Polen und die Ukraine

 

Nach dem Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten zur Europäischen Union im Mai 2004 erklärten führende Vertreter der Europäischen Kommission recht schnell und deutlich, dass für die Europäische Union damit die Integration in Ostrichtung abgeschlossen sei. Nach dem avisierten Beitritt Bulgariens und Rumäniens werde es mittelfristig lediglich noch Erweiterungen auf der Balkanhalbinsel geben und auch über eine EU-Perspektive der Türkei müsse ernsthaft diskutiert werden. Damit sollte klargestellt werden, dass die neue EU-Außengrenze im Osten auf Jahre hin entlang des Bugs verlaufen werde. Ein deutliches Signal an Moskau. An Warschau hatten in diesem Zusammenhang in jenen Tagen sicherlich die wenigsten gedacht. Und doch wurde in der Diskussion an der Weichsel recht schnell deutlich, dass der vollzogene Beitritt des Landes nicht als endgültige Festschreibung einer östlichen EU-Außengrenze verstanden wurde. Im Gegenteil: Von einer gelungenen und vollständigen europäischen Integration könne erst gesprochen werden, wenn alle historischen Gebiete der früheren polnisch-litauischen Adelsrepublik darin eingeschlossen sind - also neben Litauen und Polen auch die Belarus und die Ukraine. Was zunächst recht antiquiert aussah und so recht nur aus der Perspektive der polnischen Geschichte verständlich schien, zeigte spätestens in den Tagen der so genannten orangenen Revolution in der Ukraine ein deutliches Profil. Die polnische Außenpolitik verstand sich innerhalb der EU sofort als der Anwalt ukrainischer Beitrittsinteressen. Wer einen Blick auf die Landkarte wirft, wird schnell sehen, dass eine hypothetische Mitgliedschaft der Ukraine das Verhältnis zwischen EU und Russland (einem der wichtigsten Rohstofflieferanten der EU) nachhaltig beeinflussen würde. Aus polnischer Sicht wurde und wird hingegen stets erklärt, dass eines der wichtigsten Ziele der Außenpolitik des Landes die Stärkung der Unabhängigkeit der Ukraine ist und eine solche erst endgültig sein könne, wenn die Ukraine vollwertig in den transatlantischen (NATO) und europäischen (EU) Strukturen mitarbeitet. Anders gesagt: Eine Ukraine ohne Mitgliedschaft in den beiden Strukturen stehe immer mit einem Bein in der Abhängigkeit gegenüber Moskau. Damit wurde noch ein weiteres unterstrichen: Für Polen ist nicht Moskau der strategische Partner jenseits der neuen östlichen EU-Außengrenze, sondern dieser Platz gehört eindeutig Kiew. Mit dieser Position war Polen bei Beitritt in die EU in einer beinahe aussichtslosen Minderheitenposition. Die Frage ist, ob die Ergebnisse der so genannten orangenen Revolution am Dnepr daran etwas geändert haben. Eine Antwort werden die nächsten Jahre bringen.

 

 

Einige Aspekte der Beziehungen Polens zur Ukraine nach dem EU-Beitritt

Von Piotr Andrusieczko, (Poznañ)

 

Die polnisch-ukrainischen Beziehungen in der Vergangenheit können - vorsichtig ausgedrückt - als schwierige Nachbarschaft bezeichnet werden. Die tragische Vergangenheit teilt und eint beide Völker und Nationen gleichermaßen. Es genügt, an zwei Ereignisse des mittlerweile letzten Jahrhunderts zu erinnern - die Tragödie in Wolynien 1943 und die "Weichsel"-Aktion 1947. Die politischen Veränderungen in Polen nach 1989 und die Entstehung einer unabhängigen Ukraine 1991 eröffneten die einmalige Möglichkeit, die gegenseitigen Beziehungen von neuem auf gutnachbarschaftlichen Beziehungen aufzubauen. Es sollte daran erinnert werden, dass Polen aufmerksam und offenherzig die Situation auf dem Gebiet der Ulkraine im Jahre 1991 verfolgte und sogleich zahlreiche Kontakte zu örtlichen politischen und intellektuellen Kreisen fand. Diese Tätigkeit wurde durch die Tatsache gekrönt, dass Polen als erster Staat die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannte. Damit wurde unterstrichen, wie sehr Polen an einer unabhängigen und demokratisch regierten Ukraine gelegen ist, mit der es sich durch gutnachbarschaftliche Beziehungen verbunden fühlt. Die erste Etappe beim Aufbau der gegenseitigen Beziehungen wurde durch die Unterzeichnung des "Vertrages über gutnachbarschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen Polen und der Ukraine" am 18. Mai 1992 abgeschlossen. Der Vertrag stellt in der Bewertung vieler Fachleute einen politischen Erfolg für beide Staaten dar, weil er modellhaft aufzeigt, wie nachbarschaftliche Beziehungen in der Region aussehen könnten.

Die weiteren Beziehungen gestalteten sich in unterschiedlichem Tempo. Kritisiert wurde die polnische Politik gegenüber der Ukraine und anderen östlichen Nachbarn wegen Mangels an Visionen und fehlender Geschlossenheit. Ein "neues" Niveau nahmen die gegenseitigen Beziehungen in der Dienstzeit der Präsidenten Leonid Kuczma und Aleksander Kwaœniewski an, was vor allem hauptsächlich den zahlreichen Begegnungen beider Präsidenten und ihrer Vertreter geschuldet ist. Diese Situation führte dazu, dass in Regierungskreisen beider Länder der Ausdruck "strategische Partnerschaft" für die Bestimmung der gegenseitigen Beziehungen gebraucht wurde.  Unter den Kritikern machte sich jedoch die Meinung breit, dass die guten Beziehungen auf der Ebene der Staatsoberhäupter keineswegs für die wirtschaftlichen Beziehungen, für die gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten und für die normalen Beziehungen zwischen den Bürgern zutreffen würden. Nach Ansicht zahlreicher Beobachter, hat Polen vor allem wegen des Fehlens ökonomischer Instrumente keine reale Möglichkeit, Einfluss auf die Situation in der Ukraine auszuüben. Andererseits muss anerkannt werden, dass Polen seit vielen Jahren die Ukraine auf der internationalen Bühne unterstützt. Beispielsweise behielt Polen während der politischen Krise in der Ukraine als eines von wenigen, westlich von Kiew gelegenen Ländern die diplomatischen Kontakte auf höchster Ebene bei.

Der Beitritt Polens zur EU schuf neue Möglichkeiten oder zwingt, besser gesagt, zu einer neuen Betrachtung der polnisch-ukrainischen Beziehungen, der polnischen Politik zu den östlichen Nachbarn, die nunmehr bereits Teil der EU-Politik sind.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass in den 1990er Jahren die Beziehungen der Ukraine zu den USA sich besser entwickelten als zu den EU-Staaten. Vor allem rührt das aus der Tatsache her, dass in Westeuropa die Ukraine weiterhin als Teil Russlands oder zumindest als Teil der russischen Einflusssphäre angesehen wurde. Befürchtet wurden politisch instabile Verhältnisse in einem Land mit seinerzeit noch erheblichem Atomwaffenpotential. Man sorgte sich darum, Russland - also praktisch den einzigen Partner im Osten - nicht übermäßig zu reizen. Diese Situation wurde durch die USA ausgenutzt, die sich aktiv in der Ukraine engagierten und versuchten, ein Gegengewicht zu Russland auf ehemals sowjetischem Gebiet aufzubauen. Die Ukraine hingegen benötigte einen starken Verbündeten als Gegengewicht in den Beziehungen gegenüber Russland.

In der jetzigen neuen europäischen politischen Wirklichkeit grenzt die Ukraine unmittelbar an die EU, was eine Neuausrichtung der ukrainischen Politik erforderlich macht. Am 12. Mai 2004 veröffentlichte die Europäische Kommission die Strategie der Europäischen Nachbarschaftspolitik, die u. a. an die Ukraine adressiert ist. Hauptziel sollte die Ausarbeitung einer neuen Strategie gegenüber den an die EU grenzenden Staaten sein. Sie soll die Teilung zwischen den EU-Mitgliedern und den unmittelbar benachbarten Staaten verhindern, ohne dass aber eine eindeutige Perspektive auf EU-Mitgliedschaft gegeben wird. Eine solche Situation ist äußerst unbefriedigend sowohl für die östlichen Nachbarn der EU als auch für Polen.

Vor dem polnischen EU-Beitritt führte die Einführung des Visumzwangs für die östlichen Nachbarn zu Verstimmungen. Die liberalste Variante gilt für die Bürger der Ukraine. Aber auch so waren auf beiden Seiten der Grenze zahlreiche Stimmen zu hören, die von einem neuen "eisernen Vorhang" sprachen. Die Situation macht auf jeden Fall weitere Anstrengungen nötig, mit denen die negativen Auswirkungen für die Bürger der Ukraine gemildert werden könnten. Eventuell könnte unter aktiver Beteiligung Polens ein neues Lösungsmodell ausgearbeitet werden. Allerdings wäre das eine Frage von einigen Jahren und zusätzlicher EU-Mittel für die Sicherung der ukrainischen Grenzen zu Russland, Belarus, zur Dniestrregion und zu Moldawien.

Polen wies bereits vor dem Beitritt zur EU darauf hin, dass es von einer aktiven Einbeziehung in die EU-Ostpolitik ausgehe. Viele Irritationen rief unter den EU-Diplomaten die Tatsache hervor, dass die polnische Seite lauthals die Bestrebungen der Ukraine auf EU-Mitgliedschaft unterstützte, obwohl hohe EU-Funktionäre von einer solchen Möglichkeit Abstand nahmen. Diese Spannungen sollten mit einem Kompromiss beigelegt werden. Interessant immerhin, dass die Mehrheit aller politischen Kräfte in Polen von der Notwendigkeit guter Beziehungen zur Ukraine bis hin zu einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft überzeugt ist. Eine Umfrage der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament (Juni 2004) zeigte, dass Vertreter aller namhaften Parteien sich für eine zukünftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine aussprachen. Eine offene Frage bleibt, ob es Polen gelingen wird, die EU-Partner zu einer Änderung ihrer Position zu bewegen. Damit Polen tatsächlich an der EU-Ostpolitik mitwirken kann, bedarf es der Partner in der EU, bedarf es einer breiten Lobby, denn im Alleingang ist da nichts auszurichten. Auf alle Fälle ist eine Änderung der Taktik Polens notwendig. So scheint es doch gut möglich, neben der Betonung der Notwendigkeit einer Aufnahme der Ukraine in die EU verstärkt auf konkrete polnisch-ukrainische oder auch unionsweite Initiativen zu setzen, die zum einen die neuen, darunter auch finanziellen Möglichkeiten ausnutzen und zugleich das Ansehen der Ukraine stärken könnten. Viel hängt dabei natürlich von der Ukraine selbst ab. Ein gewisser Gradmesser werden die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine und vor allem die Zeit danach sein. Die Demokratisierung der Ukraine, weitere Reformen und der Aufbau einer Bürgergesellschaft wären eine ausgezeichnete Werbung für die Ukraine. Polen hat die Chance, der Ukraine auf diesem Weg zu helfen.  Natürlich wird Polen unabhängig vom Wahlausgang die gutnachbarschaftlichen Beziehungen zur Ukraine weiterhin pflegen, liegt das doch in seinem Sicherheitsinteresse. Was den Kompromiss in der Frage der Ostpolitik der EU betrifft, so sollte beachtet werden, dass Polen und nicht Frankreich oder Deutschland an die Ukraine grenzt.

In der jüngsten Zeit setzte in der polnischen Presse beginnend mit einem Artikel in der Tageszeitung "Rzeczpospolita" (1. Juni 2004, Autor Krzysztof Iszkowski) eine heftige Diskussion über die weitere Entwicklung der polnisch-ukrainischen Beziehungen ein. Die These des Verfassers, wonach Polen zu wenig Interesse an einer Einbindung der Ukraine in die EU zeige, und die Argumente für eine Annäherung zwischen der Ukraine und Russland trafen auf deutliche Kritik aus den verschiedensten Lagern. Auf jeden Fall ist das der Anfang einer ernsthaften Diskussion darüber, wie die polnisch-ukrainischen Beziehungen unter den neuen geopolitischen Bedingungen auszusehen haben und welche Politik Polen gegenüber der Ukraine führen sollte. Die getroffene Wahl wird sicherlich die kommenden 10-15 Jahre beeinflussen und wird die weitere Gestaltung der Beziehung Polens zu seinen östlichen Nachbarn wesentlich gestalten. Diese Wahl wird zudem eine strategische sein für die Interessen und die Sicherheitslage Polens.

 

 

Über polnisch-ukrainische Beziehungen - Bemerkungen aus gegebenem Anlass

Holger Politt

 

Nicht zu übersehen ist das Bemühen Polens, in der europäischen Öffentlichkeit zunehmend als strategischer Partner der Ukraine zu erscheinen. Lange Zeit wog man sich an der Weichsel offiziell gar in dem sicheren Gefühl, ohne die Mittlerrolle Polens könne es keine rechten gedeihlichen politisch-gesellschaftlichen Beziehungen zwischen "dem Westen" und der Ukraine geben. Zudem wurde überall Glauben gemacht, Warschau sei in Sachen "europäischer Belange" Kiews bester Anwalt. Die Adressaten im "Westen" fallen tatsächlich in auffälliges Schweigen, sobald Warschau das Gewicht der besonderen historisch-kulturellen und biographischen Beziehungen zu seinem östlichen Nachbarn in den Ring wirft. Der Schlüssel für die zukünftige Gestaltung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine jedenfalls, so die nicht zu überhörende Botschaft, habe sich künftig in Warschau zu befinden. Damit soll der Anspruch untermauert werden, bei der Gestaltung einer EU-Ostpolitik eine entscheidende Rolle zu spielen. Das schlichte Argument scheint sich von alleine zu verstehen: Ohne ausreichende Würdigung der Unabhängigkeit der Ukraine werde sich die EU-Ostpolitik einseitig und übertrieben wie bisher nach Moskau ausrichten. Für eine solche neue Gewichtung der Akzente seien die historische Erfahrung Polens, die räumliche Nachbarschaft, die vielfältigen historisch-kulturellen Überschneidungen und die sprachliche Verwandtschaft von ausschlaggebender Bedeutung.

Doch die polnische Presse schlug im Sommer 2004 Alarm. Die polnische Außenpolitik - so meint man auf den Spalten seriös geltender Tageszeitungen - laufe Gefahr, das Rennen am Dnepr zu verlieren. "Rzeczpospolita" etwa titelte auf der Wirtschaftsseite: "In Kiew gewinnt Moskau das Rennen mit Warschau." (9. Juli 2004). Verwiesen wird etwa auf das Handelsvolumen der Ukraine, welches mit Russland achtmal größer ist als dasjenige mit Polen. "Je länger gesagt wird, dass zwischen Polen und der Ukraine eine strategische Partnerschaft bestehe, desto länger kultivieren wir eine Fiktion." Im anschließenden Kommentar wird süffisant darauf verwiesen, dass auch die westliche Geschäftswelt in Kiew wunderbar zu Recht komme ohne polnische Hilfe oder Vermittlung. Drastischer titelte die "Gazeta Wyborcza" in großen Lettern nach einem russisch-ukrainischen Gipfeltreffen auf der Krim: "Jalta 2004" (27. Juli 2004). Die Ukraine, so der Kommentar, habe mit einer Kehrtwende den auf Stärkung der Unabhängigkeit gerichteten Pfad bis auf weiteres verlassen. Polens ständige Mahnungen an den "Westen", klare Position zur Ukraine könne nicht auf Moskauer Befindlichkeiten Rücksicht nehmen, seien ungehört verschallt. Konfrontiert mit einer Mauer aus Gleichgültigkeit und der unlängst eingeführten Visumpflicht nach Polen gerate die Ukraine unweigerlich wieder in den Einflussbereich Russlands.

Die aus Brüssel zu vernehmenden klaren Worte, wonach mittelfristig an eine weitere Erweiterungsrunde über den Bug hinaus nicht zu denken sei, halten Vertreter beinahe aller politischen Lager an der Weichsel für ein strategisch falsches Zugeständnis an Moskau. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Stellung zur Belarus wieder an Bedeutung, wovon ein offener Brief zeugt, in dem namhafte polnische Intellektuelle kürzlich die europäische Öffentlichkeit auf Parallelen zwischen dem Irak Hussains und der Belarus Lukaschenkos aufmerksam zu machen versuchen. Immer öfter drohen Zufälligkeit und Willkür des subjektiven Gefühls und Meinens die Debatte zu beeinflussen. Das bezieht sich auch auf ein scheinbar sehr rationales Argument: Die durch die Sowjetunion lange Zeit unterdrückten Völker wollen ihre wiedererlangte Souveränität endlich ausleben. Dabei wollen sie sich nicht am Gängelband neuer "Lehrmeister" geführt sehen. So die klare Botschaft an den "Westen". Wird das Argument aus polnischer Sicht verwandt, bleiben die USA von dieser Kritik ausgenommen. Zudem tritt man gegenüber den Gesellschaften östlich des Bugs gerne selbst als "Lehrmeister" etwa in Sachen Demokratie und Bürgergesellschaft auf. Ein sehr gutes Beispiel für diesen Diskussionsstil bietet Marek Siwiec, Abgeordneter im Europaparlament und Vorsitzender der parlamentarischen Kommission EU-Ukraine, der kurz vor den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine im Oktober 2004 folgende aus heutiger Sicht aufschlussreiche Position vertrat: "Damit ein Durchbruch erzielt, damit ein imponierendes politisches und wirtschaftliches Reformpaket auf den Weg gebracht werden kann, müsste ein starker gesellschaftlicher Rückhalt her. In der heutigen Ukraine aber ist ein solcher Rückhalt nicht zu erkennen. Eine Mehrheit der Ukrainer zeigt sich - ob es uns gefällt oder nicht - einverstanden mit den herrschenden Zuständen im Land, auch wenn vielleicht nicht von völliger Akzeptanz geredet werden sollte. Auf jeden Fall ist die Situation bei unserem östlichen Nachbarn weit davon entfernt eine revolutionäre zu sein. Es gibt in der Ukraine keine Unzufriedenheit in einem Maße, aus der heraus einem Anführer die Schaffung einer die Mitbürger zu wirklichen Veränderungen mitreißenden Protestbewegung ermöglicht wäre. Nur in einem solchen Fall aber wären dramatische Änderungen nach den Wahlen zu erwarten." ("Trybuna", 13. 10. 2004)

Nun wird die Hoffnung auf zwei Dinge gelegt: Erstens darauf, dass Polens Markt nach erfolgtem Beitritt zur EU aus Sicht der Ukraine attraktiver werden wird. Das wäre ein Argument, dem in Brüssel sich keiner verschließen könne. Zweitens auf die mit dem Ausgang der Präsidentenwahl in der Ukraine zu erwartenden oder möglichen Änderungen in der grundsätzlichen Ausrichtung der ukrainischen Außenpolitik.

Polens eigenständiger Beitrag für eine künftige EU-Ostpolitik - so wird es mittlerweile fast überall herausgestellt - hat "Europa" an die Ende des 18. Jahrhunderts untergegangene Adelsrepublik (Rzeczpospolita) zu erinnern. Der Erweiterungsprozess der EU könne erst als abgeschlossen gelten, wenn alle früheren Gebiete der Rzeczpospolita (also neben Polen und Litauen folglich auch die Belarus und Teile der Ukraine) in ihr vereint sein werden. Die Verweise auf die besonders engen historischen und kulturellen Beziehungen meinen in erster Linie eine gemeinsame Vergangenheit, in der die polnische Kultur gegenüber den Kulturen der östlich des Bugs beheimateten nichtrussischen slawischen Völkern Hegemonialfunktion ausübte. Allerdings erstreckte diese Hegemonialfunktion sich im Falle der Ukraine niemals über den Dnepr hinaus. Anders gesagt: Aus der Tatsache der unmittelbaren Nachbarschaft, der engen historischen Beziehungen und der nicht in Abrede stehenden kulturellen Verwurzelungen werden politisch irrige Schlussfolgerungen gezogen. Jerzy Giedroyc - der 2000 verstorbene legendäre Herausgeber der in Paris bis zu seinem Tode erscheinenden "Kultura" und Verfechter der Aussöhnung zwischen Polen und seinen östlichen Nachbarn - hätte als unbestechlicher Kritiker dieser Tage über die Maßen zu tun gehabt.