Von Natasza Stelmaszyk
Seit 2002 ist in der Bibliothek des Collegium Polonicum in Słubice an der Oder das »Karl-Dedecius-Archiv« allen Interessierten zugänglich. Die besondere Sammlung, die zugleich eine wichtige Initiative innerhalb der deutsch-polnischen Beziehungen dokumentiert, befindet sich bereits seit Sommer 2001 in der Institution direkt hinter der Oderbrücke. Das Collegium Polonicum, eine Gemeinschaftseinrichtung der Frankfurter Europa-Universität und der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznañ, ist seit seiner Eröffnung Anfang 2001 eine wichtige Drehscheibe des deutsch-polnischen Austausches von Kultur und Wissenschaft. Die Bildungsstätte verfügt über ausgezeichnete Forschungsbedingungen. Ihre Bibliothek gehört zu den modernsten in beiden Regionen und birgt eine im mitteleuropäischen Raum einzigartige Büchersammlung. Neben den wichtigsten Werken der polnischen Literatur, darunter vielen Roman- und Lyrikausgaben der jungen und jüngeren Schriftstellergeneration, findet man hier deren sämtliche Übersetzungen, vor allem in die deutsche Sprache. Ebenfalls vorhanden sind die Hauptwerke der deutschen Literatur, sowie ihre polnischsprachigen Ausgaben. Somit bietet die Bibliothek den Studenten des Collegium Polonicum und der Europa-Universität Viadrina, zu denen auch zahlreiche angehende Übersetzer gehören, sehr gute Möglichkeiten für vergleichende Studien.
Einige in der Bibliothek
zugängliche Bücher wurden von bekannten Publizisten und Übersetzern polnischer
Literatur der neuen Bibliothek zur Verfügung gestellt: So findet man hier Gaben
von Henryk Bereska oder Karin Wolff. 2001 kam eine große Buchsammlung von dem
wohl bekanntesten deutschsprachigen Übersetzer polnischer Lyrik, Karl Dedecius
hinzu. Etwa 1000 Exemplare verschiedener Werkausgaben und Anthologien wurden
zusammen mit umfangreichen privaten Dokumenten des ‚Botschafters polnischer
Kultur’ in die Oderregion gebracht.
Um die Sammlung des langjährigen
Direktors des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt bemühten sich einige
Städte und Institutionen aus Deutschland und Polen. Endgültig entschied sich
Karl Dedecius für das Collegium Polonicum als neuen Standort seiner bis in die
50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreichende Sammlung. Diese
Entscheidung hatte mehrere Gründe. Zum einen ist diese moderne Institution
technisch und räumlich außerordentlich gut ausgestattet, was eine fachgerechte Archivierung
und Aufbewahrung wichtiger Dokumente ermöglicht. Bei der Standortwahl für das
Archiv spielte aber auch die geographische Lage von Słubice eine nicht
geringe Rolle – sowohl aus praktischen
als auch aus symbolischen Gründen. Hier in der Oderregion treffen zwei
Kulturkreise – der polnische und der deutsche – so deutlich aufeinander, wie
nirgendwo sonst. Hier auch scheint eine intensive Kommunikation zwischen ihnen
besonders wichtig und zugleich unvermeidbar zu sein.
Da sich Karl Dedecius Zeit seines
Lebens der Vermittlung polnischer Literatur im deutschsprachigen Raum widmet,
ist auch sein Archiv zweisprachig – »bilateral« und »bikulturell«. Deshalb ist
es besonders wichtig, dass es Wissenschaftlern in Polen und auch in Deutschland
gleichermaßen zugänglich ist. Diese Voraussetzung ist in Słubice gegeben.
Das Collegium Polonicum wurde als
eine Bildungsstätte der deutsch-polnischen Kooperation nach der Idee
kultureller Vielfalt in Europa konzipiert. Studenten und Professoren aus beiden
Kulturkreisen finden in Słubice ideale Bedingungen für interkulturelle
Forschung auf europäischem Niveau. All diese Möglichkeiten, die die Institution
am östlichen Ufer der Oder bietet, haben Karl Dedecius als einen der eifrigsten
Vertreter der Verständigung und Austausches zwischen den beiden Völkern
überzeugt.
Dass seine Sammlung als Depositum
nach Polen kam, ist jedoch vor allem dem Einsatz der Frankfurter
Europa-Universität Viadrina zu verdanken. Sie übernahm 2001 die komplette
Sammlung mit Büchern und zahlreichen Dokumenten von Karl Dedecius und übergab
sie dann als Depositum der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznañ. Beide
Institutionen einigten sich im Vorfeld, dass die Sammlung ihren Platz im
Collegium Polonicum findet. Die Finanzierung des Projektes war dank der Förderung
des Landes Brandenburg, der Universität Viadrina und der Deutschen
Forschungsgemeinschaft möglich.
Für Karl Dedecius war es von
Anfang an wichtig, dass das Archiv, das seinen Namen trägt, nicht nur zur
Anlaufstelle für Interessierte aus beiden Kulturregionen wird, sondern auch
junge Wissenschaftler zur Arbeit an einem gemeinsamen Europa anregt. Das
geschieht, wie es der Übersetzer selbst in seiner Eröffnungsrede unterstrich,
am besten durch Koedukation, Kooperation und Koexistenz. Diese Vision hat man
bislang weitgehend verwirklichen können, auch wenn es seit Anfang 2004
wirtschaftlich bedingte Schwierigkeiten mit der personellen Besetzung des
Archivs gibt. Für die nahe Zukunft erhofft man sich eine Verbesserung dieser
Situation, die es zumindest erlauben würde, das 2001 von Margarete Hager und
ihrem binationalen deutsch-polnischen Team angefangene und entwickelte Projekt
zur Erschließung der Bestände weiter zu führen. Nach einer mehrmonatigen Pause,
in der sich die Leiterin der Bibliothek des Collegium Polonicum, Gra¿yna
Twardak um das Archiv kümmerte, wurde seine Betreuung nun, dank der
Unterstützung der Fundation des Collegium Polonicum, einem jungen
Wissenschaftler aus Polen übergeben. Allerdings ist auch diese Stelle vorerst
auf nur ein Jahr festgelegt. Zu hoffen bleibt, dass die Bemühungen der
Beteiligten dies- und jenseits der Oder um die angemessene Finanzierung des
Archivs erfolgreich sein werden.
Die Sammlung des
Karl-Dedecius-Archivs umfasste zum Zeitpunkt ihrer Übergabe um die 200 Ordner
geordnetes sowie ca. 80. ‚laufende Meter’ ungeordnetes Material. Bis Ende 2003
wurden unter der Leitung von Margarete Hager die Bestände der Sammlung von Karl
Dedecius größtenteils erschlossen und zur Nutzung von interessierten
Wissenschaftlern und Studenten vorbereitet. Ein großer Teil davon ist momentan
weltweit im Internet recherchierbar. Die Quellverweise zu allen Dokumenten aus
dem Archiv sind auch im offenen Verbundinformationssystems für die Verzeichnung
von Nachlässen und Autographen »Kalliope« registriert. Die Datenbank ist unter
der Adresse http://kalliope.opac.staatsbibliothek-berlin.de abrufbar. Dies
konnte dank der Unterstützung durch die Staatsbibliothek Preußischer
Kulturbesitz in Berlin und die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Bonn realisiert
werden.
Doch das Projekt an sich wird
lange noch nicht abgeschlossen sein: Zum einen wartet noch eine umfangreiche
Sammlung von Fotomaterial, Grafiken und Preisen, die Karl Dedecius jemals
verliehen wurden sowie Zeitungsschnitten, die noch archiviert werden müssen.
Wichtig ist auch die laufend hinzukommenden neuen Materialien zu ordern wie
auch eine detaillierte Bibliografie zu erstellen. Die bereits katalogisierten
Bestände müssen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden, das über
sie informiert sein soll. Das Interesse junger Wissenschaftler aus Deutschland
und Polen, die vom Archiv in Słubice erfahren, ist groß. Aktuell entstehen
einige Diplomarbeiten, deren Autoren intensiv aus der Materialsammlung der
Institution schöpfen.
Das Archiv verfügt darüber über
eine eigene Internetplattform, die über die Adresse
http://dedecius.ub.euv-frankfurt-o.de erreichbar ist. Die mehr als 1.000 Buchausgaben
aus den Beständen des Dedecius-Archivs, welche die Sammlung der Bibliothek in Słubice
bereichern, sind im OPAC-System des Collegium Polonicum und der
Universitätsbibliothek in Frankfurt an der Oder bundes- und weltweit
recherchierbar.
Die Dokumentensammlung aus dem
Dedecius-Archiv ist nicht nur im Hinblick auf ihren Umfang imponierend, sondern
auch inhaltlich äußerst interessant und vielfältig. So bietet sie zum Beispiel
spannende Einblicke in fünf Jahrzehnte Korrespondenz von Karl Dedecius mit den
bedeutendsten polnischen Autoren der Gegenwart wie Tadeusz Rożewicz, Czesław
Miłosz, Wisława Szymborska, Zbigniew Herbert u.v.a., darüber hinaus
mit Persönlichkeiten aus der deutschen Kultur, wie, um nur eine zu nennen,
Marion Gräfin Dönhoff. Für politisch Interessierte dürfte der Briefwechsel des
Übersetzers mit hochrangigen Politikern aus Polen und Deutschland
aufschlussreich sein. Die meisten Dokumente beziehen sich aber natürlich auf
die polnische Literatur. Hier findet man Materialien zur Problematik ihrer
Übertragung ins Deutsche sowie zu ihrer Förderung im deutschsprachigen Raum.
Einblicke in die Entstehungsprozesse der deutschsprachigen Ausgaben polnischer
Werke vermitteln zahlreiche Typo- und Manuskripte.
Außer den Hunderten von Briefen
in Originalen und Kopien umfasst das Archiv zahlreiche Notizen von Karl
Dedecius, Fotografien, Plakate, Zeitungsausschnitte, Grafiken, Druckschriften,
Postkarten, Manuskripte der Buchausgaben und von Radiosendungen, Urkunden der
Verleihungen von Preisen und Ehrendoktortiteln an Karl Dedecius,
Niederschriften über Hilfsaktionen, die der Übersetzer zu Gunsten vergessener
und verfolgter Schriftsteller aus Polen ins Leben gerufen hatte, und zahlreiche
weitere Materialien. Das Archiv ist somit eine Fundgrube der Zeitdokumente des
deutsch-polnischen Kulturaustausches, die den Literatur- und Sprachwissenschaftlern
wie auch den Kultur- und Medienwissenschaftlern in beiden Ländern als Quelle
ihrer Forschungsarbeiten dient. Aus der vielseitigen Materialsammlung können
auch die an der deutsch-polnischen Kommunikation interessierten Politologen,
Historiker und Publizisten schöpfen.
Man ist – trotzt der schweren wirtschaftlichen Lage –
bemüht, das Dedecius-Archiv zu einer lebendigen offenen Institution weiterhin
zu entwickeln. Deren Mitarbeiter konzentrieren sich bislang nicht nur auf die
klassische Archivierungsarbeit. Sie wirkten auch bei weiteren Projekten mit,
die in Anlehnung an das Archiv in Słubice realisiert wurden. Vor kurzem
fand eine von der Universität Viadrina in Frankfurt Oder und dem Collegium
Polonicum vorbereitete internationale Übersetzerkonferenz statt, deren
Teilnehmer auch die Schulungsarbeit des Archivs kennen lernen durften.
Zukünftig sollen auch u.a. Übersetzerworkshops mit Preisträgern des
Deutsch-Polnischen Karl-Dedecius-Preises für Literaturübersetzer stattfinden.
Wenn alles gut läuft, könnte ein weiteres neues, mit Drittmitteln finanziertes,
Projekt im Archiv stattfinden. All diese und weitere Tätigkeiten werden von
einem deutsch-polnischen Rat, dem Wissenschaftler aus Instituten und
Universitäten beider Länder angehören, initiiert und koordiniert. Ein Teil der
Bestände des Archivs wurde seit seiner Gründung im Rahmen einiger wechselnder
Ausstellungen in der Bibliothek des Collegium Polonicum präsentiert. Auch
dieses interessante, einem breiteren Publikum zugängliches Projekt verdient es,
fortgesetzt zu werden.
Die Frankfurter
Europa-Universität Viadrina und das benachbarte Collegium Polonicum in Słubice
streben eine intensive Zusammenarbeit zugunsten der Entwicklung eines breit
angelegten deutsch-polnischen Wissenschaftstransfers an. Das Karl-Dedecius-Archiv
spielt hierbei bereits – und wird es weiterhin tun – eine wichtige Rolle und
trägt, so wie sein Namensgeber es auch bis heute tut, zur Intensivierung der
kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte zwischen den beiden Ländern
maßgeblich bei. Dies wiederum wird der gesamten Oderregion zugute kommen. Das
brandenburgische Frankfurt und die polnische Nachbarstadt Słubice befinden
sich seit der Wende von 1989/1990 auf einem gemeinsamen europäischen Weg und
haben spätestens seit der EU-Erweiterung im Mai dieses Jahres alle Chancen,
sich rasch zu wichtigen Standorten des deutsch-polnischen Austausches auf den
Gebieten der Kultur und Wissenschaft zu entwickeln. Aber auch auf gesellschaftspolitischer
Ebene ist eine solche positive Entwicklung mehr als denkbar. Solche Initiativen
wie die Gründung des Karl-Dedecius-Archivs setzen hierbei Meilensteine für die
Zukunft. Und diese Zukunft verpflichtet.
Mehr Informationen zum Archiv:
Karl-Dedecius-Archiv, c/o Collegium Polonicum, Ul.
T. Kosciuszki 1, 69-100 Słubice, Polen; Telefon : 0335 5534 16359
Mail: kazimier@euv-frankfurt-o.de
Die Autorin,
Natasza Stelmaszyk M.A., ist freie Journalistin und Literaturwissenschaftlerin
in Kreuztal.