Das Grün der Wälder in Osteuropa trügt!

Das Waldsterben ist nicht nur ein deutsches Phänomen, auch in Osteuropa ist die Zahl der geschädigten Bäume hoch, neue EU-Standards greifen nur langsam

Von Volker Schmidt

 

Kilometerweit erstrecken sich die polnischen Wälder. Vor allem im Osten des Landes führen die Straßen endlos durch dunkles Grün. Selbst Wölfe fühlen sich hier zu Hause. Der Bialowieza-Wald im Grenzgebiet zu Weißrussland ist einer der letzten Urwälder Europas. Laut der Statistik aber ist dieses Grün trügerisch: Von 100 polnischen Bäumen sind gerade mal acht gesund, dies geht aus einem UN-Bericht hervor, den das Statistische Bundesamt in Wiesbaden zum gestrigen "Internationalen Tag des Waldes" vorlegte.

 

"Die meisten Schäden sind für das ungeübte Auge nicht sichtbar", erläutert Rüdiger Rosenthal vom Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND), "gelichtete Kronen bei Nadelbäumen etwa. Beschädigte Laubbäume werden oft gleich geschlagen, so dass die Schäden nicht sichtbar werden." Bereinigung der Statistik durch Abholzen nennen Umweltschützer das in zynischen Momenten.

In vielen osteuropäischen Ländern sind nach Angaben der UN-Statistiker rund 90 Prozent des Waldes geschädigt. Der Grund: Die veraltete Industrie stößt große Mengen von Stickoxiden und Schwefeldioxid aus, den Grundbestandteilen des "sauren Regens" mit seinen schwefligen Säuren. "Polen hat viel Chemieindustrie und gewinnt seine Energie bisher zum großen Teil aus Braunkohle", erklärt BUND -Sprecher Rosenthal. Ähnlich ist die Lage in Tschechien und der Slowakei. In Polen konstatiert die Statistik zudem eine im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geringe Niederschlagsmenge, was die Wälder zusätzlich belastet.

Die Schadstoffe aus den Industrieländern des Ostens verbreiten sich auch in die Nachbarstaaten: So weist auch das industriearme Agrarland Litauen mit 87 Prozent geschädigtem Baumbestand hohe Schäden auf. Rumänien dagegen hat laut statistischem Bundesamt den gesündesten Wald in Europa, nur rund ein Drittel ist krank: Die großen Wälder liegen weit abseits der Industriegebiete in den Karpaten.

Bei genauerem Hinsehen relativiert sich der erschreckende Befund etwas. In Polen werden die Bäume, ähnlich wie andernorts, in fünf Schadensklassen eingeteilt, von "ohne Schäden" bis "abgestorben". An der Statistik lässt sich zwar für die erste Hälfte der 90er Jahre eine stetige Verschlechterung ablesen. 1994 hat sich die Entwicklung aber umgekehrt: Der Anteil der Bäume mit geringen Schäden ist seitdem deutlich angestiegen, die mittleren bis schweren Schäden gingen zurück. Und auch der Anteil der Bäume ohne jeden Schaden ist gestiegen: 1994 waren nur fünf Prozent kerngesund, heute sind es acht.

BUND-Sprecher Rosenthal sieht denn auch Licht am Ende eines langen Tunnels: "Durch die Integration der Länder in die europäische Union greifen strengere Emissionsstandards, das verbessert sich." Umstrukturierung der Wirtschaft, höhere Energieeffizienz und der allmähliche Umstieg von Kohle auf Erdöl und Erdgas haben in vielen EU-Beitrittsländern Kohlendioxid- und auch Schwermetallemissionen (Blei, Cadmium, Quecksilber) deutlich verringert. Auch bei Schwefeldioxid, Stickoxiden, Staub und Ruß ist der Ausstoß der Industrie gesunken;  in Tschechien etwa nahmen die Schwefeldioxid-Emissionen nach einer Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, OECD, zwischen 1987 und 1997 um 68 Prozent, die Stickoxid-Emissionen um die Hälfte ab. Ähnlich war die Entwicklung laut OECD in Polen. Bis aber niedrigerer Schadstoffausstoß an nachhaltig geringeren Waldschäden abzulesen ist, "das dauert 50, wenn nicht 100 Jahre - der Wald hat ein sehr langes Gedächtnis", sagt BUND-Sprecher Rosenthal.

Brüssel erlässt nicht nur schärfere Standards, die EU unterstützt die Abgasreinigung in Firmen und Kraftwerken der Beitrittsländer auch finanziell. Die Vergabe ist aber "sehr bürokratisch organisiert, was zu Missbrauch führt", sagt der Vorsitzende der litauischen Umweltorganisation Atgaja, Saulius Piksrys. Oft prüften nationale Ämter und EU-Behörden nur oberflächlich und kenntnisarm, welche Projekte sie fördern. Umweltschützer in Osteuropa plädieren daher für Zusammenarbeit mit örtlichen Nichtregierungsorganisationen. Das Regional Environment Center für Central and Eastern Europe mit Hauptsitz in Ungarn bemüht sich mit Unterstützung der EU-Kommission um die Vernetzung.

Ein Gegentrend bereitet den Umweltschützern zusätzlich Sorge: eine Zunahme der Emissionen aus dem, was die Statistik "mobile Quellen" nennt - Autos also. Der Individualverkehr in den osteuropäischen Ländern nimmt mit dem Wohlstand zu. Uralte Import-Gebrauchtwagen aus Westeuropa verkauften sich in den vergangenen Jahren hervorragend in die Länder des ehemaligen Warschauer Pakts; inzwischen haben einige Staaten Altersgrenzen für die Einfuhr erlassen. Obwohl die Autos einen geringeren Schadstoffausstoß haben als viele Fahrzeuge aus der Sowjetzeit und inzwischen der Trend zu neueren Autos als Statussymbol geht: Die schiere Anzahl der Pkw ist dafür verantwortlich, dass in Polen und Tschechien die Schadstoffkonzentration immer noch mit die höchste im europäischen Vergleich ist.

Osteuropäische Umweltschützer schimpfen hinter vorgehaltener Hand auf ihre Landsleute: Die Staaten hätten eine Art "Halbstarken-Phase" erreicht, und da gehörten die eigenen vier Räder zum Imponiergehabe. Zudem nimmt mit dem Konsum die Zahl der Lkw zu. Das weiter wachsende Verkehrsaufkommen werde in Zukunft möglicherweise sogar die Emissionsverringerung der "stationären Quellen", Industrie und Heizung also, überkompensieren, fürchtet das bayerische Umweltministerium, das besonders auf das benachbarte Tschechien ein Auge hat.

Das Waldsterben hatte Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre großes Aufsehen erregt. Damals rief die Welternährungsorganisation den 21. März zum "Tag des Waldes" aus. Seither ist das Waldsterben wieder von den Titelblättern der Nachrichtenmagazine verschwunden. Einen Grund für Entwarnung gibt es aber auch in Deutschland bei weitem nicht: Mehr als zwei Drittel der Bäume sind krank.