Die Reise nach Samosch

Ein Roman von Michael Zeller

Von Antje Jonas

 

Michael Zeller ist noch immer ein wenig bekannter Autor, nichtsdestotrotz ein unbedingt lesenswerter, denn seine Texte sind bemerkenswert! Das gilt in besonderer Weise  für die Bücher, in denen Michael Zeller Geschichten über polnische Realitäten erzählt. Empfohlen seien an dieser Stelle sein Roman „Cafe Europa“ (1994) sowie der Erzählband „Noch ein Glas mit Pan Tadeusz“ (2000). 

 

Der neueste Roman aus der Werkstatt des Schriftstellers und des viel in Polen und in Osteuropa Umherreisenden heißt „Die Reise nach Samosch“ und ist dem Titel zum Trotz kein klassischer Reiseroman.

In übertragenem Sinne aber könnte die Handlung sehr wohl als eine Reise verstanden werden, als eine Zeit- Reise, die im Zweiten Weltkrieg beginnt und in den 90er Jahren endet. In fünf Monologen kommen sehr unterschiedliche Personen zu Wort, die sich mit ihrer Geschichte direkt an das Lesepublikum wenden; so suggeriert der „unsichtbare“ Autor dem Leser, dass er die Tagebuchaufzeichnungen im Original lesen oder in realer Zeit den einzelnen Figuren zuhören würde.

Am Anfang des Buches stehen Erikas Tagebuchaufzeichnungen, die am 27.Mai 1940 einsetzen. Ein junges, musikalisches Mädchen verliebt sich in den Soldaten Hellmuth Anschütz. Doch Anschütz ist in Polen stationiert; die Jugendliebe zerbricht vor dem Hintergrund der Kriegsereignisse und der Flucht des Mädchens  angesichts der heran nahenden sowjetischen Truppen. Aus dem Tagebuch spricht das Pathos ihrer Jugend genau wie auch das der Kriegsbegeisterung dieser Generation.

Den zweiten Monolog hält der Maler Bernhard Rost. Rost reflektiert seine gerade beendete Beziehung zu Nina, seiner ehemaligen Schülerin. Er begibt sich nach Lauenburg an der Elbe und richtet sich in einem gemieteten Atelier ein. Dieses Atelier gehört dem Maler Anschütz, dem Sohn des ehemaligen Soldaten und Germanisten Hellmuth Anschütz. Rost lernt in Lauenburg einen alten Mann kennen; dessen Erzählungen lassen Erikas Biographie wieder in Erscheinung treten.

Im dritten  Monolog stellt sich in Form eines Interviews der exzentrische und sympathische Galerist KaDeWe vor, ein Freund der Familie Anschütz. Seine Begeisterung für die Malerei und die Bilder der bereits bekannten Maler Anschütz und Rost  teilt er in einer sehr lebendigen Sprache mit, so dass der Leser die Bilder vor sich zu sehen glaubt.

Im nachfolgenden Abschnitt des Buches tritt der Maler Anschütz auf; er beschreibt seine Kindheit in den 50er Jahren in Frankfurt am Main. Er erinnert sich an seinen geheimnisvollen Vater, dem er sich sehr nahe fühlte, näher als der Mutter. Doch als der Vater stirbt, gibt die Mutter dem 18jährigen Jungen das Geheimnis um den Verstorbenen preis. Nicht der alte Anschütz, sondern ein polnischer junger Künstler ist der leibliche Vater des Jungen. Sie, die Mutter, hatte sich in Breslau  in einen jungen Polen verliebt. Janusch arbeitete im Untergrund; sie sah ihn nie wieder. Nach dem Krieg kam sie mit dem Baby nach Frankfurt und lernte dort ihren späteren Mann kennen.

Im fünften Monolog des Buches schließlich kommt der Enkel von Hellmuth Anschütz, Sebastian, zu Wort. Erst der Enkel findet den Weg nach Polen, er will nach Samosch (der Name ist dem der ostpolnischen Stadt Zamoœæ entlehnt) und kommt doch nur bis nach Krakow, wo er sich in eine polnische Studentin verliebt. Er beginnt, nach Spuren des polnischen Künstlers Janusch, der Jugendliebe seiner Großmutter, zu suchen und setzt sich mit seiner eigenen Familiengeschichte und Identität auseinander.

Die fünf Monologe präsentieren mittels der erzählten Ereignisse und der sprachlich differenzierten Gestaltung fünf Epochen der jüngeren deutschen Vergangenheit, die ohne die Verbindung zum Schicksal des polnischen Volkes nicht erzählt werden kann. Der Autor protokolliert gleichsam menschliche Begegnungen zwischen Deutschen und Polen aus den Tagen des Zweiten Weltkrieges, deren Spuren noch zwei Generationen später sichtbar und spürbar sind. „Die Reise nach Samosch“ ist literarisch ein sehr gelungenes Buch, das die schmerzliche Vergangenheit mit einer vielschichtigen Gegenwart verknüpft und die Normalität einer deutsch-polnischen Nachbarschaft in einem vereinigten Europa aufscheinen lässt.

Michael Zeller, Die Reise nach Samosch, Roman, ars vivendi verlag Cadolzburg - 2003, zweite Auflage 2004 - 257 Seiten - 17,90 €, ISBN 3-89716-374-8