Zur wirtschaftlichen Entwicklung Polens

Hohes Wirtschaftswachstum bei großen Problemen

 

Von Helga Herberg

Polens Wirtschaft ist in den letzten beiden Jahren dynamisch gewachsen. Der Export und die Produktion der verarbeitenden Industrie sind bedeutend angestiegen. Dennoch verharrt die Arbeitslosigkeit auf unverändert hohem Niveau. Die Verringerung des hohen Defizits des Staatshaushaltes soll mit tiefgreifenden sozialen Einschnitten bewirkt werden. Langfristige Strukturprobleme, wie die Überbeschäftigung in der Landwirtschaft und die Rekonstruktion des Bergbaus und der Stahlindustrie bleiben noch immer ungelöst. Regionale Disparitäten haben sich im Prozess der Transformation bedeutend vertieft. Polen zählt, mit einem Niveau von etwa der Hälfte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der EU, zu den ärmsten Ländern der Region.

 

Ökonomisches Niveau und Wirtschaftsstruktur

Die wirtschaftliche Lage Polens im ersten Jahr seiner EU-Mitgliedschaft wird am besten sichtbar im Vergleich. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sein Niveau vor der Transformation bedeutend überschritten. Dennoch ist Polen noch immer wesentlich ärmer als die meisten Länder der EU, das pro-Kopf-Einkommmen erreicht nur die Hälfte des EU-Durchschnitts (siehe Tabelle 1). Eine gewisse Konvergenz ist unverkennbar, doch der Prozess der Annäherung an das erhoffte Wohlstandsniveau verläuft langsam.

Die Wirtschaftsstruktur Polens hat sich deutlich verändert und dem Modell westlicher Länder angenähert. Bedeutend ausgedehnt wurde der Dienstleistungssektor. Er trägt jetzt mit gut zwei Dritteln zum BIP bei und beschäftigt mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen. Auf die Industrie (ohne Bauwirtschaft) entfällt ein Viertel des BIP. Innerhalb der Industrie vollzieht sich ein tiefgreifender Strukturwandel, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Er geht mit großen sozialen Problemen in den alten Industriezentren einher, die durch den Bergbau und die Stahlindustrie geprägt sind. Überkapazitäten und veraltete Technologien machen unter dem Druck der EU in verstärktem Maße Betriebsstilllegungen erforderlich. Andererseits werden in den exportorientierten Zweigen der verarbeitenden Industrie hohe Zuwachsraten der Produktion erreicht. Das größte Problem bleibt die Landwirtschaft Polens. Sie trägt zwar nur noch 3% zum BIP bei, beschäftigt aber ein Viertel der Erwerbstätigen. Im Wettbewerb auf dem Markt der EU werden nur wenige großflächige Betriebe bestehen, doch kleine Höfe mit Flächen von weniger als 10ha bestimmen immer noch die Struktur der polnischen Landwirtschaft.

Polens Wirtschaft war schon vor dem offiziellen Beitritt tief in die EU integriert. Die polnischen Exporte waren 2003 zu etwa 70% in die EU gerichtet, von allen Importen kamen 60% aus der EU. Experten schätzen, dass der Anteil der EU am Export Polens langfristig, d.h. bis zur vollständigen Einbeziehung und Liberalisierung auf allen Gebieten, auf 77% steigen wird. Dies charakterisiert aber auch den hohen Grad der Abhängigkeit vom Markt der EU, seinen konjunkturellen Schwankungen und seinem hohen Wettbewerbsdruck.

Die Außenhandelsintensität der Wirtschaft Polens ist geringer als die anderer Länder ausgeprägt. Die Güterexporte machen nur gut 20% des BIP aus, während es in Tschechien, der Slowakei und Ungarn 60% sind. Der Unterschied resultiert aber nur zum Teil aus der Größe des polnischen Binnenmarktes, er bringt auch strukturelle Schwächen des Exports und eine geringere Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Industrie zum Ausdruck. Obwohl auch Polen überwiegend Fertigprodukte exportiert, sind technologieintensive Güter wie Maschinen, Fahrzeuge und elektronische Erzeugnisse zu gering beteiligt. Auch umfangreiche Direktinvestitionen ausländischen Kapitals haben noch nicht zu einer ausreichenden Modernisierung der Produktion beigetragen. So erreicht der Anteil von Maschinen und Fahrzeugen am polnischen Export nur gut ein Drittel, während es in Tschechien fast 50% und in Ungarn 60% sind. Ein relativ geringer Anteil des intraindustriellen Handels (der Ein- und Ausfuhr ähnlicher Industriewaren ) ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass Polens Außenhandelssaldo noch immer negativ ist.

Regionale Disparitäten haben sich zu einem der größten wirtschaftlichen und sozialen Probleme entwickelt. Bereits vorhandene Unterschiede wurden im Laufe des Transformationsprozesses bedeutend vertieft und sie sind stärker ausgeprägt, als dies in Ländern der alten EU der Fall ist. Von allen 17 polnischen Regionen (nach der Gliederung der EU die Ebene 2) konnte sich nur die Hauptstadtregion Mazowieckie positiv entwickeln. Dort wird ein BIP pro Kopf erreicht, das fast drei Viertel des Durchschnitts der EU-Länder beträgt. Wie in anderen EU-Neuländern, hat sich nur im Umfeld der Hauptstadt ein starker Dienstleistungssektor entwickelt, in dem neue Arbeitsplätze entstanden sind. Etwa die Hälfte des EU-Durchschnitts erreichen acht Regionen, die im westlichen Teil des Landes liegen, darunter œl¹skie, Wielkopolskie, Dolnoœl¹skie, Pomorskie. Mit nur einem Drittel des EU-Durchschnitts bleiben sechs Regionen arm, und es wird ein starkes West-Ost-Gefälle sichtbar. Vor allem in den östlichen Grenzregionen besteht die Gefahr einer wirtschaftlichen Abkopplung. Dort sind die Einkommen der Bevölkerung extrem niedrig, die Arbeitslosenquoten weit überdurchschnittlich hoch. Diese Regionen, in denen der Anteil der Landwirtschaft an Produktion und Beschäftigung überwiegt, sind soziale Krisenherde. Dort fehlen alle Standortvorteile für Investoren, die neue Arbeitsplätze schaffen könnten. Durch die neue EU-Außengrenze droht eine Verschärfung des Problems, da bisherige Möglichkeiten eines grenzüberschreitenden Handels zunächst erschwert werden.

Zur aktuellen Wirtschaftslage

Nach einer Periode der Stagnation konnte Polen in den letzten beiden Jahren eine spürbare wirtschaftliche Erholung verzeichnen mit Wachstumsraten von 4% (2003) und fast 6% (2004) im Vergleich zu den jeweiligen Vorjahren. Prognosen rechnen für 2005 mit einer Fortsetzung des Wachstums.

Der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts ist wesentlich einem starken Exportanstieg zu verdanken. Aber auch der private Verbrauch hat dazu beigetragen. Allerdings sind nur die Einkommen der Selbständigen bedeutend angestiegen, während die Reallöhne stagnierten. Die Investitionstätigkeit, die in den Jahren von 2001 und 2002 infolge der restriktiven Geldpolitik der Regierung stark reduziert worden war, stabilisierte sich 2003 auf dem Niveau des Vorjahres, 2004 wurde erstmals seit 2000 ein Zuwachs erreicht.

Der wichtigste Träger des Wachstums war die Industrieproduktion, die im Vergleich zum Vorjahr insgesamt um 7% angestiegen ist, darunter die verarbeitende Industrie um etwa 15%. Die höchsten Steigerungsraten waren im Kraftfahrzeugbau und in der elektrotechnischen Industrie zu verzeichnen. Vom Export gingen dabei starke Impulse aus. In Euro umgerechnet, betrug der Zuwachs 2003 gut 9% und 2004 etwa 20% im Vergleich zu den jeweiligen Vorjahren. Dafür war neben dem Wegfall von Handelsschranken und einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit einiger Branchen auch die anhaltende Schwäche des Z³oty ausschlaggebend. Die Importe sind infolge einer schwachen Inlandsnachfrage nach Investitions- und Konsumgütern langsamer als die Exporte gewachsen.

Der Negativsaldo der Leistungsbilanz konnte dadurch verringert werden. Bezogen auf das BIP, sank er von  3% (2003) auf 1,7% (2004). Auch die Deckungsquote der Importe durch die Exporte hat sich deutlich verbessert: von 65% im Jahr 2000 auf etwa 80% gegenwärtig. Die Finanzierung des Leistungsbilanzsaldos stellt infolge des Zuflusses ausländischer Investitionen kein Problem dar. Auch die Auslandsverschuldung Polens von etwa 15 Mrd. US-$, was fast der Hälfte des BIP entspricht, gilt infolge der Währungsreserven von 38 Mrd. US-$ als unbedenklich, da die Schuldendienstverpflichtungen problemlos erfüllt werden können.

Die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit konnte trotz des hohen Wirtschaftswachstums nicht verringert werden (siehe Tabelle 2). Polen hat mit 20% die höchste Arbeitslosenquote in der erweiterten EU aufzuweisen. Die Arbeitslosigkeit ist auf das höchste Niveau seit dem Beginn der Systemtransformation angestiegen. Registriert waren 2004 etwa 3,3 Millionen Arbeitslose, die reale Arbeitslosigkeit dürfte weit darüber liegen. Eine merkliche Verbesserung des Arbeitsmarktes ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Der Abbau der Überbeschäftigung in der Landwirtschaft steht erst bevor, und die längst noch nicht abgeschlossene Rekonstruktion des Kohle- und Stahlsektors wird weitere Massenentlassungen zur Folge haben.

Die soziale Dimension des Problems der Arbeitslosigkeit wird bei einer Betrachtung ihrer Strukturmerkmale sichtbar:

- Der Anteil der Langzeitarbeitslosen, die seit mehr als einem Jahr ohne Beschäftigung sind und deren Chancen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gering sind, ist auf fast 60% angestiegen.

- In Problemregionen des Arbeitsmarktes, und dies betrifft mit sechs gut ein Drittel aller polnischen Regionen, die vorwiegend im Osten des Landes liegen, stieg die Arbeitslosigkeit etwa auf das Doppelte des Landesdurchschnitts.

- Die Jugendarbeitslosigkeit (15-24jährige) ist mit einer Quote von 43% eine der höchsten in Europa. Von insgesamt 55 Regionen der EU-Neuländer erreicht die Jugendarbeitslosigkeit in 7 polnischen Regionen eine Höhe von mehr als 45%. Davon war in vier Regionen (Lubuskie, Dolnoœl¹skie, Warmiñsko-Mazurskie, Zachodniopomorskie) jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit.

Während die Inflation überwunden werden konnte, belastet das Defizit des Staatshaushaltes die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Der Saldo betrug 2004 etwa - 6%, das liegt weit über der im Maastricht-Vertrag festgelegten Obergrenze von -3%. Die öffentlichen Schulden belaufen sich auf 55% des BIP. Sie nähern sich damit der Obergrenze, die von der Verfassung des polnischen Staates zugelassen wird. Transformationsfolgen wie die Bedienung der Auslandsschulden, wachsende Sozialleistungen, Strukturreformen und auch die Kosten des EU-Beitritts haben zu einer wachsenden Belastung des Staatshaushaltes geführt. Die Notwendigkeit der Verringerung des Defizits veranlasste die Regierung, im Herbst 2003 ein Programm zur Ausgabenreduzierung auszuarbeiten. Der Hausner-Plan (nach dem Minister für Wirtschaft, Arbeit und Soziales genannt) sieht erhebliche Einsparungen vor, von denen gut 60% auf den sozialen Bereich entfallen. Vor allem die Rentner müssen mit erheblichen Einbußen und einer Schritt weisen Erhöhung des Rentenalters rechnen.

Effekte des EU-Beitritts

Die Folgen der EU-Mitgliedschaft für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Polens werden sich erst mittel- und langfristig herausstellen. Die Lösung wichtiger Probleme wurde aufgeschoben. Die neuen Länder werden vorerst nicht an der Währungs- und Sozialunion teilnehmen. Kontrollen an den Grenzen zur alten EU bleiben zunächst bestehen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer wird noch nicht gewährt, auch der Grunderwerb durch ausländische Privatpersonen ist noch nicht möglich.

Für die Unternehmen in Polen wird sich der Anpassungsdruck deutlich erhöhen und die sozialen Folgen werden sich für große Teile der Bevölkerung und auch für ganze Regionen als schmerzlich erweisen. Mit einem wesentlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit ist auch bei anhaltendem Wirtschaftswachstum, das in erster Linie durch die Erhöhung der Produktivität erzielt werden muss, kaum zu rechnen.

Für die Regierungen wird die rasche Erfüllung der Maastricht-Kriterien, vor allem die Senkung des Defizits des Staatshaushaltes, oberste Priorität haben. Dabei wird der Haushalt durch den EU-Beitritt zunächst noch mehr belastet, zum Beispiel durch den Wegfall der Zolleinnahmen oder die notwendige Kofinanzierung von EU-Projekten. Ein Ausgleich wird deshalb vor allem mit weiteren Einschränkungen sozialer Leistungen erkauft werden.

Langfristig wird davon ausgegangen, dass die Erweiterung der EU das Wirtschaftswachstum in den neuen Mitgliedsländern stärken wird. Diese Annahme stützt sich auf die Intensivierung des Handels, die Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie auf Umverteilungseffekte über den Haushalt der EU. Ob aber die reale Konvergenz, eine Annäherung an das erhoffte westliche Wohlstandsniveau jemals eintreten wird, scheint fraglich. Nach Expertenschätzungen wird Polen in etwa 30 Jahren erst 60% des durchschnittlichen sozialökonomischen Niveaus der alten EU-Länder erreichen. Die Verringerung sozialer und regionaler Disparitäten wird dabei die größte Herausforderung für die Politik sein.

 

Quellen:

Vasily Astrov: Wirtschaftsentwicklung in den MOEL durch deutliche Konvergenz geprägt. In: WIFO-Monatsberichte 5/2004

Polen vor dem Beitritt zur europäischen Union. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 12/2004; EU-Osterweiterung: Klare Herausforderungen, unberechtigte Ängste. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 17/2004; F.A.Z.-Institut: Länderanalyse Polen, Juni und Oktober 2004; Eurostat: Statistik kurzgefaßt, allgemeine Statistik, Thema 1, Regionen.