Der 60. Jahrestag der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 2005 ist Anlass für die Deutsch-Polnische Gesellschaft, sich mit einem Appell an den Deutschen Bundestag zu wenden. Die Gesellschaft, die vor 55 Jahren gegründet wurde und seitdem für Normalisierung und Verständigung zwischen Polen und Deutschen eintritt, mahnt eine Feststellung des Parlaments zu den Grundlagen der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen an, die angesichts der langen Kette von Missverständnissen, Konflikten und Streitfällen im deutsch-polnischen Verhältnis überfällig ist. Der Appell wird im folgenden im Wortlaut dokumentiert.

 

Appell der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V. an den Deutschen Bundestag zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945

 

Am 8. Mai 2005 begehen die Völker Europas den sechzigsten Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg. Der 8. Mai 1945 ist der Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Die Kapitulation war die Voraussetzung einer freien und demokratischen Entwicklung des aus der Niederlage hervorgegangenen Deutschland in den auf der Berliner Konferenz von 1945 festgelegten Grenzen. Das deutsche Volk hat mit dem 8. Mai 1945 nach zwei gescheiterten Revolutionen - 1848 und 1918 - und einem in der Geschichte beispiellosen Zivilisationsbruch die Chance erhalten, in die Gemeinschaft der europäischen Zivilgesellschaften zurückzukehren.

Der 8. Mai 2005 ist für die Deutschen Anlass zur Reflexion, ob und wie weit diese Rückkehr gelungen ist, wie sehr Gesellschaft und Staat der Bundesrepublik Deutschland den europäischen Normen eines zivilisierten, auf den Prinzipien des Völkerrechts, der inneren und äußeren Freiheit und des Respekts vor den individuellen Menschenrechten aufbauenden Gemeinwesens entsprechen.

Der Ausgang des Zweiten Weltkriegs hat unter anderem zur Folge, dass Teile des früheren Deutschen Reiches heute Bestandteil anderer europäischer Staaten sind. Der größte Teil der verlorenen Gebiete gehört zur Republik Polen. Die Anerkennung des Verlustes und die Schaffung eines gutnachbarlichen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen ist eine Grundvoraussetzung für das friedliche Zusammenleben der europäischen Völker.

Die territoriale Gestalt Deutschlands und Polens haben die Siegermächte auf der Berliner Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 festgelegt. Die Anerkennung dieser Festlegungen und insbesondere der neuen Grenzen war in der Folgezeit Gegenstand kontroverser politischer Auseinandersetzungen. In einer Reihe von Verträgen mit der Volksrepublik Polen bzw. der Republik Polen haben die Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, den Gegebenheiten in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen:

- dem Vertrag von Zgorzelec ("Görlitzer Vertrag") zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vom 6. Juli 1950

- dem Warschauer Vertrag zwischen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970

- dem Grenzbestätigungsvertrag zwischen der jetzigen Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen vom 14. November 1990.

Diese Verträge entstanden vor dem Hintergrund der Verantwortung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs für Deutschland als Ganzes seit dem 8. Mai 1945, die mit der Übertragung der vollen Souveränität an das vereinigte Deutschland durch die "Abschließende  Regelung  mit Bezug auf Deutschland" ("Vier-plus-zwei-Vertrag") vom 12. September 1990 endete. Während die Deutsche Demokratische Republik, die ausdrücklich allein im eigenen Namen handelte, im Vertrag von Zgorzelec die polnische Westgrenze vorbehaltlos und völkerrechtlich verbindlich anerkannte, verstand sich die ehemalige Bundesrepublik Deutschland, die stets den Anspruch erhob, für Deutschland als Ganzes zu sprechen, im Warschauer Vertrag von 1970 lediglich zu einem Verzicht auf die gewaltsame Änderung dieser Grenze. Entgegen den Bestimmungen der Abschließenden Regelung, die die Voraussetzung der Vereinigung der beiden deutschen Staaten waren, hat es die Bundesrepublik Deutschland in einem diplomatischen Bravourstück verstanden, nicht allein die Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch den Beitritt der DDR zur seinerzeitigen BRD zu ersetzen, sondern sich überdies der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs intendierten abschließenden Regelung des Verhältnisses zwischen dem wiedervereinten Deutschland und Polen zu entziehen und insbesondere an die Stelle der völkerrechtlichen Anerkennung der polnischen Westgrenze einen zweiten Gewaltverzichtsvertrag zu setzen. Grundlage des Betrugs ist die vom Bundesverfassungsgericht  in mehrfachen Ansätzen1 bekräftigte und ausformulierte Deutschlanddoktrin vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 hinaus, die es jeder deutschen Regierung untersagt, auf Teile des Reiches zu verzichten. Unmittelbarer Ausfluss dieser Vorbehalte ist der Briefwechsel der Außenminister Hans Dietrich Genscher und Professor Krzysztof Skubiszewski vom 17. Juni 1991 anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, in dem einvernehmlich die Regelung von Eigentums- und Staatsangehörigkeitsfragen aus dem Vertrag ausgeklammert wird.

Die polnische Hinnahme dieses Vorgehens hat weitreichende Folgen. Seit dem 1. Mai 2004 sind die Republik Polen und die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam Mitglieder der Europäischen Union. Ungeachtet dessen werden die politische Zusammenarbeit wie die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen weiterhin durch Fragen belastet, die in diesem auf die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs gerichteten und für alle Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Postulat ihren Ursprung haben.

Aktuellen Ausdruck finden diese Konflikte:

- in der Forderung nach der Anerkennung polnischer Schuld an den Folgen des durch den Überfall auf Polen am 1. September 1939 ausgelösten Zweiten Weltkrieges für die deutsche Zivilbevölkerung

- in der Forderung nach der Einrichtung eines "Zentrums gegen Vertreibungen", die vom Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland vorgetragen wird

- in den Forderungen nach Entschädigung von ehemaligen deutschen Grundeigentümern bzw. deren Erben, wie sie zur Zeit insbesondere durch die "Preußische Treuhand" in der Öffentlichkeit und vor nationalen und internationalen Gerichten erhoben werden.

Dass diese Forderungen auf polnischer Seite Unruhe und Gegenüberlegungen auslösten, konnte nicht ausbleiben. Sie finden ihren Niederschlag:

- in den Befürchtungen in der polnischen Öffentlichkeit anlässlich des Grunderwerbs deutscher Staatsangehöriger in Masuren, Pommern und Schlesien.

- in den Reparationsforderungen polnischer Politiker gegen die Bundesrepublik Deutschland für Kriegsschäden.

Verwerfungen dieser Art - oft verharmlosend als "Irritationen" bezeichnet - verdeutlichen, wie weit die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen in ihren zwischenstaatlichen Beziehungen von einer Überwindung der Barrieren, die der Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses, der Schaffung eines Klimas der Verständigung und der Zusammenarbeit im Geiste guter Nachbarschaft entgegenstehen, entfernt sind.

Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Rede zum 1. August, dem 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands, den Willen der überwältigenden Mehrheit aller Deutschen ausgesprochen, sich der Verantwortung für die Geschichte zu stellen und jederzeit für Frieden und Zusammenarbeit im Geiste der Verständigung und Partnerschaft mit Polen einzutreten. Er hat erklärt, dass die Bundesregierung keine Forderungen gegen Polen erhebt und auch keine solchen Forderungen Einzelner vor deutschen oder internationalen Gerichten unterstützen wird.

Wir können diese Worte nur begrüßen. Nicht begrüßen können wir jedoch, was sie verschweigen. Es ist an der Zeit, die durch den Vier-plus-zwei-Vertrag intendierte abschließende Regelung mit Bezug auf Deutschland endlich auch im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu seinem polnischen Nachbarn vorzunehmen. Dazu ist die Frage der Gestaltung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zu seinen Nachbarstaaten aus den Händen des jeglicher demokratischen Kontrolle enthobenen Bundesverfassungsgerichts in die Hände des nach der Verfassung der Bundesrepublik einzig zuständigen Souveräns zurückzugeben. Dieser aber ist das vom Volk gewählte Parlament, der Deutsche Bundestag.

Wir fordern daher den Deutschen Bundestag auf, anlässlich des 60. Jahrestags des Kriegsendes festzustellen:

- dass die von den bisherigen Regierungen der ehemaligen und der jetzigen Bundesrepublik verfochtene und vom Bundesverfassungsgericht zur verbindlichen Rechtsnorm erhobene "Deutschland-Doktrin" vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 hinaus und sämtliche daraus abgeleiteten juristischen und politischen Folgerungen obsolet sind und nicht die Grundlage für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen bilden,

- dass die Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich die auf der Berliner Konferenz der Siegermächte im Jahre 1945 festgelegte und zuletzt im Vertrag vom 14. November 1990 bestätigte Grenze zwischen den beiden Ländern vorbehaltlos und völkerrechtlich verbindlich anerkennt,

- dass die Bundesrepublik Deutschland damit auf jedwede Ausdehnung deutscher Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung über das durch diese Grenze festgelegte Territorium der Bundesrepublik Deutschland hinaus verzichtet.

 

Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V.

Prof. Dr. phil. Christoph Koch                                                                    Dr. med. Friedrich Leidinger

Vorsitzender                                                                                                 Stellvertretender Vorsitzender

 

 

 

 

(1) Urteil vom 31.7.1973 zum Grundlagenvertrag vom 21.12.1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (BVerfGE 36, 1 ff.);  Urteil vom 5.6.1992 zum deutsch-polnischen Grenzbestätigungsvertrag vom 14.11.1990 (2 BvR 1613/91) ...