„Das Gute und das Böse unserer Wurzeln erfassen“

 

Interview von Benjamin Haerdle mit dem Vorsitzenden von “Borussia” Robert Traba

Seit 13 Jahren bemüht sich die Kulturgemeinschaft „Borussia“ aus der polnischen Provinzhauptstadt Olsztyn (Allenstein) um die historische Aufarbeitung der Region des früheren Ostpreußens. Der beharrliche Weg des Dialogs der NGO in einem von verschiedenen Kulturen, Nationen und Ethnien geprägten Landstrich erfährt auch in Deutschland zunehmend Anerkennung. Am 7. November erhielt die Kulturgemeinschaft in Köln den diesjährigen Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte. n-ost-Korrespondent Benjamin Haerdle sprach mit dem Vorsitzenden Robert Traba über das Verhältnis der beiden großen Nachbarn und über die Kulturarbeit von „Borussia“. Der in Węgorzewo (Angerburg) geborene Historiker ist seit Gründung von „Borussia“ im Jahr 1990 deren ehrenamtlicher Vorsitzender. Hauptberuflich arbeitet er an der Warschauer Universität und an der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Momentan habilitiert der fließend deutsch sprechende dreifache Familienvater, der an der Breslauer Universität seinen Doktor phil. machte, zum Thema „Ostpreußen 1914-1933. Ein Studie über die kollektive Identität“.

 

Die Kulturgemeinschaft „Borussia“ erhielt die Auszeichnung, „weil es hervorragend gelang, trotz der dunklen Vergangenheit, Brücken zwischen Deutschland und Polen zu bauen“. Nun kriselt es seit geraumer Zeit zwischen den beiden großen Nachbarn, siehe die Diskussionen über Entschädigungsansprüche, die Preußische Treuhand-Stiftung oder die Beteiligung am Irak-Krieg. Welche Fehler wurden auf beiden Seiten gemacht?

Traba: Von Fehlern würde ich nicht sprechen, eher von Missverständnissen. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass wir eine Asymmetrie der Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit haben. Deutschlands Sensibilität im Irak-Krieg, die polnische Annäherung an die amerikanische Politik, das waren zwei sich einander ausschließende politische Vorstellungen. Nach vielen Jahren des „Versöhnungskitsches“ kam es zu einer Rationalisierung in den deutsch-polnischen Beziehungen. Wir alle dachten, dass das Schlimmste schon hinter uns ist, doch unser Denken war zu oberflächlich. Nun gibt es Konfrontationen. Erstaunt hat mich aber, dass Vertreibung und das damit verbundene Problem der Eigentumsentschädigung nach vielen Jahren intensiver Diskussion wieder hoch kochen.

Wie kann das zerrüttete Verhältnis wieder gekittet werden?

Traba: Für mich spielt sich das alles im Rahmen einer normalen Politik ab, in der es immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt. Deshalb warne ich vor Panik. Wichtig ist viel mehr, dass im deutsch-polnischen Verhältnis trotz des „Versöhnungskitsches“ ein stabiles Fundament gebaut wurde, bestehend aus Jugendaustausch, Kulturpolitik und zwischenmenschlichen Kontakten.

Schwierigkeiten hatte anfänglich auch „Borussia“. Mit welchen Problemen wurde die Kulturgemeinschaft konfrontiert?

Traba: Unsere Gruppe bestand aus jungen Menschen, Ende 20, Anfang 30. Aufgewachsen in der sozialistischen Volksrepublik Polen und ideologisch belastet. Wir wollten uns von diesen Ideologien befreien und in dem historischen Transformationsprozess mit eigener Stimme sprechen. Das war natürlich eine Provokation. Die „Stimme aus der Provinz“ in einem zentralistischen Land und junge Wissenschaftler, Lehrer oder Schriftsteller ohne akademische Titel. „Borussia“ sprach vorbehaltlos ohne Stereotypen, fand schnell Diskussionspartner, eckte mit ihrer Philosophie aber auch an. Es gelang uns, dass man zum ersten Mal offen in Polen mit Deutschen, Litauern und Russen über Ostpreußen und seine Identität diskutieren konnte. Erstmals haben wir uns Polen nicht nur in der Opferrolle, sondern auch kritisch nach unserer Rolle in Ermland und Masuren nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt.

Was ist das Besondere an der Region Ermland und Masuren?

Traba: Ermland und Masuren, das ehemalige südliche Ostpreußen, ist das „Atlantis des Nordens“. Vieles aus dieser Welt ist verschwunden: Menschen, Namen und Ortsbezeichnungen haben gewechselt, Symbole haben ihre Bedeutung geändert. „Borussia“ versucht, „Atlantis“ wieder in die Wirklichkeit zu heben. Es ist eine neue symbolische Mythologisierung dieser Welt, in der wir leben, aber ohne nationale Ideologie. Provokativ formuliert: Wir wollen es als „wieder gewonnenes Gebiet“ für uns identifizieren. Wieder gewonnen einerseits nach der deutschen Ideologisierung bis 1945, andererseits nach der polnischen Ideologisierung nach dem Krieg. Wir versuchen das Gute und das Böse unserer Wurzeln zu erfassen.

Wie kann man die Identität dieser Region definieren?

Traba: Das Problem einer regionalen Identität ist hier ähnlich komplex wie zum Beispiel die der Bewohner der fünf neuen Bundesländer. Alle sprechen darüber, alle fragen danach, doch niemand weiß eigentlich genau, was das ist.

Für Ermland und Masuren kann man sagen, dass die Identität ihrer Bewohner durch drei wichtige Faktoren definiert wird: Erinnerung, „Verwurzelung“ und Globalisierung. Zum großen Teil ist die Erinnerung für die Generation, die in der Zweiten Republik geboren und groß geworden ist, die heutige Projektion der alten Heimat. In der „Väter- und Großväter“-Generation ist das der größte Teil der Bevölkerung Ermlands und Masurens. „Verwurzelung“ ist ein Problem der ersten Nachkriegsgeneration. Sie musste als erste in einer für sie noch neuen Kulturlandschaft die Tradition der Eltern mit eigenen Integrationserfahrungen konfrontieren. Globalisierung drückt sich hier vor allem durch die „Flucht“ in den Wohlstand, durch Migration und durch berufliche Mobilität aus. Es betrifft die jüngste und flexibelste Gesellschaftsgruppe. Geschichte ist für sie ein fernes Problem. Momentan ist es jedoch so, dass die Frage der Nationalität nicht die höchste Priorität in der Gesellschaft hat. Viel wichtiger sind derzeit für viele Menschen die sozialen Probleme, die natürlich auch die Identität bestimmen.

In wie fern beeinflusst der EU-Beitritt Polens die Arbeit von „Borussia“

Traba: Seit dem 1. Mai sind die Grenzen offen, neue Probleme und Fragen entstehen. Zum Beispiel, wie man den nationalen Kanon unserer Kultur in dieser kulturellen Vielfalt Europas erhalten kann. Es war immer Ziel der polnischen Nation, einen eigenen Staat zu gründen. Doch nun sehen viele die Gefahr, dass der mächtige Westen und Deutschland als erster Nachbar uns aufkaufen. Dies ist eine neue Erscheinung. Man erkennt das etwa an der katholisch-nationalen Bewegung. Praktisch aus dem Nichts gelangte sie bei den Europa- und Parlamentswahlen auf vordere Plätze. Das spiegelt die Angst vor dem Fremden, vor dem Unbekannten in weiten Kreisen der Bevölkerung wider.

Diese Richtung stellt für „Borussia“ eine Bedrohung dar. Zum einen kann man mit diesen Menschen nur schwer diskutieren, weil deren Ängste irrational sind. Andererseits ist es eine reale Gefahr und Aufgabe, wie man das regionale und nationale Gleichgewicht halten soll. Fakt ist, wir werden in Diskussionen häufiger attackiert, weil wir plötzlich im Ungewissen sind. Aufgabe von „Borussia“ muss es sein, die nationale Identität Polens, die lange Zeit nach einem Modell aus dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts lebte, durch die entstehenden Kontakte und Diskussionen mit Europa zu bereichern. Es geht nicht darum, auf eine nationale Identität zu verzichten.

„Borussia“ will keine Massenorganisation sein. Kommerzialisierung als „Festivalisierung des Alltagslebens“ lehnen Sie ab. Wie vermittelt „Borussia“ ihre Ansichten einer breiten Öffentlichkeit?

Traba: Vor allem über Bildungsarbeit: Workshops, Seminare, Ausstellungen. Zudem veröffentlichen wir die Zeitschrift „Borussia“ und verschiedene Bücher. Durch die zunehmende Dauer unserer Tätigkeit sprechen wir immer breitere Schichten der Gesellschaft an. Wissen Sie, ich bin überzeugter Marathonläufer und Historiker. Geschichte und Wirklichkeit sehe ich in langen Dimensionen. Der deutsch-polnische Preis der Außenminister ist Auszeichnung nicht nur für die Arbeit, sondern auch für die Geduld, die wir bisher hatten.               

 

Die Kulturgemeinschaft „Borussia“

Im Dezember 1990 entstand in Olsztyn (Allenstein), Wojwodschaftshauptstadt der Region Ermland und Masuren, die Kulturgemeinschaft „Borussia“. Das 18-köpfige Gründungskomitee mit Robert Traba an der Spitze bildete eine Gruppe örtlicher Intellektueller, darunter Historiker, Literaten und Kunsthistoriker. Ziel war es, ein unabhängiges Betätigungsfeld zur Schaffung neuer Werte in Ermland und Masuren zu bilden. In Dialog tritt der gemeinnützige Verein mit polnischen und nichtpolnischen Vereinigungen und staatlichen Organisationen, die sich mit dem Gebiet zwischen der unteren Weichsel und der Memel verbunden fühlen. „Lokales soll mit universalen Gedanken verbunden werden“, betont Traba. Es gehe um „nationale Minderheiten und um die Problematik der Koexistenz von Kulturen und Nationen im zeitgenössischen Mitteleuropa“. Ermland und Masuren ist eine Region mit abwechslungsreicher Vergangenheit: ursprünglich Staat des Deutschen Ritterordens, dann Herzogtum Preußen und das Ermland, später Preußen und bis 1945 Ostpreußen. Durch den Zweiten Weltkrieg kam es zu einer großen Umwälzung der Bevölkerungsstruktur. Millionen Deutsche wurden vertrieben oder flohen, die leer stehenden Häuser bezogen nachrückende Ukrainer und Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten oder aus Zentralpolen.

„Borussia“ zählt derzeit 140 Mitglieder. Die preisgekrönte NGO ist u.a. Herausgeberin der Zeitschrift „Borussia“, organisiert jährliche Sommerseminare für Jugendliche aus Deutschland, Polen, Russland, Litauen und Weißrussland. Im Juli erhielt Robert Traba als Vorsitzender der „Borussia“ in Berlin den Deutsch-Polnischen Preis der Außenminister Joschka Fischer und W³odzimierz Cimoszewicz.

Kontakt: Stowarzyszenie Wspólnota Kulturowa “Borussia”, PL-10-106 Olsztyn, ul. Wyzwolenia 2/7; tel./fax: +48 (89) 534 00 26, Web: http://free.ngo.pl/borussia; E-mail:borussia@rubikon.pl