Zur
wirtschaftlichen Entwicklung Polens
Hohes
Wirtschaftswachstum bei großen Problemen
Von
Polens Wirtschaft ist in den letzten beiden Jahren dynamisch gewachsen.
Der Export und die Produktion der verarbeitenden Industrie sind bedeutend
angestiegen. Dennoch verharrt die Arbeitslosigkeit auf unverändert hohem
Niveau. Die Verringerung des hohen Defizits des Staatshaushaltes soll mit tiefgreifenden sozialen Einschnitten bewirkt werden.
Langfristige Strukturprobleme, wie die Überbeschäftigung in der Landwirtschaft
und die Rekonstruktion des Bergbaus und der Stahlindustrie bleiben noch immer
ungelöst. Regionale Disparitäten haben sich im Prozess der Transformation
bedeutend vertieft. Polen zählt, mit einem Niveau von etwa der Hälfte des
durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der EU, zu den ärmsten Ländern der
Region.
Ökonomisches Niveau und Wirtschaftsstruktur
Die wirtschaftliche Lage Polens
im ersten Jahr seiner EU-Mitgliedschaft wird am besten sichtbar im Vergleich.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sein Niveau vor der Transformation bedeutend
überschritten. Dennoch ist Polen noch immer wesentlich ärmer als die meisten
Länder der EU, das pro-Kopf-Einkommmen erreicht nur
die Hälfte des EU-Durchschnitts (siehe Tabelle 1). Eine gewisse Konvergenz ist
unverkennbar, doch der Prozess der Annäherung an das erhoffte Wohlstandsniveau
verläuft langsam.
Die Wirtschaftsstruktur Polens
hat sich deutlich verändert und dem Modell westlicher
Länder angenähert. Bedeutend ausgedehnt wurde der Dienstleistungssektor. Er
trägt jetzt mit gut zwei Dritteln zum BIP bei und beschäftigt mehr als die
Hälfte der Erwerbstätigen. Auf die Industrie (ohne Bauwirtschaft) entfällt ein
Viertel des BIP. Innerhalb der Industrie vollzieht sich ein tiefgreifender
Strukturwandel, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Er geht mit großen
sozialen Problemen in den alten Industriezentren einher, die durch den Bergbau
und die Stahlindustrie geprägt sind. Überkapazitäten und veraltete Technologien
machen unter dem Druck der EU in verstärktem Maße Betriebsstilllegungen
erforderlich. Andererseits werden in den exportorientierten
Zweigen der verarbeitenden Industrie hohe Zuwachsraten der Produktion erreicht.
Das größte Problem bleibt die Landwirtschaft Polens. Sie trägt zwar nur noch 3%
zum BIP bei, beschäftigt aber ein Viertel der Erwerbstätigen. Im Wettbewerb auf
dem Markt der EU werden nur wenige großflächige Betriebe bestehen, doch kleine
Höfe mit Flächen von weniger als 10ha bestimmen immer noch die Struktur der
polnischen Landwirtschaft.
Polens Wirtschaft war schon vor
dem offiziellen Beitritt tief in die EU integriert. Die polnischen Exporte
waren 2003 zu etwa 70% in die EU gerichtet, von allen Importen kamen 60% aus
der EU. Experten schätzen, dass der Anteil der EU am Export Polens langfristig,
d.h. bis zur vollständigen Einbeziehung und Liberalisierung auf allen Gebieten,
auf 77% steigen wird. Dies charakterisiert aber auch den hohen Grad der
Abhängigkeit vom Markt der EU, seinen konjunkturellen Schwankungen und seinem
hohen Wettbewerbsdruck.
Die Außenhandelsintensität der
Wirtschaft Polens ist geringer als die anderer Länder ausgeprägt. Die
Güterexporte machen nur gut 20% des BIP aus, während es in Tschechien, der
Slowakei und Ungarn 60% sind. Der Unterschied resultiert aber nur zum Teil aus
der Größe des polnischen Binnenmarktes, er bringt auch strukturelle Schwächen
des Exports und eine geringere Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Industrie
zum Ausdruck. Obwohl auch Polen überwiegend Fertigprodukte exportiert, sind
technologieintensive Güter wie Maschinen, Fahrzeuge und elektronische
Erzeugnisse zu gering beteiligt. Auch umfangreiche Direktinvestitionen ausländischen
Kapitals haben noch nicht zu einer ausreichenden Modernisierung der Produktion
beigetragen. So erreicht der Anteil von Maschinen und Fahrzeugen am polnischen
Export nur gut ein Drittel, während es in Tschechien fast 50% und in Ungarn 60%
sind. Ein relativ geringer Anteil des intraindustriellen
Handels (der Ein- und Ausfuhr ähnlicher Industriewaren )
ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass Polens Außenhandelssaldo noch immer negativ
ist.
Regionale Disparitäten haben sich
zu einem der größten wirtschaftlichen und sozialen Probleme entwickelt. Bereits
vorhandene Unterschiede wurden im Laufe des Transformationsprozesses bedeutend
vertieft und sie sind stärker ausgeprägt, als dies in Ländern der alten EU der
Fall ist. Von allen 17 polnischen Regionen (nach der Gliederung der EU die
Ebene 2) konnte sich nur die Hauptstadtregion Mazowieckie
positiv entwickeln. Dort wird ein BIP pro Kopf erreicht, das fast drei Viertel
des Durchschnitts der EU-Länder beträgt. Wie in anderen EU-Neuländern, hat sich
nur im Umfeld der Hauptstadt ein starker Dienstleistungssektor entwickelt, in
dem neue Arbeitsplätze entstanden sind. Etwa die Hälfte des EU-Durchschnitts
erreichen acht Regionen, die im westlichen Teil des Landes liegen, darunter œl¹skie, Wielkopolskie, Dolnoœl¹skie, Pomorskie. Mit nur
einem Drittel des EU-Durchschnitts bleiben sechs Regionen arm, und es wird ein
starkes West-Ost-Gefälle sichtbar. Vor allem in den östlichen Grenzregionen
besteht die Gefahr einer wirtschaftlichen Abkopplung. Dort sind die Einkommen
der Bevölkerung extrem niedrig, die Arbeitslosenquoten weit
überdurchschnittlich hoch. Diese Regionen, in denen der Anteil der
Landwirtschaft an Produktion und Beschäftigung überwiegt, sind soziale
Krisenherde. Dort fehlen alle Standortvorteile für Investoren, die neue
Arbeitsplätze schaffen könnten. Durch die neue EU-Außengrenze droht eine Verschärfung
des Problems, da bisherige Möglichkeiten eines grenzüberschreitenden Handels
zunächst erschwert werden.
Zur aktuellen Wirtschaftslage
Nach einer Periode der Stagnation
konnte Polen in den letzten beiden Jahren eine spürbare wirtschaftliche
Erholung verzeichnen mit Wachstumsraten von 4% (2003) und fast 6% (2004) im
Vergleich zu den jeweiligen Vorjahren. Prognosen rechnen für 2005 mit einer
Fortsetzung des Wachstums.
Der Zuwachs des
Bruttoinlandsprodukts ist wesentlich einem starken Exportanstieg zu verdanken.
Aber auch der private Verbrauch hat dazu beigetragen. Allerdings sind nur die
Einkommen der Selbständigen bedeutend angestiegen, während die Reallöhne
stagnierten. Die Investitionstätigkeit, die in den Jahren von 2001 und 2002
infolge der restriktiven Geldpolitik der Regierung stark reduziert worden war,
stabilisierte sich 2003 auf dem Niveau des Vorjahres, 2004 wurde erstmals seit
2000 ein Zuwachs erreicht.
Der wichtigste Träger des
Wachstums war die Industrieproduktion, die im Vergleich zum Vorjahr insgesamt
um 7% angestiegen ist, darunter die verarbeitende Industrie um etwa 15%. Die
höchsten Steigerungsraten waren im Kraftfahrzeugbau und in der
elektrotechnischen Industrie zu verzeichnen. Vom Export gingen dabei starke
Impulse aus. In Euro umgerechnet, betrug der Zuwachs 2003 gut 9% und 2004 etwa
20% im Vergleich zu den jeweiligen Vorjahren. Dafür war neben dem Wegfall von
Handelsschranken und einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit einiger Branchen
auch die anhaltende Schwäche des Z³oty ausschlaggebend. Die Importe sind
infolge einer schwachen Inlandsnachfrage nach Investitions- und Konsumgütern
langsamer als die Exporte gewachsen.
Der Negativsaldo der
Leistungsbilanz konnte dadurch verringert werden. Bezogen auf das BIP, sank er
von 3% (2003) auf 1,7% (2004). Auch die
Deckungsquote der Importe durch die Exporte hat sich deutlich verbessert: von
65% im Jahr 2000 auf etwa 80% gegenwärtig. Die Finanzierung des
Leistungsbilanzsaldos stellt infolge des Zuflusses ausländischer Investitionen
kein Problem dar. Auch die Auslandsverschuldung Polens von etwa 15 Mrd. US-$,
was fast der Hälfte des BIP entspricht, gilt infolge der Währungsreserven von
38 Mrd. US-$ als unbedenklich, da die Schuldendienstverpflichtungen problemlos
erfüllt werden können.
Die dramatisch hohe
Arbeitslosigkeit konnte trotz des hohen Wirtschaftswachstums nicht verringert
werden (siehe Tabelle 2). Polen hat mit 20% die höchste Arbeitslosenquote in
der erweiterten EU aufzuweisen. Die Arbeitslosigkeit ist auf das höchste Niveau
seit dem Beginn der Systemtransformation angestiegen. Registriert waren 2004
etwa 3,3 Millionen Arbeitslose, die reale Arbeitslosigkeit dürfte weit darüber
liegen. Eine merkliche Verbesserung des Arbeitsmarktes ist in absehbarer Zeit
nicht zu erwarten. Der Abbau der Überbeschäftigung in der Landwirtschaft steht
erst bevor, und die längst noch nicht abgeschlossene Rekonstruktion des Kohle-
und Stahlsektors wird weitere Massenentlassungen zur Folge haben.
Die soziale Dimension des
Problems der Arbeitslosigkeit wird bei einer Betrachtung ihrer Strukturmerkmale
sichtbar:
- Der Anteil der
Langzeitarbeitslosen, die seit mehr als einem Jahr ohne Beschäftigung sind und
deren Chancen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gering sind, ist
auf fast 60% angestiegen.
- In Problemregionen des
Arbeitsmarktes, und dies betrifft mit sechs gut ein Drittel aller polnischen
Regionen, die vorwiegend im Osten des Landes liegen, stieg die Arbeitslosigkeit
etwa auf das Doppelte des Landesdurchschnitts.
- Die Jugendarbeitslosigkeit
(15-24jährige) ist mit einer Quote von 43% eine der höchsten in Europa. Von
insgesamt 55 Regionen der EU-Neuländer erreicht die Jugendarbeitslosigkeit in 7
polnischen Regionen eine Höhe von mehr als 45%. Davon war in vier Regionen (Lubuskie, Dolnoœl¹skie, Warmiñsko-Mazurskie, Zachodniopomorskie)
jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit.
Während die Inflation überwunden
werden konnte, belastet das Defizit des Staatshaushaltes die weitere
wirtschaftliche Entwicklung. Der Saldo betrug 2004 etwa - 6%, das liegt weit
über der im Maastricht-Vertrag festgelegten Obergrenze von -3%. Die
öffentlichen Schulden belaufen sich auf 55% des BIP. Sie nähern sich damit der
Obergrenze, die von der Verfassung des polnischen Staates zugelassen wird.
Transformationsfolgen wie die Bedienung der Auslandsschulden, wachsende
Sozialleistungen, Strukturreformen und auch die Kosten des EU-Beitritts haben
zu einer wachsenden Belastung des Staatshaushaltes geführt. Die Notwendigkeit
der Verringerung des Defizits veranlasste die Regierung, im Herbst 2003 ein Programm
zur Ausgabenreduzierung auszuarbeiten. Der Hausner-Plan
(nach dem Minister für Wirtschaft, Arbeit und Soziales genannt) sieht
erhebliche Einsparungen vor, von denen gut 60% auf den sozialen Bereich
entfallen. Vor allem die Rentner müssen mit erheblichen Einbußen und einer Schritt
weisen Erhöhung des Rentenalters rechnen.
Effekte des EU-Beitritts
Die Folgen der EU-Mitgliedschaft
für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Polens werden sich erst mittel-
und langfristig herausstellen. Die Lösung wichtiger Probleme wurde
aufgeschoben. Die neuen Länder werden vorerst nicht an der Währungs- und
Sozialunion teilnehmen. Kontrollen an den Grenzen zur alten EU bleiben zunächst
bestehen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer wird noch nicht gewährt, auch der
Grunderwerb durch ausländische Privatpersonen ist noch nicht möglich.
Für die Unternehmen in Polen wird
sich der Anpassungsdruck deutlich erhöhen und die sozialen Folgen werden sich
für große Teile der Bevölkerung und auch für ganze Regionen als schmerzlich
erweisen. Mit einem wesentlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit ist auch bei
anhaltendem Wirtschaftswachstum, das in erster Linie durch die Erhöhung der
Produktivität erzielt werden muss, kaum zu rechnen.
Für die Regierungen wird die
rasche Erfüllung der Maastricht-Kriterien, vor allem die Senkung des Defizits
des Staatshaushaltes, oberste Priorität haben. Dabei wird der Haushalt durch
den EU-Beitritt zunächst noch mehr belastet, zum Beispiel durch den Wegfall der
Zolleinnahmen oder die notwendige Kofinanzierung von
EU-Projekten. Ein Ausgleich wird deshalb vor allem mit weiteren Einschränkungen
sozialer Leistungen erkauft werden.
Langfristig wird davon
ausgegangen, dass die Erweiterung der EU das Wirtschaftswachstum in den neuen
Mitgliedsländern stärken wird. Diese Annahme stützt sich auf die Intensivierung
des Handels, die Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie auf
Umverteilungseffekte über den Haushalt der EU. Ob aber die reale Konvergenz,
eine Annäherung an das erhoffte westliche Wohlstandsniveau jemals eintreten
wird, scheint fraglich. Nach Expertenschätzungen wird Polen in etwa 30 Jahren
erst 60% des durchschnittlichen sozialökonomischen Niveaus der alten EU-Länder
erreichen. Die Verringerung sozialer und regionaler Disparitäten wird dabei die
größte Herausforderung für die Politik sein.
Quellen:
Vasily Astrov:
Wirtschaftsentwicklung in den MOEL durch deutliche Konvergenz geprägt. In: WIFO-Monatsberichte 5/2004
Polen vor dem Beitritt zur europäischen
Union. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 12/2004; EU-Osterweiterung: Klare
Herausforderungen, unberechtigte Ängste. Wochenbericht des DIW Berlin Nr.
17/2004; F.A.Z.-Institut: Länderanalyse Polen, Juni
und Oktober 2004; Eurostat: Statistik kurzgefaßt, allgemeine Statistik, Thema 1, Regionen.