Eine Stadt auf
der Suche nach ihrer Seele
Görlitz
konkurriert mit Essen um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2010
Von Andreas Metz
"Natürlich, die Polen machen mal wieder die Dreckarbeit",
denkt man unwillkürlich. Der Rezeptionist des Hotels
"Picobello" spricht mit dem typischen Akzent. Erst teilt er die
Schlüssel zu. Und wenige Minuten später trifft man ihn im Gang wieder, wo er
die letzten Zimmer saugt und einen Haufen schmutziger Bettwäsche abtransportiert.
Und wer ihn fragt, dem liefert Jacek Polowczyk auch
noch eine Kurzanalyse dessen, was hier schief gelaufen ist, im Land, das man
einmal DDR nannte, und in der Stadt, die die östlichste Deutschlands ist:
"Die Vereinigung war ein Anschluss", analysiert Polowczyk.
"Das war ein Angriff auf die Seele der Ossis. Wie minderwertige Verwandte
wurden sie behandelt: Ihr bekommt schöne Häuser, aber die alten Klamotten müsst
ihr ausziehen. Was ist denn geblieben vom Osten?", fragt er und gibt die
Antwort gleich selbst: "Nichts".
Görlitz und das Nichts. Sie
flirten heftig miteinander. Der Stadt laufen die Einwohner davon, als sei die
Pest in die alten Gemäuer gekrochen. Von früher 80.000 sind noch 58.000
Menschen übrig. Alle können diese Zahlen herunterbeten: der Bürgermeister, die
Einzelhändler, die Schüler der städtischen Gymnasien, die zusammengelegt
werden, weil der Nachwuchs fehlt, ja vermutlich sogar die Kinder in den
fusionierten Kindergärten. Die Politiker sehen dabei aus wie U-Boot-Kapitäne,
die sich fragen, wie tief es noch runter gehen kann, bis der Bauch des Schiffes
kollabiert. "Wir schaffen das!" hat ein Kandidat für die
Bürgermeisterwahl am 22. Mai als hilflose Durchhalteparole ausgegeben und an
die Laternenmasten der Stadt gehängt.
Die flüchtenden Einwohner
hinterlassen ein gigantisches Freiluftmuseum: 4.000 denkmalgeschützte Häuser,
Villen, Stadtpaläste aller erdenklichen Baustile. Die meisten
"picobello" saniert, viele leer stehend. 500 Millionen Euro oder mehr
wurden seit 1990 aus westlicher Richtung in die damals völlig marode Altstadt
gepumpt. Der Aufbau Ost, nirgendwo war er so grandios erfolgreich und ist
gleichzeitig so grandios gescheitert wie in Görlitz.
"Die Häuser sind renoviert,
aber die Stadt hat keine Seele", sagt Jacek Polowczyk.
Dass ahnen alle, die vom Bahnhof ins Zentrum laufen, zuerst an einem geschlossenen
Hotel vorbei müssen und dahinter eine Reihe blinder Fenstern sehen, in die die
TU Dresden schwarze Plakate gehängt hat, auf denen Wörter wie "Stadtforschung",
"Stadtumbau" und "Sanierungsgebiet" stehen. Görlitz wird
auf die Couch gelegt, an Instrumente angeschlossen. Alle Parameter zeigen an,
dass der Körper gesund ist, dass die Stadt nie in ihrer Geschichte schöner war.
Und dennoch ist der Patient ins Koma gefallen, er dämmert dahin, wie der "Stadtschleicher".
So heißt der städtische Bus, der mit 25 km/h Touristen im Kreis fährt.
Erklärungsversuche gibt es
reichlich: Tausende Arbeitsplätze im Braunkohletagebau und der Textilindustrie
sind nach der Wende weggebrochen, die Geburtenrate
abgestürzt. Wer jung und mobil war, zog gen Westen, wie die beiden Görlitzer
Fußballnationalspieler Jens Jeremies und Michael Ballak. Die Stadt ist inzwischen pleite, der Haushalt steht
unter Kuratel. Kennt man alles von anderswo. Obendrein gibt es aber noch das
spezielle Görlitzer Schicksal: die Grenze. Die Neiße fließt durch die Stadt,
seit Ende des Zweiten Weltkrieges gehört die andere Seite zu Polen. Zgorzelec nennt sich dieser Teil, der aus einem kleineren
Görlitzer Gründerzeitvorort und polnischen Betonwürfeln entstanden ist und in
dem sich nun 40.000 Einwohner drängen.
Nichts wussten die sozialistischen
Bruderländer DDR und Polen mit dieser Grenze anzufangen. Ganze acht Jahre war
in den 70er Jahren mal ein visafreier Verkehr
möglich. Sonst prallte man an der Neiße, die hier keine 100 Meter breit und an
heißen Sommertagen nicht mal knietief ist, ab wie an einer Gummiwand. Die Einwohner
ließen es geschehen, ja ihnen war die Trennung im Grunde willkommen. Auf
polnischer Seite füllten Flüchtlinge aus den früher polnischen Gebieten in der
Ukraine und Weißrussland die frei gewordenen deutschen Häuser. In den 50er
Jahren gesellte sich noch eine große Gruppe griechischer
Bürgerkriegsflüchtlinge hinzu. Alle hatten sie Angst vor der Rückkehr der
Deutschen und dem abermaligen Verlust ihrer Heimat. Und auf deutscher Seite
wurde Görlitz, dieses letzte Stück Schlesien, zu einem Auffangbecken für
Vertriebene. Einen Anteil von 39,5 Prozent an der Stadtbevölkerung erreichten
sie, so viel wie sonst in keiner Stadt. 39,5 Prozent, die oft nur unter
Schmerzen und mit Hass nach Osten blicken konnten. 39,5 Prozent, deren Lebensgeschichte
in der DDR aus ideologischen Gründen tot geschwiegen wurde, 39,5 Prozent, die
sich nichts sehnlicher wünschten, als aus Görlitz wieder weg zu kommen. So ist
Görlitz zu der Stadt der großen Verstörungen geworden, die Neurosen der
Wendezeit überlagern sich hier mit den Komplexen, die der Zweite Weltkrieg, die
DDR und die Grenzlage erzeugt haben. Schlichtweg zum Davonlaufen.
Wäre dieser Artikel ein Drehbuch,
so könnte man nun Dornenbüsche durch verödete Straßen wehen lassen und ein
einsamer Cowboy stünde mit seiner Mundharmonika an der Neiße, "Spiel mir
das Lied vom Tod" auf den Lippen. Doch ehe dieses tragische Ende verfilmt
werden kann, greift eine kleine Gruppe von Menschen beherzt in das Drehbuch
ein. Allesamt stammen sie nicht aus Görlitz, allesamt ließen sie sich von
dieser wunderschönen Stadt fesseln, allesamt glauben sie unbeirrt an ein Happy-End. Die Grenze sei die "Chance" für
Görlitz, verkünden sie dem staunenden Publikum: Die Doppelstadt soll
"Europas Kulturhauptstadt 2010" werden.
Ausgeheckt hat diesen Clou der
Görlitzer "Kulturbürgermeister" Ulf Großmann, der in den 80er Jahren
aus dem Westen der DDR als Leiter eines Kinderchores nach Görlitz kam. Mit
Großmann zu reden, heißt Teil einer symphonischen Aufführung zu werden. Der
Mann dirigiert das Gespräch, fährt die Zeigefinger aus, lässt sie kreisen,
versteht, Misstöne in Harmonien zu verwandeln und diesem Artikel hier Hoffnung
einzuhauchen. "Die Chancen liegen auf der Straße, wir müssen uns
bücken", sagt Großmann. "Görlitz-Zgorzelec,
das ist ein Laboratorium für die Stadt des 21. Jahrhunderts mit allen
Problemen, aber auch mit Visionen." Und seinen Görlitzern schreibt er ins
Stammbuch: "Jahrzehnte haben wir Rücken an Rücken gestanden, jetzt müssen
wir uns langsam mal umdrehen."
Umdrehen nach Polen, aber auch
ins nahe Tschechien. Was bei anderen Politikern nur Phrasendrescherei ist, hat
Großmann beharrlich vorangetrieben: 1991 mit der Gründung des Europahauses in
Görlitz, 1992 mit Gründung des deutsch-polnischen Kulturbüros, 1994 mit einer
deutsch-polnischen Koordinierungskommission. Überall mischt Großmann als
Vorsitzender mit, als lebender Brückenschlag über die Neiße. Gerne rechnet
Großmann vor, wie wichtig diese Öffnung nach Osten gerade auch aus ökonomischer
Sicht ist: "40 Prozent ihres Umsatzes machten Görlitzer Geschäfte
inzwischen mit polnischen Kunden." 2003 erfand er mit seiner polnischen
Kollegin dann die Idee der gemeinsamen Bewerbung zur "Europäischen
Kulturhauptstadt" und Ende 2004 haben sie endlich die zweite Brücke nach Zgorzelec eröffnen können, ein Grenzübergang für Fußgänger
direkt hinter der Görlitzer Altstadt.
Dieser Brückenschlag soll nicht
der letzte sein, die Bewerbungsmappe für die Europäische Union sieht einen
ganzen Brückenpark vor mit einem Medienzentrum, Bildungseinrichtungen und viel
Raum für Künstler beiderseits der Neiße. Europa wollen sie zusammenwachsen
lassen, hier im Dreiländer-Eck. Was da entstehen kann, zeigen zarte Pflänzchen,
wie die Internationale Sommerschule der Künste, die international renommierte Meister
von fünf Kontinenten und Kunststudenten in Görlitz zusammen führt. Beteiligt an
diesem Programm sind erste Absolventen des Studiengangs Kulturmanagement der
Hochschule Görlitz-Zittau. Noch hat die Hochschule kaum 1000 Studenten. Aus ihr
eine Dreiländer-Universität zu machen mit gesuchten
Nischenfächern wie "Luftfahrt", auch dies ist eine Zukunftsvision von
Großmann.
Leute von außen mit dem
unverstellten Blick sind es, die Leben nach Görlitz zurück bringen. Der
30-jährige Malte Kozik zum Beispiel. Seit Anfang 2005
ist er Geschäftsführer der Vierradenmühle, Deutschlands östlichster Kneipe,
direkt an der Neiße und der Altstadtbrücke nach Zgorzelec.
Er ist aus Stralsund, hat wie der Dresdner Gerd Weise in Görlitz
Kulturmanagement studiert. Zusammen stehen sie nun hinterm Tresen und
erarbeiten ein Kulturprogramm mit internationalen Bands. Und das Wunder
geschieht: Der Laden ist voll! Es gibt also noch Leben unter den 58.000
Görlitzern. "Ungefähr 25 Prozent kommen von der polnischen Seite",
schätzt Kozik. Mit seinen polnischen Kollegen von der
Dreiradenmühle direkt gegenüber hat er schon Kontakt bezüglich gemeinsamer
Aktivitäten aufgenommen. "Das wird sich entwickeln", ist er sicher.
Von der munteren, visionären,
gleichzeitig aber sympathisch-bescheidenen Truppe, die sich um
"Kulturbürgermeister" Großmann geschart hat, zeigte sich die nationale
Auswahlkommission für die Kulturhauptstadtbewerbung zu Recht so beeindruckt,
dass sie Görlitz gemeinsam mit Essen dem Bundesrat zur Empfehlung vorlegte.
Städte wie Potsdam, Bremen, Karlsruhe, Regensburg und Lübeck hat Görlitz aus
dem Rennen geworfen. Ende April gab der Bundesrat sein Plazet, nun muss im Jahr
2006 die EU zwischen Essen und Görlitz entscheiden.
Und wenn es am Ende nun doch
Essen werden sollte, bricht dann alles wieder zusammen? Dann würde eben alles
etwas langsamer umgesetzt, meint Kai Grebasch,
Pressereferent der Stadt. "Die Vision ist ja richtig und unabhängig von
der Bewerbung." Auch wenn es die Bild-Zeitung schon versucht habe, gegen
Essen werde man sich nicht ausspielen lassen, schon jetzt habe sich die
Teilnahme am Wettbewerb für Görlitz ausgezahlt. Und wer weiß? Wenn es gelingt,
auch die schwerfälligen Görlitzer selbst von der Idee zu begeistern, vielleicht
wird der Favorit Essen am Ende doch vom schlesischen David ausgebootet. Dies
ist die Hauptaufgabe, vor der Grabesch steht. Er
selbst kommt übrigens aus Zittau.
Zählen kann Grabesch dabei übrigens auch auf Jacek Polowczyk, dem "Picobello"-Rezeptionist, der Görlitz für eine "Stadt ohne Seele" hält. Polowczyk ist aus Straßburg nach Görlitz gekommen. Er hat einen französischen Pass, deshalb darf er auch in Görlitz arbeiten, was Polen noch sechs Jahre lang verwehrt sein wird. Aus Straßburg, dem Sitz des europäischen Parlamentes, wisse er, welche Chancen Europa biete, sagt Polowczyk am Ende versöhnlich. "Trotz aller Probleme bin ich in Görlitz richtig. Hier kann ich nun bei der Geburt eines neuen Kindes dabei sein."