin. Vielmehr bemüht er sich, das
oft gerügte Versäumnis des Grundgesetzes, die Unternehmerfreiheit ausdrücklich
verfassungsrechtlich zu adeln, in Art. I-16 nachzuholen.
Der durchgängig neoliberale Ansatz dieser
Wirtschaftsverfassung wird besonders in der Handelspolitik deutlich, für die
aus-schließlich die EU zuständig sein soll. Auch der Handel mit
Dienstleistungen und geistigem Eigentum wird der Verantwortung der nationalen
Regierungen und Parlamente entzogen. In einer wohl eher notgedrungenen
Koalition haben Sylvia-Yvonne Kaufmann von der PDS und der Ministerpräsident
von Baden-Württernberg, Erwin Teufel (CDU), versucht, elementare
Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, Sozialdienste und Medien durch das
Einstimmigkeitsprinzip vor dem Kommerz zu schützen, was die Mehrheit im
Verfassungskonvent allerdings ablehnte.
Geist und Faust dieses
“Gemeinschaftskonzepts der offenen Wirtschaft” hat bisher am unbekümmertsten
der Deutsche Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio in der Juristenzeitung als
“Logik der wirtschaftlichen Harmonisierung”
gepriesen. Für ihn gruppieren sich “die Gesetzgebungszuständigkeiten der
Gemeinschaft ... als Politiken wie die Handelspolitik, die Wirtschafts- und
Währungspolitik, die Sozial- und Umweltpolitik rund um die Marktfreiheiten...
und (sind) sachlich auf sie bezogen”. Seine “Grundfreiheiten”, die als
“machtvolle Hebel gegen die Beharrungskräfte der Mitgliedsstaaten” eingesetzt
werden müssen, sind: “Freizügigkeit, Warenverkehrsfreiheit,
Dienstleistungsfreiheit, Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs”. Um der
Gefahr der “zentralistischen Wiederkehr politischer Interventionen in die
Wirtschaft” zu begegnen, sei es “sinnvoll, die Grundfreiheiten deutlicher als
bisher um Grundrechte gerichtet gegen die Gemeinschaftsgewalt zu ergänzen.
Grundrechte wie die Berufs- und Eigentumsfreiheit, Freiheit der Wohn- und
Geschäftsräume...”. Verbunden mit seinen Warnungen vor “Rechten auf
soziokulturelles Existenzminimum” und vor “Verbürgungen zum Schutz vor den
Gefahren der Gentechnik oder der Informationstechnologien” ist dieses Konzept
dann genau das, was, wie di Fabio meint, die Europäische Verfassung nicht sein
könne: ein “bloßes Credo wirtschaftsliberaler Grundüberzeugungen”.
(aus: Ossietzky, 8/2004, S. 257ff., gekürzt durch die Redaktion)