I. Tag der Heimat 2005 am 6. August 2005 Wir dokumentieren im Folgenden wichtige Auszüge der Reden auf dem Tag der Heimat in der Reihenfolge wie sie im Internet vom BDV dokumentiert werden sowie einige Stimmen aus Polen:

 

Tag der Heimat 2005 am 6. August 2005

Rede der Präsidentin Erika Steinbach MdB 

 

(…) Vor sechzig Jahren ging der schrecklichste Krieg, den die Menschheit je durchlitten hat, in Europa zu Ende. Aus unterschiedlichen Perspektiven blickt die Welt seit Monaten dorthin zurück.

Mit Ende dieses mörderischen Zweiten Weltkrieges atmeten nicht nur die Menschen in unseren Nachbarländern auf, sondern auch für weite Teile der deutschen Bevölkerung war es die Erlösung von allgegenwärtiger Angst um Brüder, Väter oder Söhne im Krieg, Angst vor Bombardements, Angst vor den feindlichen Truppen, Angst vor Bespitzelung und Denunziation im eigenen Lande. Das Grauen der nationalsozialistischen Diktatur, für das Auschwitz zum Synonym wurde, fand ein Ende. (…)

Menschlichkeit und Menschenwürde waren aber auch danach in weiten Teilen Europas über Jahre hinweg leere Worthülsen. Unmenschlichkeit und Grausamkeit an Schuldlosen waren noch immer nicht verbannt. (…) Kopelew sah, dass der "wohlverdiente Rattentod Hitlers" den westlichen europäischen Völkern wohl Erlösung brachte, dass aber "der unverdiente, mit 30 Millionen Menschenleben bezahlte Triumph Stalins die Welt mit neuen tödlichen Gefahren überzogen hatte, die neue unsagbare Leiden und Verderben für die Länder in Ost- und Mitteleuropa brachten."

Deutschland war von beidem betroffen. Es war, wie Theodor Heuss, sehr treffend formulierte "Erlöst und vernichtet in einem". Der westliche Teil konnte sich sehr bald als befreit fühlen. Mittel- und Ostdeutschland aber gerieten unter die kommunistische Knute.

Jeder hier im Saale und in Deutschland weiß, wer den Zweiten Weltkrieg begonnen hat. Daran braucht man uns am wenigsten zu erinnern. Die deutschen Heimatvertriebenen haben dafür dramatischer als andere Deutsche die Folgen zu tragen gehabt. Ja, es war Adolf Hitler, der die Büchse der Pandora geöffnet hat. Ein Behältnis, voll gefüllt mit Unmenschlichkeit und Gewalt. Es war eine schreckliche Herrschaft, erst über das eigene Volk, dann über ganz Europa mit dem singulären Holocaust. Danach aber hätten doch Menschlichkeit und Völkerfrieden einkehren sollen. Das glatte Gegenteil war über viele Jahre hinweg der Fall. Wichtige Anklagepunkte, die vor dem Internationalen Nürnberger Kriegsverbrechertribunal gegen nationalsozialistische Verantwortungsträger verhandelt wurden, nämlich Zwangsarbeit, Deportation, Bevölkerungsumschichtung geschahen nahezu gleichzeitig mit dem Nürnberger Prozess in Europa ein weiteres Mal. (…)

Ich bitte Sie, sich zu einer Gedenkminute zu erheben.

Wir denken an die Heimat, an die Heimat der Eltern und Großeltern.

Wir werden sie in unseren Herzen bewahren.

Wir gedenken der Großeltern und Eltern, der Ehefrauen und Verlobten, Schwestern, Brüder und Kinder, die auf der Flucht ihr Leben lassen mussten, weil die Straßen verstopft und verschneit waren und die Panzer sie überrollten.

Wir gedenken derer, die das Eis nicht hielt, das über dem Haff und den Flüssen gefror und von Waffen gesprengt wurde.

Wir gedenken derer, über denen die Wellen zusammenschlugen und die in den eisigen Fluten versanken, als sie auf Schiffen der todbringenden Front entfliehen wollten.

Wir gedenken der Verhungerten und Verdursteten, derer sich keiner erbarmte.

Wir gedenken der Frauen, Männer und Kinder, die verschleppt wurden und seitdem verschollen sind.

Sie blieben an irgendeiner Landstraße liegen und wurden erschossen.

Sie verschwanden am Rande der Bahntrassen in den Weiten Sibiriens unter einer Schneedecke.

Wir gedenken aller, die in Todeslagern ihr Leben lassen mussten oder durch Massaker umgebracht wurden.

Wir gedenken derer, die sich für die Heimat einsetzten und inzwischen von uns gegangen sind.

Wir gedenken in Dankbarkeit der Männer und Frauen anderer Völker, die ungeachtet eigener Gefahr Hilfe geleistet haben.

Keine Vertreibung darf als Verbrechen gegen die Menschheit vergessen werden, nur weil der äußere Frieden, der auf Unrecht gründet, falsche Normalität suggeriert. Solange die Unrechtsfolgen der Vertreibungen nicht ehrlich und schonungslos beim Namen genannt werden, wird es immer wieder Vertreibungen geben. Das gilt für immer noch Hunderttausende Vertriebene und Flüchtlinge in Ex-Jugoslawien, die bis heute nicht zurückkehren konnten - Bosniaken, Kroaten, Kosovaren, aber auch viele Serben - das gilt für Zypern, das gilt für den Sudan, das gilt für Tschetschenien, das gilt für den Genozid an den Armeniern vor neunzig Jahren und es gilt auch für die deutschen Vertriebenen. 

(…) Relativiert die Trauer um unsere Opfer die deutsche Verantwortung für den Nationalsozialismus? Ist unsere Trauer und das Erinnern an millionenfaches deutsches Leiden ein Schlupfloch aus unserer eigenen Verantwortung, die die Geschichte uns aufgegeben hat? Schreibt diese Trauer die Geschichte um? Nein! (…)

Unser kulturelles Erbe ist voller Substanz und tiefer Kraft. Es hat über eine unmenschliche Mauer und Grenze, trotz Stacheldraht, Tellerminen und Schießbefehl, trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme über Jahrzehnte hinweg unsere gemeinsame nationale Identität getragen. Dieses Erbe hat uns den Weg aus der Isolation und dem Abseits nach 1945 erleichtert. Mit weitem Herzen und offenen Sinnen müssen wir erkennen, aus welchen Wurzeln sich dieses Erbe speist. "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen", lässt Goethe seinen Faust deklamieren. Dazu gehört unverzichtbar das kulturelle Erbe der Vertriebenen. (…)

Wir wollen erinnern,

wir wollen bewahren und

wir wollen mit dem Zusammenfügen von Vergangenheit und Gegenwart

die Zukunft gewinnen.                    

 

 

Rede der Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Vorsitzenden der CDU,

Dr. Angela Merkel

(…) Es sind aber auch 60 Jahre nach dem Beginn von Flucht und Vertreibung, fast auf den Tag genau 60 Jahre nach dem Ende der Potsdamer Konferenz und ebenso fast auf den Tag genau 55 Jahre nach der Proklamation der "Charta der deutschen Heimatvertriebenen".

Das erinnert uns daran, dass die Befreiung Europas und auch Deutschlands vom Nationalsozialismus damals für viele Deutsche keineswegs anbrechende Freiheit und das Ende von Leid bedeutete. In der östlichen Hälfte Europas und in Mittel- und Ostdeutschland übernahm eine neue totalitäre Diktatur die Herrschaft.

Wir müssen die Geschichte von Flucht und Vertreibung als Teil unserer gesamtdeutschen Geschichte ansehen und wir müssen sie weitervermitteln. Dies gehört für mich

zum historischen Bestand unserer Nation und zu einer zukunftsfähigen Kultur des Erinnerns.

Dies hat nichts mit einer Umschreibung der Geschichte zu tun. Niemand von uns leugnet die Ursächlichkeit der NS-Herrschaft für Krieg und Vertreibung. Niemand leugnet die fortdauernde Verantwortung des heutigen Deutschlands dafür, dass Diktatur und Krieg sich nicht wiederholen dürfen. (…)

Bei einer wahrhaftigen Erinnerung muss es dann auch im Zusammenhang mit der Vertreibung erlaubt sein, Unrecht Unrecht zu nennen.

Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten war Unrecht. Sie kann ohne den vorangegangenen Vernichtungskrieg, den das nationalsozialistische Deutschland begonnen hatte, nicht gedacht und nicht gewogen werden, das wissen wir. Aber das ändert nichts daran, dass es für Vertreibung weder eine moralische noch politische Rechtfertigung gibt. Es ändert nichts daran, dass sie völkerrechtswidrig war.  (…)

Die "Charta der Heimatvertriebenen" war ein herausragendes Friedenswerk. Dies ist ein großes historisches Verdienst, für das Ihnen auch heute noch Dank und Anerkennung gebührt.  (…)

Sie, die Heimatvertriebenen, haben die Charta aber auch mit Leben erfüllt.

In den sechs Jahrzehnten nach Flucht und Vertreibung haben sich die deutschen Heimatvertriebenen immer wieder, nicht nur am "Tag der Heimat", zu ihrer Heimat im Osten bekannt. Das bedeutete für sie, ihre Kultur zu wahren und zu pflegen.

Sie haben sich über viele Jahre, manche über Jahrzehnte, zum Wohl der Heimatvertriebenen, der deutschen Spätaussiedler und der deutschen Minderheiten eingesetzt.

Für diesen Einsatz danke ich Ihnen ganz persönlich. Denn der Einsatz für Vertriebene und Flüchtlinge ist Dienst an unserem Vaterland, an deutscher Geschichte. Er ist Einsatz für die Bewahrung und Fortentwicklung deutscher Kultur.

Aber Sie gingen auch weiter. Sie haben Kontakte geknüpft zu den in der alten Heimat verbliebenen Deutschen wie zu den neuen Bewohnern. Sie sind zu Botschaftern der Verständigung und Versöhnung in Europa geworden.

Auch dafür gilt mein Dank, und ich möchte ihn an dieser Stelle besonders an Sie, Frau Steinbach richten - für ihren Einsatz, Ihr stetes Bemühen, Ihre Aufrichtigkeit und Ihre klare Haltung.  (…)

Für uns gilt auch künftig: Der Artikel 116 Grundgesetz steht nicht zur Disposition. Die von Teilen der FDP beabsichtigte Abschaffung und damit die Beendigung der Aufnahme deutscher Spätaussiedler entspricht nicht unserer Auffassung. Es ist allerdings auch klar, dass wir unsere Integrationsanstrengungen noch verstärken und Missbrauch begegnen müssen.  (…)

CDU und CSU haben über sechs Jahrzehnte ihren Beitrag geleistet, die Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen wach zu halten. Dies gilt insbesondere in den Jahren, als sonst niemand über das Thema sprechen wollte und man sich zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt sah. Dies hat sich glücklicherweise deutlich geändert. Standhaftigkeit zahlt sich aus, wenn sie maßvoll im Ton und der Sache, aber fest in der Richtung betrieben wird.

Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten die feste Verankerung Deutschlands in Europa erreicht. Der Kontinent hat seine Spaltung überwunden, die Bundesrepublik hat dies mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften unterstützt. Deutschland lebt in Frieden und guter Freundschaft mit allen seinen Nachbarn.

Seit Konrad Adenauer hat die Aussöhnung mit Polen den gleichen politischen und moralischen Stellenwert wie die Aussöhnung mit Frankreich. Dies hat auch künftig unter einer von mir geführten Bundesregierung Bestand. Hier können unsere Nachbarn die Union auch künftig an ihren Taten messen.

Dies gibt uns aber auch das Recht, jenen zu widersprechen, die in der Erinnerung an das Leid der Heimatvertriebenen ein Indiz für Aufrechnung oder eine Umschreibung der Geschichte sehen wollen.

Deshalb unterstützte ich ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin, in dem die Erinnerung an jene Tragödie und die ausgestreckte Hand der Versöhnung gemeinsam sichtbar werden.

Geplant ist ein Zentrum der Aufarbeitung, der Dokumentation und Darstellung. Es ist auch Ort der Dokumentation eines schlimmen historischen Irrtums; des Irrtums, durch die zwangsweise Schaffung sog. ethnisch reiner Gebiete Konflikte vermeiden zu können.  (…)

Die Einbindung in ein europäisches Netz von Erinnerungsstätten halte ich für wichtig, die Konzeption des Zentrums steht dem ausdrücklich nicht entgegen.

Ich begrüße die Ideen, Vertreibungszentren in verschiedenen Städten Europas zu errichten - in Breslau, in Sarajewo, in Eriwan beispielsweise - als Orte jeweils nationaler Erinnerung über unvergleichliche Verbrechen der europäischen Vertreibungen. Diese Zentren könnten untereinander Ausstellungen, Wissenschaftler und Forschungsergebnisse austauschen und sich somit ergänzen. Das wünsche ich mir.  (…)

Vor diesem Hintergrund vermag ich die Kritik an dem Projekt nicht zu teilen. Sorgen in anderen Ländern, insbesondere in Polen, nehme ich ernst. Selbstverständlich gibt es dort einen berechtigten Erklärungsbedarf. Wir haben aber alle Argumente, diese Sorgen auszuräumen, das ist meine feste Überzeugung.

Entschädigungsforderungen, wie sie etwa die Preußische Treuhand vorträgt, rufen dagegen in Polen neue Angst hervor. Für sie gibt es, lassen Sie mich das an dieser Stelle klar und deutlich sagen, von uns keine politische Unterstützung. Ich freue mich auch, dass die Führung des Bundes der Vertriebenen das genauso sieht.           

 

 

Rede von Bundesinnenminister

Otto Schily

 

(…) Aus Deutschland flohen in den Jahren 1933 bis 1939 mehr als 350.000 jüdische Menschen vor den Verfolgungen des NS-Regimes. Eine Million Polen und rund 300.000 Juden wurden nach der Eingliederung der polnischen Westgebiete in das Deutsche Reich 1939/40 in das sogenannte "Generalgouvernement" abgeschoben. (…) Im Zweiten Weltkrieg wurden von den Nationalsozialisten aus den besetzten Gebieten Millionen von Menschen als "Fremdarbeiter" deportiert und zur Sklavenarbeit in der deutschen Rüstungswirtschaft zwangsverpflichtet. (…)

Anfang des Jahres 1945 begann mit den Flüchtlingstrecks der Bevölkerung aus den deutschen Ostgebieten vor der näher rückenden Front eine der größten Flüchtlingsbewegungen der Nachkriegsgeschichte, die mit der Vertreibung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Kriegsende einen weiteren Höhepunkt erreichte. Mehr als fünfzehn Millionen Deutsche mussten flüchten, wurden vertrieben oder verschleppt; mehr als zwei Millionen Menschen verloren dabei ihr Leben.

Der Historiker Heinrich August Winkler beschreibt in seinem Buch "Der lange Weg nach Westen" den Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen, die Teilung Polens, die beginnenden Massenmorde an Juden und der polnischen Intelligenz und die Massen-Deportationen von Polen, Juden und Roma und Sinti. Deutsche Wissenschaftler unterstützten das Hitler-Regime bei der sogenannten "Umvolkung". Eine Schlüsselrolle spielten dabei die bereits 1931 gegründeten Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften. Ein aktives Mitglied dieser Forschungsgemeinschaft war ein Königsberger Historiker namens Theodor Schieder. Theodor Schieder, dem leider später die Hauptarbeit bei der Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa anvertraut wurde, dieser Theodor Schieder legte am 7. Oktober 1939 ein Gutachten vor, in dem er die Annektierung weiter Teile Polens als "Wiedergutmachung eines offensichtlichen politischen Unrechts" bezeichnete und dafür "Bevölkerungsverschiebungen allergrößten Ausmaßes" für notwendig erklärte.

Eine Umsiedlung der Polen sollte vorzugsweise nach Übersee erfolgen, eine Aufnahme der "ausgesiedelten" Polen in das sogenannte Generalgouvernement sollte nur bei "Herauslösung des Judentums" möglich sein. Wörtlich hieß es in dem Gutachten: "Die Entjudung Restpolens und der Aufbau einer gesunden Volksordnung erfordern den Einsatz deutscher Mittel und Kräfte und bringen die Gefahr der Entwicklung einer neuen polnischen Führerschicht … mit sich." Das war eine der theoretischen Grundlagen für das, was das Nazi-Regime in unvorstellbarer Brutalität in Polen und anderen ostmitteleuropäischen Ländern praktizierte: Die Polen wurden als Untermenschen behandelt, ihre Führungsschicht wurde zu großen Teilen vernichtet.

Die Verbrechen des Nazi-Regimes schlugen mit ungeheurer Wucht auf Deutschland und die Deutschen zurück. Unbestreitbar waren in diesem Sinne die Vertreibungen eine Folge des Krieges, den Deutschland begonnen hatte - eine von den Siegermächten politisch gewollte Folge, aber keineswegs ein zwangsläufige und erst recht keine rechtlich oder moralisch zu rechtfertigende Folge. Die Vertreibung von Millionen unschuldiger Menschen, von Frauen und Kindern, Alten und Kranken, lässt sich nicht durch die Verbrechen eines terroristischen Regimes rechtfertigen.

Die Vertreibung war eindeutig Unrecht. (..) 

Die Bundesregierung ist unverändert - wie alle Bundesregierungen vor ihr - der Auffassung, dass die Vertreibung und die im Zuge dieser Vertreibung erfolgte entschädigungslose Enteignung Deutscher völkerrechtswidrig waren. Diese Feststellung darf uns allerdings nicht dazu verführen, uns mit unseren ostmitteleuro-päischen Nachbarn in sinnlose und aussichtslose vermögensrechtliche Streitigkeiten zu verstricken, die die beiderseitigen Beziehungen sehr belasten und die vielfältige Zusammenarbeit in Frage stellen würden. Die Bundesregierung wird daher weder heute noch in Zukunft im Zusammenhang mit der Vertreibung und entschädigungslo-sen Enteignung von Deutschen Vermögensfragen aufwerfen.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat 1985 in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes erklärt: "Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu geben. Es heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen."

Das Verständigungsgebot muss absoluten Vorrang haben. Wer, gleich auf welcher Seite, ob als "Preußische Treuhand" oder als "Polnische Treuhand", die inzwischen sehr guten Beziehungen zwischen Deutschland und Polen durch finanzielle Forderungen gefährden will, dem muss von einer verantwortungsvollen und verständigungsorientierten Politik entschieden entgegentreten werden. Er sollte zugleich auch den Widerspruch all jener Vertriebenen finden, die in den vergangenen Jahrzehnten den meist beschwerlichen aber durchaus erfolgreichen Weg der Begegnung, des Gesprächs und der Versöhnung gegangen sind. (…)

Wie schwierig es ist, geistige Pionierarbeit über Grenzen und historische Gräben hinweg zu leisten, zeigt der Streit um das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen". Das Vorhaben ist vom Grundsatz her unterstützenswert, wenn es als europäisches Projekt und nicht als isolierte deutsche Veranstaltung geplant und umgesetzt wird. Nur als europäisches Projekt wird es weitreichende politische Verwerfungen vermeiden und den richtigen historisch-politischen Kontext finden. (…)

Im Mai dieses Jahres hat die tschechische Stiftung Charta 77 den František-Kriegel-Preis für Zivilcourage erstmals an eine Ausländerin verliehen. Die Sudetendeutsche Maria Machnig (...) wurde stellvertretend für alle Sudetendeutschen geehrt, die sich dem Hitler-Regime entgegengestellt haben. Als beachtliche Geste sollten wir auch werten, dass vor wenigen Tagen in Anwesenheit des stellvertretenden tschechischen Außenministers in Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem) eine Gedenktafel für die sudetendeutschen Opfer des 31. Juli 1945 eingeweiht worden ist. Zudem wird die geplante Errichtung eines "Collegium Bohemicum" in Aussig der Erforschung und Dokumentation der Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern dienen. Auch der jüngste Besuch von Johann Böhm als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Lidice und Theresienstadt ist ein Beitrag zur Versöhnung und zur wechselseitigen  Wahrnehmung erlittenen Leids.  (…)                                   

 

II. Polnische Stimmen

 

"Berliner Zentrum nicht im Interesse Deutschlands"

Polens ehemaliger Außenminister Bronislaw Geremek warnt vor einer Vertriebenen-Debatte im Wahlkampf

 

DIE WELT: Die Demokratische Partei Polens, der Sie angehören, hat jetzt die Planung eines Zentrums der Versöhnung in Breslau bekannt gegeben. Warum ein solches Projekt angesichts des Streits, den bereits andere Initiativen wie das geplante Berliner Zentrum gegen Vertreibungen auslösen?

Bronis³aw Geremek: Ich unterstütze die Initiative des Vorsitzenden der Demokratischen Partei, W³adys³aw Frasyniuk, sehr. Denn die Aussicht, daß die Realisierung des Zentrums gegen Vertreibung in Berlin immer wahrscheinlicher wird, bereitet mir große Sorge. Ich hatte auf die Entscheidung der Bundesregierung Schröder gesetzt, das Projekt von Erika Steinbach und dem Bund der Vertriebenen zu stoppen. Aber nun sieht es danach aus, daß es im Gegenteil künftig mit der Unterstützung der CDU/CSU auch die der deutschen Regierung bekommt.

Sie konnten aber nicht ernsthaft damit rechnen, daß Unionschefin Angela Merkel dem Bund der Vertriebenen in dieser Sache eine Unterstützung versagt?

Doch, das konnte ich. Denn solche Projekte sind nicht im Interesse Deutschlands, weil die Polen sie als gegen sich gerichtet empfinden. Ich habe immer gesagt, daß die deutsch-polnische Versöhnung nach 1989 ein Wunder unserer gemeinsamen Geschichte ist. Diese Analyse müßte ich zurückziehen, würde ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin errichtet. (…)

Zwei Wochen nach dem 18. September stehen auch Wahlen in Polen an. Was erwarten Sie nach einem möglichen Sieg des konservativen Warschauer Bürgermeisters Kaczyñski, der sagt, daß man das Konzept der Polen als Täter nicht akzeptieren werde.

Schon als Außenminister war ich immer wieder mit diesen Ideen konfrontiert. Es tut mir leid, das zu sagen, aber diese Ansätze gingen immer von deutscher Seite aus. Man sollte sich indes lieber auf die Prinzipien der Ära Adenauer und Brandt besinnen, deren Grundlage die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen war. Zugegeben ist es aber schwierig, entsprechende Reaktionen auf polnischer Seite einzudämmen.

Was bedeutet das für den anstehenden Wahlkampf in Polen?

Daß vielleicht erstmals seit 1989 das Thema der deutsch-polnischen Beziehungen in ungekannter Stärke instrumentalisiert wird. (…)

Angela Merkel kommt am 16. August nach Polen. Welche Aussagen wünschen Sie sich?

Daß sie als künftige Bundeskanzlerin dem Prinzip einer EU-orientierten Politik treu bleibt und die Achse Paris-Berlin-Moskau kein Bestandteil ihrer Politik sein wird. Daß sie die Wichtigkeit der deutsch-polnischen Versöhnung gerade mit Blick auf die junge Generation betont. Und daß sie dem Zentrum gegen Vertreibung in Berlin ihre Unterstützung entzieht.

Dafür ist es mit Blick auf das Parteiprogramm aber zu spät.

Ich sage ja auch nur, was ich denke. Politiker sollten Konsequenzen ziehen, wenn sie sehen, daß ihr Handeln negative Folgen hat.

Der rot-rote Berliner Senat hat angedeutet, einen Grundstückskauf durch den Bund der Vertriebenen zu unterbinden.

Unabhängig von der politischen Farbe ist jede Blockade willkommen, die einen positiven politischen Effekt hat und von der man sich Erfolg erhoffen kann.               

Aus: Die Welt vom 6. 8. 2005

 

Frau Steinbach und ihr Projekt sollte man einfach ignorieren und lieber sagen:

Janosch statt Erika

Von Nowojka Cieœliñska

 

Eins scheint sicher: Das "Zentrum" wird in Berlin entstehen und wenn Angela Merkel Kanzler wird (wonach es aussieht), wird es durch die BRD-Regierung unterstützt. Sicher ist auch, dass die Initiative für ein internationales "Zentrum" in Wroc³aw im Sande verlaufen wird und die Idee eines nichtnationalgebundenen Netzes miteinander zusammenarbeitender Institutionen, das sich der breit verstandenen Problematik der Vertreibungen annimmt, sich als eine Papierkorbinitiative erweist. (…)

Ich gehöre zu den Beobachtern der polnisch-deutschen Beziehungen, die vor zwei Jahren vor der Verwüstung warnten, die das Projekt von Erika Steinbach verursacht. Und wenn wir denn eine weitere Eskalation der polnisch-deutschen Beziehungen nicht wollen (…), bleibt uns nichts anderes übrig, als Frau Steinbach links liegen zu lassen und - was noch wichtiger ist - sich vollständig und konsequent von polnischer Seite aus von dem Berliner "Zentrum" zu distanzieren. Auf jeden Fall bis zu seiner Eröffnung.

Sollen die Deutschen, die das wollen (…) sich das "Zentrum" bauen. Sollen sie ein Konzept entwickeln und überlegen, wie sie die Vertreibungen der Deutschen zu den durch die Deutschen an den Juden, Polen, Tschechen, Russen begangenen Verbrechen, worunter deren Vertreibungen nicht einmal das Schlimmste waren, zueinander in ein Verhältnis setzen. Sollen sie die Kriterien entwickeln, entsprechend derer sie dieses vergleichen. Sollen sie sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie das Umsiedlungsprogramm der Nazis für die "arischen" Deutschen in die eroberten östlichen Gebiete im Rahmen des Konzeptes für einen deutschen Lebensraum darstellen. Sollen sie Kategorien deutscher Vertriebener definieren: Gehören zu ihnen die Flüchtlinge, die durch das III. Reich stationierten Soldaten und Beamte sowie deren Familien, einschließlich der dort zufällig geborenen Kinder? Und bis zu welcher Generation gilt man als Vertriebener? (…)

Solange CDU/CSU und FDP (…) das "Zentrum" gegen innerdeutschen und ausländischen Protest unterstützen, bedeutet es, dass sie es als eine innerdeutsche Angelegenheit betrachten und sie dafür die politische Verantwortung übernehmen. Das bedeutet insbesondere die Verantwortung für die Ausstellung des zukünftigen "Zentrums" wie auch seines Programms, das sowohl an die Deutschen wie an die Nachbarn gerichtet ist.

In dieser Situation ist es wichtig, dass sich keine polnische Institution und kein polnischer Historiker an der Umsetzung der Berliner Initiative beteiligt. Archivmaterial und historische Ausarbeitungen sowohl polnische wie auch gemeinsame sind bekannt und zugänglich, man kann sie also bei der Entwicklung der Ausstellung nutzen, [bei entsprechender Bezahlung für die Ausleihe bzw. Autorenrechte an die polnische Seite]. (…). (Die) Polen können nicht an der Realisierung einer Idee teilnehmen, deren Neutralität und historische Redlichkeit sie anzweifeln.

Wenn die von den Deutschen realisierte  Ausstellung beweist, dass die Bedenken und Zweifel unbegründet waren, werden die polnischen Fachleute und Politiker bestimmt gerne ihren mangelnden Glauben als Sünde anerkennen. Wenn jedoch die Befürchtungen über eine Relativierung der Geschichte und eine "Konkurrenz unter Opfern" sich als begründet erweist, dann hat sich die deutsche Regierung ein Problem geschaffen, das sie nicht ignorieren kann.(…)

Polnischen Politikern, die in der bei uns laufenden Wahlkampagne bereits mit Erika Steinbach drohen, schlage ich vor, anstatt ihr wieder Publicity zu verschaffen, eher den Wunsch von Janosch zu erfüllen, ihm die polnische Staatsbürgerschaft zuzuerkennen und für ihn eine Wohnung in seiner Heimatstadt Zabrze zu finden. Der geborene Schlesier, ein in Deutschland wie in Polen beliebter Kinderbuchautor, könnte so viele Erwachsene an der Spree und an der Weichsel in Erstaunen und Verzückung versetzen. Denn eins ist doch unbestreitbar: Ein gesunder Humor würde uns allen gut tun. (…)                                                    

TP Nr. 33 v. 14. August 2005, S. 3; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum

 

Was Merkel verspricht

Von Antoni Podolski

(…) Polen fühlt sich durch die Ostpolitik der sozialdemokratischen Regierung Gerhard Schröders gerinschätzt und ignoriert. Besonders beunruhigen nicht nur die persönlichen, engen Beziehungen des Kanzlers zu Präsident Wladimir Putin, sondern auch die damit einhergehende gemeinsame Politik beider Staaten, ob es den Irak angeht oder die für Polen so delikate Angelegenheit der Lieferung von strategischen Rohstoffen aus Russland. (…)

Diese vielleicht sogar aus deutschem Gesichtswinkel richtige Politik, ist - zu unserer Irritation - von einer außerordentlichen engen Verbrüderung zwischen Schröder und Putin begleitet. Als jüngstes Beispiel mag der informelle Gipfel in Kalinigrad unter Beteiligung des eine ähnliche Politik betreibenden Präsidenten Jacques Chirac gelten. Wenn man dazu noch die medialen Anfeindungen angesichts der anfangs noch unbedeutenden Initiative Erika Steinbachs für ein Zentrum gegen Vertreibungen berücksichtigt, sind wir auf dem niedrigsten Niveau in den polnisch-deutschen Beziehungen innerhalb der letzten 15 Jahre angekommen.

So ist es kein Wunder, dass die Mehrheit der polnischen Politiker und Medien große Hoffnung in einen Wechsel der polnisch-deutschen Beziehungen durch das neue Gesicht der deutschen Rechten - Angela Merkel -  setzt. Und tatsächlich sagte die Kanzlerkandidatin der CDU/CSU in Warschau das, was wir erwarteten, oder besser, was wir hören wollten (...).

So haben wir denn gehört, dass eine neue deutsche Regierung die Meinungen der Nachbarn Russlands - hauptsächlich Polens - in ihren Beziehungen mit Moskau wie auch bei der Gestaltung der europäischen Ostpolitik berücksichtigen wird. Sie werde auch die wirtschaftlichen Interessen Polens im Energiebereich berücksichtigen.(…)

Von der neuen Kanzlerin erwarten alle eine größere Sensibilität gegenüber den Ängsten der russischen Nachbarländer, Geduld bei der Konsultation der deutschen Ostpolitik mit den Nachbarn und keine Demonstration eines übertriebenen Enthusiasmus' gegenüber dem russischen Staatsoberhaupt. Und genau so viel versprach Merkel. Sie versprach jedoch nicht, dass die subjektiven Interessen Polens für Deutschland wie auch für die Union wichtiger als die "strategische Partnerschaft" mit Russland sein werden. (…) Eine christdemokratische Kanzlerin wird sich sicherlich mit größerer Aufmerksamkeit als die jetzige Regierung die polnischen Einwände anhören, aber sie gibt keinerlei Garantie, dass sie diese auch berücksichtigen wird. (…)

Gleichzeitig werden die deutschen Vertriebenen mit der Unterstützung der neuen Regierung rechnen können. Das ist eine schlechte Nachricht. Nicht nur deshalb, weil es eine Unterstützung für die beunruhigende Bewertung der Jahre 1939-1945 bedeutet, wie sie heute Erika Steinbach vornimmt. Es droht die Gefahr, dass die polnisch-deutschen Beziehungen nicht mehr nur auf der politischen Ebene, sondern diesmal auf Regierungsebene durch Fragen bezüglich der Politik in der Vergangenheit dominiert werden. Auf der einen Seite wird es einer zukünftigen polnischen Regierung schwer fallen, die Ängste der Polen, angesichts der deutschen Versuche, die Geschichte des II. Weltkrieges zu revidieren, gering zu schätzen, andererseits werden wir ab dem nächsten Jahr als Gegenspieler im Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen die neue deutsche Regierung haben, mit der wir gleichzeitig so große Hoffnungen bezüglich der Ostpolitik verbinden. (…)

Wenn wir die Gesten der zukünftigen Kanzlerin gegnüber Polen (…) und das, was sie in Waschau sagte, richtig einschätzen, sollten wir uns nicht in zu große Hoffnungen versteigen. (…) Es liegt an uns allein, dass wir aus ihren sehr durchdachten Worten keine zu optimistischen Schlüsse ziehen. Der von mir vielleicht gehegte zu große Skeptizismus, erlaubt uns in der Zukunft unnötige Enttäuschungen zu vermeiden, die so oft die polnische Politik vergiftete.                                                        

Der Autor ist Programmdirektor des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau.

Aus: Gazeta Wyborcza vom 19. August 2005; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum