Nachbarn – revisited

 

Von Friedrich Leidinger

Das polnisch-sowjetische Verhältnis seit 1939 und die Beziehungen der polnischen Bevölkerung zur jüdischen Minderheit während und nach dem Krieg waren Themen, die erst seit 1980er Jahren in Polen öffentlich diskutiert werden. Mit dem Erscheinen des Buches „Nachbarn“ des Sozialwissenschaftlers Jan Tomasz Gross im Sommer 2000 erfuhr diese Debatte einen Höhepunkt. Gross hatte gestützt auf eine Reihe von Quellen und Augenzeugenberichten den Verlauf eines Pogroms aus dem Sommer 1941 nachgezeichnet. Praktisch alle jüdischen Einwohner des nordöstlich von Warschau gelegenen Städtchens Jedwabne waren von ihren eigenen Nachbarn in eine Scheune getrieben und dort verbrannt worden. Zwar waren nach dem Krieg mehrere der für den Mord verantwortlichen Bewohner Jedwabnes vor Gericht gestellt worden, doch ein Gedenkstein schrieb die Verantwortung für den Mord deutschen Tätern zu. Gross’ Kernthese lautete, dass die Ermordung der Jedwabner Juden am 7. Juli 1941 anders als in der bisherigen Geschichtsschreibung die authentische Tat der ortsansässigen nichtjüdischen polnischen Bevölkerung gewesen sei.

 

Gross ist kein Historiker; sein Buch reflektiert die Beziehungen zwischen der nichtjüdischen Mehrheit und der jüdischen Minderheit eines Provinzstädtchens aufgrund der Schilderung von Zeitzeugen. Er wusste wohl, dass er mit seinem Buch in Polen heftige Reaktionen auslösen würde. Neben dem zu erwartenden Aufschrei vor allem nationalkonservativer Kräfte erntete er allerdings auch bei vielen Wissenschaftlern Widerspruch. Für das polnische Institut des Nationalen Gedenkens (IPN), das erst kurz vor dem Erscheinen von Gross’ „Nachbarn“ gegründet und durch die Eingliederung der Hauptkommission zur Untersuchung von Verbrechen gegen das polnische Volk eine herausgehobene Stellung eingenommen hatte, wurde die Auseinandersetzung mit Gross’ Thesen zur ersten Bewährungsprobe. Sein Präses, Professor Leon Kieres, ordnete eine historische sowie eine erneute staatsanwaltliche Untersuchung an. Das Ergebnis dieser Forschungsbemühungen kann nun auch in deutscher Sprache nachgelesen werden.1 Die Autoren der Untersuchung – Edmund Dmitrów, Paweł Machcewicz und Tomasz Szarota - leisten mit ihrer Darstellung einen unverzichtbaren Beitrag zur Rationalisierung und Historisierung der damals aufgeheizten polnisch-jüdischen Kontroverse. Der wichtigste Aspekt ihrer Arbeit besteht darin, „dass die bei Gross hinter dem Horizont verschwundene deutsche Besatzungsmacht als eigentlicher Drahtzieher der Verbrechen hervorgeholt und ihre Rolle bei der Anstiftung von Pogromen durch die Instrumentalisierung des polnischen Antisemitismus in dieser Region minutiös dokumentiert wird“, wie Wolfgang Benz und Beate Kosmala vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin in ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe bemerken.

Wie weite Teile Ostpolens fiel Jedwabne im September 1939 unter sowjetische Besatzung. Damit wurde die von starken sozialen und ethnokulturellen Spannungen bestimmte polnische Gesellschaft quasi prismatisch aufgespalten. Die durch Abtrennung vom deutsch besetzten Westteil des Landes zur Minderheit geratene polnische Bevölkerungsgruppe wurde von den sowjetischen Behörden systematischen Repressalien – Verhaftung, Mord und Deportation - ausgesetzt. Mal begründeten die sowjetischen Machthaber ihre Politik mit dem Kampf gegen ausbeuterische Besitzverhältnisse, mal schürten sie geschickt die existierende Spannung zwischen den Volksgruppen und nutzten sie für ihre Zwecke aus. Vor allem Angehörige der bis dahin diskriminierten ethnischen Minderheiten, darunter zahlreiche Juden aber auch nichtjüdische Polen, dienten den Besatzern als Spitzel2. Dies fachte den in dieser Gegend bereits seit der Vorkriegszeit politisch organisierten Antisemitismus weiter an, dessen Protagonisten geflissentlich übersahen, dass auch Juden unter den Opfern der sowjetischen Drangsal waren. So entstand der Nährboden für eine ganze Serie antijüdischer Pogrome und Morde, die mit dem Abzug der sowjetischen Truppen nach dem 22.06.1941, dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, einsetzten.

Gross hatte dieser 21-monatigen sowjetischen Herrschaft keine Bedeutung beimessen wollen. Die Studie des IPN sieht dagegen hier einen unverzichtbaren Erklärungsansatz für das Verhalten der polnischen Bevölkerung angelegt.  Die große Erschütterung der Jedwabne-Debatte rührt nicht allein aus der Konfrontation mit der Beteiligung der polnischen Bevölkerung an Pogromen, sondern auch aus dem Erschrecken über das absurde Verhalten der polnischen Bevölkerungsgruppe, die die im Sommer 1941 einrückenden deutschen Truppen in diesen Gebieten zum Teil als Befreier begrüßte.

Ein weiterer Aspekt der Darstellung betrifft die Brutalisierung des Aggressionspotentials in der polnischen Gesellschaft durch die Propaganda und Aufforderung zur Gewalt der deutschen Machthaber und ihre eigene hemmungslose Gewalttätigkeit. Dies zeigt sich z. B. an der Durchführung des ersten großen Judenpogroms durch ein deutsches Polizeibataillon am 27.06.1941 in Białystok, dem über 2.000 Menschen zum Opfer fielen. Die Pogrome der folgenden Wochen in den nordostpolnischen Kleinstädten entsprangen keineswegs der spontanen Gewalt der polnischen Bevölkerung in einem herrschaftsfreien Raum; sie standen vielmehr in engem Bezug zur Anwesenheit eines deutschen Einsatzkommandos, das während der gesamten Zeit in dieser Region aktiv war. Es gehörte zu den erklärten Aufgaben solcher Einsatzgruppen, die örtliche nichtjüdische Bevölkerung zur Gewalt gegen Juden anzustacheln und die Spuren des eigenen Handelns zu verwischen. Die Justizbehörden der Bundesrepublik Deutschland haben bei der Aufklärung solcher Verbrechen in den 60-er und 70-er Jahren eine bemerkenswerte Zurückhaltung gepflegt. Dies war nicht allein der Grund für das Ausbleiben einer Bestrafung der verantwortlichen deutschen Soldaten, sondern auch dafür, dass zahlreiche Aspekte der deutschen militärischen Aktivität in Osteuropa während dieser Zeit bis heute unaufgeklärt sind.

Mit ihrer Entgegnung kritisieren die Autoren Gross’ Versuch, ein von der Geschichte unabhängiges Schuldproblem zu formulieren. Gross hat in seiner Antwort an die Kritiker dagegen gehalten, sie relativierten mit ihrer historisierenden Darstellung das Ausmaß des Verbrechens. Die Wahrheit dürfte wohl sein, dass die individuelle Konfrontation von Tätern und Opfern und die damit verbundene moralische Frage weder historisch erklärt werden noch zum Ausgangspunkt eines historisch begründeten Wahrheitsanspruchs herhalten kann.

Die Jedwabne-Debatte in Polen ist selbst bereits zur Geschichte geworden. Mit seiner Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Pogroms hat der polnische Staatspräsident Kwaśniewski der Diskussion den emotionalen Kick genommen und gleichzeitig die Notwendigkeit weiterer historischer Aufklärung und die Aneignung der dabei gemachten Erfahrungen – und seien sie auch noch so schmerzhaft – als Teil der Nationalgeschichte sowie der Selbstaufklärung und Selbstkritik unterstrichen. In Deutschland hat man diese Debatte in Polen eher zurückhaltend verfolgt. Ist hierfür die Irritation verantwortlich, man müsse befürchten, dass hier die deutsche Täterschaft beim Mord an den Juden in Frage gestellt, also Wasser auf revisionistische Mühlen gelenkt wird? Vier Jahre nach dem Erscheinen von Gross’ „Nachbarn“ streiten Deutsche und Polen über die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen, zugleich ein Streit um Opfer und Täter. Da ist es gut, dass nun auch deutsche Leser Zugang zu einer “schwierigen Wahrheit"”(Leon Kieres) haben, die in den nächsten Jahren ein wichtiger Bezugspunkt sowohl für die polnische als auch die deutsche Auseinandersetzung mit Geschichte, Schuld und Erinnerung bleiben wird.

Der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband und dem Fibre-Verlag Osnabrück ist zu danken, dass sie diese Forschungsergebnisse als 4. Band in ihrer Publikationsreihe mit Beiträgen zu den deutsch-polnischen Beziehungen veröffentlicht haben. Dem Buch ist weiteste Verbreitung zu wünschen.              

1. E. Dimitrów/P. Machcewicz/T. Szarota: Der Beginn der Vernichtung. Zum Mord an den Juden in Jedwabne und Umgebung im Sommer 1941. Neue Forschungsergebnisse polnischer Historiker. Fibre-Verlag Osnabrück 2004 

2. s. auch: B Kerski, Ungleiche Opfer, in: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa, 14/2004, S. 34 ff.