Oberschlesien geben wir nie zurück!

Von Micha³ Smolorz

Ehrendoktorat der Schlesischen Universität für einen hervorragenden deutschen Übersetzer? Ausgeschlossen! Ein Denkmal für einen berühmten Schlesier? Sprach er etwa Polnisch?  Dann werden sich die Deutschen dagegen sträuben. In Schlesien tobt ein deutsch-polnischer Kulturkrieg. Beide Kriegsparteien haben sich in ihren Schützengräben verschanzt und jeglicher Verständigungsversuch endet in einer Schlammschlacht - lautet die Diagnose des Autors.

 

In der von "Gazeta Wyborcza" veranstalteten Umfrage zum Thema "Berühmte Stettiner im 20. Jh." obsiegten entschieden zwei deutsche Oberbürgermeister aus der Vorkriegszeit. Im Kulturkalender von £ódŸ steht ganz oben das "Fest des Dialogs der vier Kulturen". In Danzig erscheinen vom Sejm-Vizevorsitzenden Donald Tusk eigenhändig signierte Alben, die das immense hanseatische Erbe der Freistadt zeitgenössischen Lesern näher bringen sollen. Breslau schöpft mit vollen Händen aus seiner tausendjähriger Geschichte und die Breslauer Universität änderte ihr Gründungsdatum von 1946 auf 1703.

In Oberschlesien dagegen - von Kattowitz bis nach Oppeln - bleibt solch aufgeklärte Geste, ein Versuch, sich auf das gesamteuropäische Kulturerbe der Region zu berufen, ein Traum der zahlenmäßig bescheidenen Elite. Jeder ernsthafter Versuch, die multikulturelle Vergangenheit präsent zu machen, lässt nationalistische Hysterie auflodern. Und auf einmal ertönt von allen Seiten ein Gejammer, weil angeblich "die polnische Staatsraison bedroht wird" und "sämtliche Errungenschaften der für nationale und soziale Befreiung Kämpfenden zunichte gemacht werden". Es drängt sich die Frage auf, woraus dieses Kattowitzer bzw. Oppelner Phänomen, zusätzlich mit der volksrepublikanischen Rhetorik verfeinert, eigentlich gewachsen ist. Die Ursache ist vielleicht darin zu sehen, dass es in Stettin, Danzig, £ódŸ oder Breslau keine Deutschen mehr gibt. Es gibt sie aber in Oberschlesien, was für viele ein unüberwindliches Problem zu sein scheint.

Den durchschnittlichen Zeitungsleser erreichen ab und zu sensationelle Pressemitteilungen: mal über Denkmäler der Wehrmacht-Angehörigen, mal über deutschsprachige Schilder an den Wänden der öffentlichen Gebäude, mal über das polnische Staatswappen, das der Groß Strehlitzer Landrat unbedacht von der Wand genommen hat. Diese Ereignisse, obwohl sie in der in punkto "deutsche Exzesse" überempfindlichen polnischen Öffentlichkeit aufbrausende Emotionen hervorrufen, können dennoch nur zu den unwichtigen Episoden gezählt werden. Der echte Krieg tobt nämlich auf dem Felde der Kultur und Zivilisation. Beide Kriegsparteien verschanzten sich in ihren Gräben und jeglicher Versuch, einen Kulturdialog zu führen, endet mit einer Schlammschlacht und führt auf den Holzweg.

"Gerechte" und "ungerechte" Kultur

Für die von der Volksrepublik Polen vererbte offizielle Doktrin galten in Schlesien lediglich die Errungenschaften polnischer Kultur als gerechtfertigt und gut. Die deutsche Kultur wurde dagegen als Besatzungs- und Teilungswerk etikettiert. Alle Bemühungen, sich auch diese zu eigen zu machen galten dagegen als feindliche Akte, als "Wasser auf die Mühle der westdeutschen Revisionisten aus den Kreisen um Hupka und Czaja".

Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass diese Sünde keine alleinige Schuld der Kommunisten war - sie haben sie nämlich von der Vorkriegsrepublik geerbt. In der Vorkriegswoiwodschaft  Schlesien, die 1922 in diesem Teil Oberschlesiens gebildet wurde, der infolge des 3. Schlesischen Aufstandes an Polen fiel, betrieb man identische Politik. Diese wurde erst recht dann verstärkt betrieben, als 1926 der Woiwode Micha³ Gra¿ynski - ein eifriger Pi³sudski-Anhänger und unverbesserlicher Deutschenhasser - seine uneingeschränkten Machtbefugnisse auf die Region ausbreitete. Dies hat wohl zu einem Konflikt zwischen der Pi³sudski-Regierung und Wojciech Korfanty, dem hervorragendsten schlesischen Politiker des 20. Jh., geführt. Korfanty - ein aufgeklärter Europäer, dem alle Facetten der schlesischen kulturellen Vielfalt vertraut waren, blieb bis ans Ende seines Lebens im Konflikt mit den Mitarbeitern des Marschalls Pi³sudski.

Es waren nicht die Kommunisten, sondern Gra¿ynskis Leute, die in einer vermeintlichen Volkstümlichkeit ein Mittel gegen die in Schlesien lebendige und immer noch präsente deutsche Kultur sahen. Es handelte sich selbstverständlich um eine Art Scheinvolkstümlichkeit, stilisiert und in Amtsgebäuden präzise entworfen. Nur wenige sind sich heute dessen bewusst, dass die populärsten schlesischen Lieder, die immer noch am Stammtisch gesungen werden (u. a. "Karolinka") keineswegs aus der Schatzkammer der Volkskultur stammen, sondern in den 20er und 30er Jahre von beruflichen "Hofdichtern" geschrieben wurden. Ein nicht weniger bekanntes Lied "Es ging ein Mädel in den Wald" importierte man aus Tschechien, dichtete einen polnischen Text dazu und verkaufte es dem schlesischen Volk als "uraltes, schlesisches Volkslied". Auch die populären Lieder der Aufständischen ("An Beuthener Schützen", "Ich kenn ein schönes Schloss") haben Professionelle einige Jahre nach den Aufständen auf amtliche Bestellung gedichtet. Die wohl bekannteste schlesische Tracht  - jenes Mädchen mit einem Blumenkranz mit Glasperlen - entsprang dem Pinsel eines professionellen Künstlers.

Das war allerdings nicht nur schlesische Eigenart. Die Pi³sudski-Regierung betrieb  eine solche Politik in allen Grenzgebieten der II. Republik. Die bis heute bekannten Kaschuben-Volkslieder, darunter das ganze "eiserne" Repertoire der regionalen Volksensembles, entstanden unter ähnlichen Umständen. Diese Praxis führte manchmal zu komischen Nebeneffekten: Der Komponist des Liedes "Die Sonne geht hinter dem Schneeballwald unter" verkaufte sein Werk sowohl an Gra¿ynski als auch an die Behörden der damaligen Woiwodschaft Pommern. Dies hat zur Folge, dass bis heute offen bleiben muss, ob dieses Lied dem schlesischen oder dem kaschubischen Kulturkreis zuzurechnen ist.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die amtliche Volkstümlichkeit als Werkzeug der Politik  nicht im Vorkriegspolen erfunden wurde. Sie ist eine deutsche Erfindung, die eines Tages zu einem zweischneidigen Schwert mutierte. Bereits zu den Bismarck-Zeiten existierte im Königreich Preußen "volkstümliches" Schaffen, größtenteils aus der Staatskasse finanziert. Nach der Machtergreifung 1933 bedienten sich die Propagandisten des III Reiches willig dieser Ressourcen, denen noch weitere "Werke" auf Bestellung, darunter auch neue "Volkslieder aus Oberschlesien" hinzugefügt wurden. Eines dieser Lieder ist das bis heute gesungene Propaganda-Lied "Oberschlesien ist mein liebes Heimatland", das anlässlich der Übernahme des polnischen Teils Ostoberschlesiens 1939 angekauft und in den späteren Jahren den Schülern und Mitgliedern der NSDAP-Jugendorganisationen aufdringlich aufgezwungen wurde. Nach einigen Jahrzehnten haben die meisten die beschämende Herkunft des Liedes vergessen und so gilt es heute als ein "uraltes Volkslied", das von der deutschen Minderheit sogar zu deren offiziellen Hymne gekürt wurde.

Maßgeschneidertes Volk

Nach dem Krieg folgten die Kommunisten dem Weg der Pi³sudski-Regierung. In ganz Oberschlesien wurde die Idee der einzig gerechtfertigten Volkkultur zur Doktrin. Die neuen Machthaber übernahmen das Erbe Gra¿ynskis, fügten aber auch ihre eigene "Volkstümlichkeit" hinzu. Seit 1953 bekleidete Stanis³aw Hadyna den Posten eines Hofkomponisten "schlesischer  Volkslieder" und schuf zu den Worten eines Kattowitzer Journalisten namens Stanis³aw Pyzik eine unerschöpfliche Schatzkammer solcher Schlager, wie "Ein Schmauch aus Opas Pfeife". Für das von Hadyna geleitete Ensemble "œl¹sk " entwarfen die "Trachten" berühmte Theater- und Filmdesigner. Dieses "Schaffen" war aber nicht alles. Die letzten "schlesischen Volkslieder" schrieb 1980 Katarzyna Gaertner auf Bestellung des damaligen Vorsitzenden des Fernseh- und Radiorates, Maciej Szczepañski. Sie werden immer noch gesungen und manche von ihnen fanden einen Weg in die Sammelbücher der Ethnologen.

Während der ganzen Volksrepublik-Epoche war diese amtliche "Schatzkammer der Volkskultur" die einzige legale Form regionaler Kultur. In offiziellen Verlautbarungen hieß es, Schlesien habe in seiner Vergangenheit zu der "höheren Kultur", zur Literatur, Musik, den bildenden Künsten, Architektur oder letztendlich Wissenschaft so gut wie nichts beigetragen. Und wenn irgendein Bestandteil der europäischen Zivilisation mit dieser Region assoziiert werden konnte, dann handelte es sich bestimmt um eine "fremde Kultur der Besatzer". In Kattowitz und in Oppeln war das Unterrichten der deutschen Sprache in jeglicher Form - egal ob in der Schule oder in einem Sprachkurs - strengstens verboten. Die einzige Ausnahme stellte das Kattowitzer Wilhelm-Pieck-Lyzeum dar, in dem (was in vollem Ernst behauptet wurde) der Unterricht der "DDR-Sprache" stattfand. In den Lehrprogrammen gab es zwischen dem Datum des Verkaufs Schlesiens durch Kasimir den Großen und dem Datum der "Rückkehr an das Mutterland Polen im Jahre 1922" fast keine historischen Ereignisse. Es wurden keine Gründungsjubiläen gefeiert, egal ob es sich um Schulen, Museen oder Kirchen handelte, die vor diesem Grenzdatum gegründet oder gestiftet worden waren. Die von der Roten Armee verbrannten und zerstörten Denkmäler verurteilte man zum Verfallen, manche von ihnen wurden sogar abgebaut. Bis 1989 ist nicht einmal ein zerstörtes Schloss restauriert worden, im Gegenteil: manche wurden gezielt abgebaut.  Die Stadtzentren - einst Perlen der Renaissance- und Barockarchitektur - wurden mit hässlichen, grauen Wohnblocks aus der Gomulka-Ära verbaut. Nur wenigen Städten ist es gelungen, ihre alte Atmosphäre zu bewahren. Viele Jugendstil-Häuser, darunter auch die kostbarsten Perlen der Architektur, wurden in den 60er Jahren einfach in die Luft gejagt und durch quasi-moderne Ekel ersetzt.

Ahnen, Nobelpreisträger und Oscars

Nach der Wende im Jahre 1989 unternahm eine Gruppe gebildeter Regionalaktivisten etliche Versuche, diese marode Denkweise zu ändern. Es entstanden viele gute Programme, die dies bewerkstelligen sollten. Damals tauchte zum ersten Mal das heute modische Wort "Multikulturalität" auf, unter dem man  nicht mehr das Erbe des deutsch-polnischen Konflikts verstand, sondern vielmehr den Nachlass der sich gegenseitig durchdringenden Bestandteile polnischer, deutscher, tschechisch-mährischer und  städtisch-jüdischer Kulturen.

Auf dem Büchermarkt erschienen zahlreiche Arbeiten, die die ganze Dimension schlesischer Zivilisation präsentierten. Im Bereich der Literatur wurden die Werke von Horst Bienek, dem Autor der Gleiwitzer Tetralogie, sowie von Janosch, dem Spottvogel aus Zabrze, dessen Kinderbücher auf allen Kontinenten gelesen werden, zur regelrechten Entdeckung. Es wurde an die schlesische Herkunft von Joseph Elsner, dem Chopin-Lehrer und Komponisten, erinnert. Man vergaß auch nicht Grzegorz Gerwazy Gorczycki, der das in ganz Polen bekannte Lied "Gaude Mater Polonia" komponierte. Der bisher mit Krakau assoziierte Hl. Hiazynth  aus dem Geschlecht Odrow¹¿ schlüpfte erneut in die Rolle eines Aristokraten aus Groß-Stein bei Oppeln. Für nicht wenige wurden die Gedichte des großen europäischen Romantikers Joseph von Eichendorff aus Lubowitz bei Ratibor zu einer faszinierenden Entdeckung. Viele erfuhren bei dieser Gelegenheit, dass der Dichter im oberschlesischen Neiße begraben ist. Nicht weniger überraschend war die Rückkehr aus der Vergessenheit, die schlesische Nobelpreisträger aus Kattowitz, Sohrau, Königshütte erfuhren. Nicht weniger überraschend war die Tatsache, dass Oberschlesien auch Oscar-Preisträger hervorgebracht hat. Und nicht weniger Begeisterung brachte die Wiederentdeckung der Vorreiter moderner Wirtschaft in der Region - der schlesischen Zisterzienser.

Oberschlesien hörte plötzlich auf, nur eine Ansammlung einfacher Volksmassen zu sein, deren Kultur sich auf das Singen von Liedern im Dreiviertel-Takt beschränkte, die das Land bebauten, die Kohle zutage förderten und Stahl "unter der Geißel der Besatzer" kochten. Es avancierte zu einer normalen europäischen Region mit tausendjährigem Kulturerbe, in dem auf friedliche Art und Weise verschiedene Kulturen und Sprachen aufeinander trafen und auf dem Wege der Synthese faszinierende materielle und geistige Güter schufen. Alle erwartete nun eine gigantische aufklärerische Aufgabe, diesen unerschöpflichen und unbekannten Reichtum wieder zu entdecken,  zu ordnen und sich als von den Ahnen zustehendes Erbe zu eigen zu  machen. Zur Ikone der schlesischen Vielfalt, welche sich in dem multinationalen Topf gebildet hatte, wurde der unvergessliche Satz im Heinrichauer Gründungsbuch "Dai acz ja pobrucze a ty poczywaj ("Lass mich mahlen und ruhe dich aus"), der als der älteste polnische Satz gilt. Dieser Satz hätte nichts Besonderes an sich, wäre der Ehemann, der ihn ausspricht, nicht ein Deutscher gewesen, der mit seiner tschechischen Frau ausgerechnet auf Polnisch spricht.

Die Scheiterhaufen sollen brennen

Dieses fröhliche Multi-Kulti-Fest war leider nicht von langer Dauer, die Toleranzgrenze wurde überraschend schnell erreicht. Es fehlte an Menschen, die das Wesen der kulturellen Vielfalt verstehen und über entsprechendes Wissen verfügen. Kein Wunder: Zumindest drei Generationen der oberschlesischen Intelligenz wuchsen im Geiste des etablierten Dogmas heran, es fehlte an Kunsthistorikern, Literaturwissenschaftlern, Übersetzern und Dolmetschern. Für viele, sogar gebildete Menschen, waren die o. g. Entdeckungen ein echter Schock. Die Erinnerung an offensichtliche historische Wahrheiten, wie an diese, dass Schlesien nie unter den Teilungen Polens gelitten hat (zu dieser Zeit war Schlesien längst kein Teil Polens mehr und konnte deswegen kein Gegenstand der Teilungen sein) grenzte beinahe an Blasphemie. Die für eine kurze Zeit schlummernde Doktrin des ewig andauernden Kulturkrieges lebte mit doppelter Kraft wieder auf.

Die Lawine des "Widerstands gegen die feindliche Kultur" kam ins Rollen. Den Flammen des Scheiterhaufens fielen als erste die Lehrer zum Opfer, denen die Möglichkeit eingeräumt wurde, eigene Schulprogramme an öffentlichen Schulen einzuführen. Sie wurden sehr schnell zur Ordnung gerufen, ihr Unterricht wurde immer häufiger von der Schulbehörde überwacht, man führte mit ihnen Gespräche, es fehlte auch nicht an Besuchen des Staatschutzamtes, zu dessen Aufgaben der Schutz der polnischen Staatsraison gehört. Sogar freundlich gesinnte Schulleiter schlugen ihren Mitarbeitern vor, "davon Abstand zu nehmen".

Ein überraschend starker Widerstand kam seitens der Schlesischen Universität. Diese Hochschule lebte bereits seit Jahren mit dem Stigma der Bereitwilligkeit gegenüber der alten Ordnung. In ihren historischen Forschungen spezialisierte sie sich in der Gestaltung eines Bildes der Region, in der "seit Jahrhunderten ein blutiger Kampf des polnischen Volkes gegen die substantielle und kulturelle Aggression des preußischen Besatzers tobte".

Als ein krasses Beispiel alter Gewohnheiten kann die misslungene Ehrung eines hervorragenden Übersetzers polnischer Literatur aus Berlin dienen. Henryk Bereska, ein außergewöhnlicher Schriftsteller und Dichter aus Schoppinietz bei Kattowitz, übersetzte ins Deutsche die besten Werke polnischer Literatur (samt "Wesele" von Stanis³aw Wyspiañski), die sich in einer Millionen-Auflage verkauft haben. Der Widerstand der Universität war endgültig: Einen Deutschen, einen Renegaten, welcher der deutschen Kultur dient, zu ehren, ist einfach unmöglich. Schließlich erhielt Bereska  die Ehrendoktorwürde von der Breslauer Universität.

Deutschfreundlichkeit stellt immer noch das größte Hindernis für diejenigen dar, die sich in Oberschlesien um öffentliche Ämter bewerben wollen. Ein Gerichtsurteil, ein Korruptionsverdacht, skandalöses Verhalten, Veruntreuung sogar stellen kein Hindernis dar. Wenn sich aber jemand mit dem Stigma der Deutschfreundlichkeit um die Stelle eines Schul-, Amts- oder Kulturleiters bewirbt, dann hat er keine Chancen, auch wenn er der Bestqualifizierte ist. In dieser Hinsicht hat sich seit 1989 bis heute wenig verändert. Der erste nichtkommunistische Kattowitzer Woiwode, Wojciech Czech, ein großer Kenner der kulturellen Vielfalt Oberschlesiens, ein Vorreiter des neuen Denkens, war seine ganze Amtszeit lang wütenden Angriffen sowohl von links als auch von rechts ausgesetzt, weil er angeblich das "Eindeutschen" der Region anstrebte (und das, obwohl er aus einer Familie mit polnischen Traditionen stammt). Die Angriffe gegen den letzten AWS (Wahlaktion Solidarnoœæ - eine nicht mehr existierende politische Partei - Anm. d. Übers.) Woiwoden Willibald Winckler konzentrierten sich in erster Linie auf seinen Vor- und Familiennamen. Der Vorwurf war so eindeutig wie absurd: Das ist wohl irgendein Deutscher!

Die Veranstalter von Kulturevents, bei denen der Verdacht nahe liegt, dass sie deutsche Kultur propagieren, haben keine Chance, Fördermittel aus der öffentlichen Kasse zu bekommen. Solche Veranstaltungen, wie das "Fest der Vier Kulturen" in £ódŸ, sind in Oberschlesien nicht denkbar.

Ich will einfach nicht!

Die Schulen und Kulturinstitute, die in regelmäßigen Abständen ihre Jubiläumsfeste organisieren, geben als Gründungsdatum unverändert 1922 bzw. 1945 an, obwohl sie ununterbrochen seit 150 oder sogar 200 Jahren existieren. Nicht selten führt eine solche Praxis zu grotesken Konflikten. Im Jahre 2002 wurde anlässlich des 80-jährigen Jubiläums einer bekannten Oberschule eine renovierte, historische Aula zum Gebrauch übergeben. Es wurde geplant, dem Festsaal den Namen eines ehemaligen Schülers zu geben: Wojciech Korfanty. Eine offensichtliche Bestürzung rief die Frage eines der eingeladenen Gäste hervor: "Wie konnte Korfanty Schüler dieser Schule sein, die erst 1922 gegründet wurde? Seine Schuljahre fielen aber auf das ausgehende 19. Jahrhundert!" Man verzichtete also auf die Benennung der Aula, der Festsaal blieb ohne Namen.

Ähnlich grotesk ist die Geschichte des von der "Gazeta Wyborcza" angestrebten Ehrungsversuchs der Mitbegründer von Kattowitz: Friedrich Wilhelm Grundmann und Richard Holtze. Den beiden ist es binnen weniger Jahre gelungen, ein kleines Dorf in eine moderne europäische Stadt umzuwandeln. Bereits die Idee selbst rief eine Protestlawine aus, in der örtlichen Presse kochte es vor Empörung. Der Leiter des Schlesischen Museums, Lech Szaraniec, meinte vollen Ernstes, dass dieses Denkmal die deutsche Minderheit errichten könne. Beide Herren seien doch eifrige "Germanisatoren" gewesen. Die Nachforschungen bestätigten aber die Vorwürfe Szaraniecs nicht. Darauf argumentierte das Museum, dass sie Hakata-Mitglieder waren - einer preußischen, antipolnischen Organisation. Auch in diesem Fall forschte man nach, es stellte sich jedoch heraus, dass beide etliche Jahrzehnte vor der Gründung des berüchtigten Vereins gestorben waren. Da tauchte ein weiterer Vorwurf auf: Sie sollten den letzten Kattowitzer Schulzen wegen seiner polnischen Gesinnung verfolgt haben. Auch in diesem Fall stellte man Nachforschungen an. Und tatsächlich: In den Archivmaterialien des Stadtrates stieß man auf die Spur eines Konflikts, dessen Gegenstand allerdings ein ganz anderer als nationaler Natur war. Es handelte sich nämlich um ein Stück Land, das mitten im Stadtzentrum lag. Der Schulze wollte den Acker für öffentliche Zwecke nicht verkaufen. In der Chronik notierte man sogar den Wortlaut seiner Aussage: "Ich will einfach nicht!"

Das Problem wurde wie eine heiße Kartoffel zwei Jahre lang bald einer Abteilung, bald einer anderen Institution in die Schuhe geschoben. Das vor dem Hintergrund der gesteuerten sozialen Proteste gegründete Baukomitee welkte schnell dahin. Letztendlich wurden die Gründungsväter der Stadt mit einem kleinen Fragment der Stadtautobahn geehrt. Glücklicherweise stehen dort keine Häuser und kein Unternehmen hat sich an der Autobahn angesiedelt. Doch sogar solche bescheidenen Ehrungsakte riefen Bedenken der Stadträte hervor. Die Straße hat man also in zwei Teile geteilt: Den einen Teil bekam Grundmann, der andere fiel an Steœlicki, einem kaum bekannten polnisch gesinnten Volksabstimmungsaktivisten aus dem Jahre 1921.

Die Hauptquelle des Widerstandes gegen die "neue Germanisierungswelle" ist seit Jahren die Oberschlesische Literaturgesellschaft, die sich obendrein als Wächter der einzig richtigen Staatsraison versteht. An der Spitze dieses Vereins steht seit Jahren ein Kattowitzer Dichter und Chefredakteur einiger Off-Zeitschriften, ehemaliger langjähriger Abgeordnete des kommunistischen Parlaments, Tadeusz Kijonka. Selbst seine nächsten Mitarbeiter scherzen: "Tadeusz, komm aus dem Schützengraben heraus, der Krieg ist vor 60 Jahren zu Ende gegangen." Die Kattowitzer Schriftsteller waren seit Ewigkeit das Hauptwerkzeug, mit dem den Revisionisten und Feinden Widerstand geleistet wurde. Die Tradition wird also würdig fortgesetzt. Als Anekdote erzählt man eine wahre Geschichte, die sich bei der Gründung dieser Gesellschaft zugetragen hat: Während der Gründungsversammlung sind alle Tagesordnungspunkte schnell erledigt worden, so dass man sofort zur Programmdiskussion überleiten konnte. Die erste Frage in der Debatte lautete: Und was machen wir, wenn sich Hupka und Czaja unserem Verband anschließen wollen?

Auf der Wache des Koscherseins

Den wenigen, die immer noch gegen die Strömung schwimmen wollen und versuchen, auf dem Gebiet des Entdeckens der ganzen Fülle der oberschlesischer Kultur etwas zu bewegen, machen die Aktivisten der deutschen Minderheit das Leben nicht gerade leichter. Viele von ihnen zählen zu den ähnlich kompromisslosen Dogmatikern. Es ist nicht leicht, in dieser Gruppe Verbündete zu finden, viel leichter kann man sich aber das Stigma eines "Polenfreundes" zuziehen, der bemüht ist, den Beitrag deutscher Kultur in Schlesien zu mindern. Es grenzt an ein Wunder, die Leader der zerstreuten und innerlich zerstrittenen Organisationen für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Jeder Vorschlag, der darauf abzielt, eine Kulturveranstaltung  gemeinsam zu organisieren, erntet folgende Standardantwort: "Ja, die Veranstaltung kann einen multikulturellen Charakter haben, wenn sie deutsch sein wird."

Das sich seit Jahren in Gebärwehen wimmelnde "Fest der Oberschlesischen Kultur" ist ja natürlich auch denkbar, vorausgesetzt, dass es ein Fest der deutschen Kultur sein wird. Die Übersetzungen der Werke berühmter schlesischer Schriftsteller und Dichter ins Polnische sind - der Meinung deutscher Aktivisten nach - unberechtigt und profan, man soll sie sich im Original aneignen. Nur in Einzelfällen ist eine Übersetzung zulässig, vorausgesetzt, dass sie von einem von der Minderheit empfohlenen Übersetzer gemacht wird, was allerdings in der Regel mit einem literarischen Desaster endet.

Über Nobel- oder Oscarpreisträger darf man schreiben, allerdings nur mit dem Attribut "deutsch" bzw. "deutsch-jüdischer Herkunft". Der Terminus "schlesischer Nobelpreisträger" gilt als "Verdunkelung" und Missbrauch. Wenn man die Minderheit überzeugen will, irgendeine Person mit einem Denkmal zu ehren, dann muss man damit rechnen, dass zuerst überprüft wird, was deren Muttersprache war. Gibt es Beweise, dass der Sockelkandidat zufällig Polnisch sprach, waschen sich die deutschen Partner die Hände. Die Vorsitzenden der DFKs (Deutsche Freundschaftskreise) halten sich für Rabbiner, die verschiedenen Projekten und Ideen ihre "Koscher-Zertifikate" ausstellen. Ohne ihre Bewilligung gilt das Projekt als "nicht deutsch" und verdient somit keine Aufmerksamkeit und Unterstützung, geschweige denn eine Zusammenarbeit.

Finger weg von unserem Hof!

In Oberschlesien ist gerade eine eigenartiger Kulturapartheid am Verwurzeln, wo jede Seite unüberquerbare Grenzen zieht: Hier ist unser Platz, dort der eure und Finger weg von unserem Hof! Solches Denken kommt einer Vergewaltigung hiesigen Geistes gleich, der auf Jahrhunderte langem, gegenseitigem Durchdringen der Kulturen gewachsen ist. Die Nachforschungen über die Muttersprache und das Ausstellen "nationaler" Zertifikate ist ein absoluter Unsinn. Seit Langem waren die schlesischen Eliten beider Sprachen mächtig, ähnlich, wie ein beträchtlicher Teil des Volkes. Obwohl die berühmten oberschlesischen Schriftsteller und Dichter (wie z.B. der bereits erwähnte Joseph von Eichendorff) auf Deutsch schrieben, konnten sie auch gut Polnisch und beschäftigten sich eifrig mit der Untersuchung der echten, nicht vom Amt verordneten polnischen Folklore (im 19. Jh. herrschte eine ethnologische Mode, die nicht unwesentlich zum Entstehen des großen Werkes von Oskar Kolberg beitrug). Die Bauern und Arbeiter, die das allgemeine Schulwesen genossen, lasen ihre Werke im Original.

Multikulturalität ist immer attraktiv. Die sich gegenseitig durchdringenden Welten schaffen ungewöhnliche Phänomene, die nur im Grenzgebiet entstehen können. Paradoxerweise begann das gleiche Europa, das am Anfang des 20. Jh. kämpfende Nationalismen gebar, sich für Grenzkulturen zu interessieren. Ein Beweis dafür ist u. a. der Nobelpreis für Günter Grass. Selbst im "nationalen" Polen ist die Renaissance der östlichen und westlichen Grenzkulturen voll im Gange, was angesichts deren bisher tief versteckten Reichtums nicht überraschen soll. Während aber Günter Grass in seiner Heimatstadt Danzig ostentativ gefeiert wird, bekam sein oberschlesischer Gleichaltriger, Horst Bienek, nach Jahren des Kampfes um die "nationale Sache" lediglich ein bescheidenes Gedenktäfelchen an der Mauer seines Gleiwitzer Miethauses.

Vergessen wir nicht, dass es ein Missverständnis wäre, die Debatte über die kulturelle Vielfalt Oberschlesiens nur auf die deutsch-polnische Dimension zu beschränken. Wir müssen daran denken, dass (Ober)Schlesien in seiner Geschichte am längsten der tschechischen Krone angehörte. Das war auch die Zeit der räumlichen Entwicklung, die Zeit, in der die ältesten schlesischen Wissenschaftszentren (z. B. in Troppau) entstanden, die Zeit, in der sich die Städte am dynamischsten entwickelten. Wir vergessen allzu oft, dass ein beträchtlicher Teil Schlesiens sich heute in den Grenzen der Tschechischen Republik befindet. Auf der polnischen Seite scheint dieser Teil schlesischer Identität in Vergessenheit geraten zu sein. Es ist immer noch am schwierigsten, Tschechisch zu lernen, obwohl es viele Sprachschulen gibt, die neben Englisch und Deutsch auch eine breite Palette anderer Sprachen anbieten. Erst seit Kurzem errichtete man an unseren Universitäten Lehrstühle für Bohemistik. Ähnlich vergessen bleibt der Beitrag  städtisch-jüdischer Kultur, die sich so sehr von der plebejischen jiddisch-polnischen Kultur unterscheidet. Die Letzte erlebt derzeit in Polen eine sentimentale Renaissance, die erste hat kaum Chancen, wieder entdeckt zu werden.

Die einzige Institution, die sich professionell mit dem multikulturellen Erbe Oberschlesiens beschäftigt, ist das Gleiwitzer Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit, das 1998 im Beisein der Präsidenten von Polen und Deutschland feierlich eröffnet wurde. Der Gründervater und langjähriger Leiter des Hauses, Herr Thaddäus Schäpe, erinnert immer wieder daran, was beide Seiten versprochen haben, nämlich, dass die Institution von beiden Ländern jeweils zur Hälfte mitfinanziert wird. Nach sechs Jahren hat leider keine der polnischen Regierungen das Versprechen eingelöst. Alle Mittel kommen aus Berlin. Ein bekannter Kattowitzer Abgeordneter, befragt von mir in dieser Angelegenheit, äußerte sich ehrlich und ‘auf gut Polnisch’: "Wenn die Krautfresser hier ihre 5. Kolonne haben wollen, dann sollen sie sie selbst finanzieren."

P.S. Nachdem ich diesen Artikel der Redaktion vorgelegt hatte, erfuhr ich, dass Herr Thaddäus Schäpe bereits am 1.9.2004 im Alter von 50 Jahren gestorben ist. Von uns ging ein Mann, dessen Beitrag zu der gut verstandenen multinationalen Kultur Oberschlesiens schwer zu überschätzen ist. Die Trauerfeier am 11. September in Gleiwitz versammelte viele ehrwürdige Gäste aus Deutschland und aus Polen. Sie wurde leider von den Vertretern der Woiwodschaftsbehörden vollkommen ignoriert. Das betont nur den Inhalt dieses Artikels.

Wir danken dem Autor für das Nachdruckrecht aus: Informationen Nr 48, Dezember 2004, Georg-Eckert-Institut.