Leben im Einmachglas

Das Heldentum der Irena Sendler

Von Andrzej Cechnicki, Krakau; Monika Machowska, Krakau, Friedrich Leidinger, Köln

 

Eine kleine, 95 Jahre alte Frau in einem schwarzen Kleid und mit einem schwarzen Band in ihrem grauen Haar, mit einem milden, weisen Gesicht und leuchtenden Augen feiert am 20. Oktober in Warschau ihren Namenstag. Viele Jahre lebte sie völlig vergessen in einem Pflegeheim des Stadtteils Nowe Miasto. Ihren Namen sucht man vergeblich in den Geschichtsbüchern. Jahrelang war es still um sie, jedoch erfährt sie nun seit kurzem Anerkennung und Wertschätzung, so als wolle man eine paradoxe Erinnerung entschleiern: Sie, die wirklich Großes geleistet hat, die anderen dazu verholfen hat, ihr Leben und ihre Identität zu retten, war selber vergessen worden. Es fing an mit fünf Oberschülerinnen aus Uniontown (Kansas). Vor einigen Jahren nahmen sie auf Anregung ihres Geschichtslehrers an einem Schülerwettbewerb teil.

 

Eine kurze Notiz in einem Nachrichtenmagazin über eine Frau, die 2.500 Menschen aus dem Warschauer Ghetto gerettet hätte, stand am Anfang. Sicher ein Druckfehler, meinte der Lehrer, denn davon hatte er noch nie etwas gehört oder gelesen. Doch am Ende der aufregenden Recherche schrieben die Schülerinnen ein Theaterstück über die Geschichte von Irena Sendler; es hieß: "Leben im Einmachglas". Die Leute sprachen darüber. Das Projekt einer Sendler-Stiftung wurde in den USA ins Leben gerufen; in Polen erschien ein Buch über ihr Leben und zwei Filme wurden gedreht.

Irena Sendler kam 1910 in Otwock zur Welt; ihr Vater, Stanis³aw Krzy¿anowski, ein gläubiger Katholik, war Arzt, Sozialarbeiter und Mitglied der Polnischen Sozialistischen Partei. Als Kind spielte Irena mit jüdischen Kindern und lernte jiddisch. In den 30er Jahren studierte sie polnische Philologie und war aktiv in der Polnischen Sozialistischen Partei. Sie arbeitete in einem Wohlfahrtszentrum für Mutter und Kind und später als Gemeindefürsorgerin. Nach dem Beginn des Krieges setzte sie ihre Arbeit in der Wohlfahrtsbehörde fort. Schon im zweiten Kriegsmonat war der Wohlfahrtsabteilung die Unterstützung von Juden untersagt worden, aber noch bis zum Einschluss in das Ghetto im November 1940 hatten die Sozialhilfebeamten ca. 3.000 Juden mit gefälschten Dokumenten geholfen. Durch die Gründung des Ghettos befanden sich auf einmal die meisten der jüdischen Schützlinge der Abteilung hinter den Ghettomauern. Die Amtsfürsorgerin Irena Sendler schmuggelte nun verkleidet als Krankenschwester gemeinsam mit 10 weiteren Kollegen Lebensmittel, Medikamente und Geld in das Ghetto.

Ab 1942 war sie Mitglied der Geheimorganisation Zegota; dieses Kürzel stand für den Rat zur Hilfe für Juden im besetzten Polen. In der Zegota leitete Irena Sendler die Kinderabteilung. Nachdem die Entscheidung zur Liquidation des Ghettos bekannt wurde, starteten Irena und ihre Mithelfer eine Aktion um Kinder aus dem Ghetto herzuschmuggeln, die sie auf diese Weise vor dem Tod retten und in polnischen Familien, Waisenhäusern, Klöstern oder der Erziehungsheimen unterbringen wollte. Auf verschiedenen Wegen brachte man sie aus dem Ghetto heraus: Mit dem Krankenwagen, den Kindern wurden vorher Schlafmitteln gegeben; später wurden sie in Taschen versteckt und aus dem Ghetto herausgetragen, eine andere Möglichkeit war der Weg durch ein Gerichtsgebäude, das direkt an das Ghetto grenzte, oder durch den Keller von Häusern, die an beiden Seiten der Mauern standen. Man schmuggelte die Kinder in Säcken, Mülltonnen, Kartons oder in Kisten zwischen Ziegelsteinen. Um ein Kind zu retten mussten mindestens 10 verschiedene Personen zusammenarbeiten. Die Kinder wurden zunächst an einem geheimen Stützpunkt untergebracht und von dort später an einen sicheren Ort weitergeleitet. Auf diese Weise organisierte sie die Rettung von 2.500 jüdischen Kindern aus dem Warschauer Ghetto - viel mehr als auf der berühmten Liste Schindlers.

Sorgfältig schrieb sie eine Liste mit den verschlüsselten Namen der Kinder auf Klopapier und vergrub es in Einmachgläsern in ihrem Garten, damit sie nach dem Krieg zu ihren Eltern zurückkehren könnten. So überdauerten diese Informationen den Krieg, und die Kinder erhielten ihre Identität zurück. Am 20. Oktober 1943 wurde Irena Sendler von der Gestapo verhaftet und im Pawiak - Gefängnis gefoltert. Sie verriet niemanden. Sie wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt. Dank eines bestochenen Wachmanns - das Lösegeld wurde von Zegota bezahlt - entging sie dem Tod. Man rettete sie, da nur sie alleine die verborgenen Verstecke der Kinder zu nennen wusste. Während Plakate in ganz Warschau ihre Erschießung bekannt gaben - die Deutschen wollten ihre "Panne" nicht zugeben - setzte sie ihre Aktivitäten in der Zegota im Untergrund mit falschen Ausweispapieren fort. Ihr ganzes späteres Leben sprach sie niemals über das, was sie bei der Gestapo erlebt hatte.

Nach dem Krieg übermittelte Irena Sendler das gesamte Dokumentationsmaterial dem Sekretär der Zegota, dem späteren Präsidenten des Komitees der polnischen Juden, Adolf Berman. Daher war es nach dem Krieg möglich, präzise die Anzahl der geretteten Kinder zu ermitteln und die Identität der Überlebenden zu sichern. Danach fiel Schweigen über ihr stilles Heldentum, wie über die gesamte Aktivität der Zegota. Auch nach 1945 arbeitete Frau Sendler weiter in der Sozialhilfeabteilung in Warschau. Sie sorgte für die Gründung von Kinderheimen, Pflegeheimen und Kindertagesstätten. Sie kümmerte sich um junge Prostituierte, die in den Ruinen der Stadt lebten. Man denunzierte sie, dass sie Mitglieder der Armia Krajowa (Heimatarmee) versteckte, und sie wurde oft in das Büro des kommunistischen Sicherheitsdienstes (UB) einbestellt. 1949, nach einem solchen Verhör, hatte sie eine Frühgeburt, ihr Sohn starb wenige Wochen danach. 1963 starb ihr zweiter Sohn, Adaœ.

Irena Sendler wurde 1965 durch die Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichnet. 1983 pflanzte einen Baum direkt gegenüber dem Eingang zum Kinderpavillon des Museums in Yad Vashem. Sie erhielt einen Brief von Papst Johannes Paul II. und das Kommandeurskreuz des Ordens Polonia Restituta in Anerkennung ihres Eintretens zur Rettung menschlichen Lebens. Aber erst nachdem sie dank dieser amerikanischen High School-Studentinnen berühmt wurde, erhielt sie die höchste polnische Auszeichnung, den Weißen Adler Orden. Bei der Überreichung des Ordens sagte sie: "Ich versuche, menschlich zu leben und jedes gerettete jüdische Kind rechtfertigt mein eigenes Leben".