Grenztypisches
am Görlitzer Amtsgericht
Beschuldigte
polnischer Nationalität gehören längst zum Alltag ostsächsischer Richter
Von Stefan Tesch, Görlitz
Aus organisatorischen Gründen bündeln die ostsächsischen Richter jene
Gerichtsverfahren, bei denen Menschen von jenseits der Neiße angeklagt sind.
Zumeist geht es um grenztypische Delikte wie unerlaubte Einreise, Schmuggel und
Diebstahl. Die meisten Beschuldigten erscheinen allerdings nicht zu ihren
Prozessterminen.
Jacek S. wirkt gefällig, gescheit
und bescheiden zugleich. Er ist der Typ von Mensch, den man auf einem Flughafen
bitten würde, einen Moment auf die eigenen Koffer aufzupassen. Weder gibt sich
Jacek verständnislos darüber, dass er hier vor einem deutschen Strafgericht
sitzt, noch unterwürfig. Es scheint, seine Gattin, die, wie er erzählt, daheim
in Kielce als Justizsekretärin arbeitet, hat ihn gut
auf seinen Prozess vorbereitet. Sie war es wohl auch, die ihn überhaupt
überzeugt hat, in der Nacht aufzubrechen, um pünktlich im 500 Kilometer entfernten
Görlitz einzutreffen.
Der 34-Jährige ist der erste
Angeklagte an diesem Verhandlungstag, der im internen Sprachgebrauch der
ostsächsischen Amtsrichter "Polentag" genannt wird. Denn auf dem
Tagesplan von Richterin Silke Papst stehen heute Strafsachen, in die in der
Hauptsache polnische Delinquenten verwickelt sind.
Am Telefon hatte die Richterin
zuvor berichtet, so ganz sicher sei es nie, ob an solchen Tagen überhaupt
Beschuldigte von jenseits der Neiße erscheinen würden. Doch zweisprachige
Schilder im gesamten Gebäude belegen, dass Menschen polnischer Herkunft längst
zum alltäglichen Publikum in dem frisch renovierten Klinkerbau aus der
Gründerzeit zählen. Immerhin steht das Gerichtsgebäude kaum einen Kilometer von
der Grenzbrücke nach Zgorzelec entfernt.
Sprachprobleme mit dem Bürokratendeutsch
Staatsanwalt Manfred Sauter verliest die Anklage, eine Gerichtsdolmetscherin
übersetzt simultan. Dem arbeitslosen Mechaniker wird ein Verstoß gegen das
Ausländergesetz vorgeworfen. Als er im Februar 2004 mit einem Pkw in Görlitz
einreisen wollte, setzte ihn der Bundesgrenzschutz BGS fest. Denn dessen
"Sünderdatei" ergab, dass gegen Jacek S. ein Einreiseverbot vorlag.
Grund war ein vier Jahre zurückliegender Fall: Jacek S. soll damals nach
Ansicht von Fahndern in Deutschland schwarz als Kraftfahrer gearbeitet haben.
Die Ausländerbehörde in Wiesbaden setzte ihn zu dieser Zeit auf den Index,
teilte ihm das auch mit; freilich in bestem Bürokratendeutsch. Womöglich
resultierte daraus dann sein Strafvergehen. Er habe nur "einem Freund
einen Gefallen tun" wollen, der in Deutschland Autoteile suchte, erzählt
Jacek S. heute. Dennoch war am Görlitzer Schlagbaum die Fahrt für ihn zu Ende.
"Man hat Ihnen doch
geschrieben, dass Sie unbefristetes Einreiseverbot haben", sagt die junge
Richterin ernst. Gleichwohl scheint sie Mühe zu haben, allzu streng zu wirken.
Sie hält ihn offenbar für einen, der eher leichtsinnig denn mutwillig in diese
Lage geschlittert ist. Der polnische Mechaniker antwortet, er habe das schlicht
nicht geschnallt, sein Deutsch reiche nur für einfache Umgangsdinge. Also
interpretierte er den Passus, wonach er nach zwei Jahren um Aufhebung der
Sperre nachsuchen könne, in seinem Sinne: Er dachte, nach zwei Jahren sei alles
wieder in Ordnung und die Strafe vollzogen.
Die Vorsitzende hält ein
Missverständnis für möglich, offenbar kennt sie solche Fälle von falschen
Deutungen der deutschen Sprache zuhauf. Auch der Staatsanwalt zeigt kein besonderes
Interesse und hat kaum Fragen, zumal die Sache schon schizophren scheint. Denn
nicht nur, dass Polen nun schon gut ein Jahr zur EU gehört, auch der
mittlerweile von Jacek S. beantragten Aufhebung der Einreisesperre wurde
bereits stattgegeben. So möchte Staatsanwalt Sauter
die Sache einstellen. Da Richterin Papst nur eine "geringe Schuld"
erkennt, willigt sie ein, fügt dann noch hinzu: "Aber auch das ist
Schuld!" Sie fragt nach den finanziellen Verhältnissen, erfährt, dass zu
Hause in Kielce vom Sekretärinnengehalt auch zwei
Kinder leben, schlägt 150 Euro Strafe vor - abzustottern in sechs Monaten. Dann
hält sie inne, fragt Jacek S., wie viel die Fahrt nach Görlitz kostete und
setzt das Strafmaß auf 100 Euro herab. "Aber zahlen Sie auf jeden Fall,
sonst wird das Verfahren neu aufgerollt!", gibt sie ihm mit auf den Weg,
als er erleichtert den Saal verlässt.
Der zweite Angeklagte erscheint
nicht. Der Akte nach ist Arkadiusz S. ein jüngerer
Mann, der Fahrräder gestohlen haben und mit entwendeten Autoradios hehlen soll. "Kein Unbekannter", behauptet der
Staatsanwalt knapp, was wohl heißen soll: Der kommt sowieso nicht. Nach einer
Viertelstunde pflichtgemäßem Warten beantragt er einen Strafbefehl über 200
Euro. Die Richterin ist einverstanden. Sie streicht die Hauptverhandlung.
Sollte Akardiusz S. wieder einreisen, könnte dies
teuer für ihn werden.
Bis zum dritten Vorgeladenen
bleibt noch Zeit, obwohl Silke Papst, aus Erfahrung gewitzt, ihre Prozesstage
mit Angeklagten polnischer Herkunft terminlich eng legt: Jede halbe Stunde eine
neue Verhandlung. "Das hat sich bewährt", findet sie. Immerhin die
Chance für ein paar Fragen an die Beschuldigten. "Ja, die Polentage",
sagt die junge Frau, die in Bautzen aufwuchs. Das wäre natürlich kein
offizieller Terminus, eher ein organisatorischer Begriff. "Da gibt es eben
einiges speziell vorzubereiten", erläutert sie. "Beispielsweise muss
eine Dolmetscherin bestellt werden."
Wie die Richterin erzählt, lässt
sie sich meist überraschen. Eine "gewisse Neugier" wäre da schon
noch, gesteht sie. Meist handele es sich ja auch eher um "kleine
Fische", wie Verstöße gegen das Ausländergesetz oder Diebstähle - genährt
durch das nach wie vor krasse Wohlstandsgefälle zwischen Deutschland und Polen.
Man brauche doch nur mal über die Görlitzer Stadtbrücke zu gehen. Mithin greift
der BGS jemanden, der gleich im Dutzend Lederjacken, Sonnenbrillen oder
Rasierklingen zu verschieben sucht. Selten seien Frauen die Beschuldigten, weiß
Silke Papst.
Staatsanwalt Manfred Sauter bestätigt dies. Der 44-jährige Schwabe aus Rottweil
setzt da allerdings sein eigenes Maß an. Denn sein Metier ist die Organisierte
Kriminalität. "Also Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz,
Schusswaffenschmuggel, Bandenkriminalität", zählt er auf. An der alten
EU-Außengrenze sei das ein besonderes Thema. "Doch Polen", er hält
inne, als überlege er, "nein, Polen sind kaum drunter. Bei denen ist es
vor allem Alltagskram." Eher ermittle er gegen Ukrainer, Weißrussen, aber
auch schon gegen einen Araber oder einen vietnamesischen Schleuser,
zählt Sauter auf.
Kriminalität in Görlitz nicht höher als anderswo
Die große Mehrzahl der Fälle,
fast 80 Prozent, betreffe jedoch deutsche Straftäter. Trotz des grenzbedingten
ausländischen Anteils ist sich Sauter sicher, dass
die Kriminalität in Görlitz nicht höher sei als im deutschen Binnenland.
Derweil vergeht die Zeit am
Gericht. Der dritte Angeklagte müsste eigentlich langsam da sein. Es ist Lech
S., bereits Anfang 50. Im Gegensatz zu den vorherigen Beschuldigten hat Lech S.
zwei Vorstrafen vorzuweisen: Zwei Verstöße gegen das deutsche Aufenthaltsrecht.
Heute soll ihm erneut unerlaubte Einreise zur Last gelegt werden, dazu Fahren
ohne zulässige Fahrzeugpapiere. "Sein polnischer Führerschein war
gefälscht", verrät die Richterin. Wieder wartet sie 15 Minuten, dann ergeht
ihr Beschluss: Der Termin wird ausgesetzt, die Verhandlung neu anberaumt. Sie
unterschreibt einen der Europäischen Haftbefehle, die nun auch in Polen gelten.
In Deutschland wurden diese Haftbefehle jüngst vom Bundesverfassungsgericht
gekippt, Deutsche werden nun nicht mehr auf Grundlage dieser Haftbefehle
ausgeliefert.
Bis zu zwei Jahren dürfe ein
Amtsgericht bei Strafsachen verhängen, erläutert Silke Papst. Bei Angeklagten
aus Polen wäre das doch eher die "große Ausnahme". Selten gehe sie
über ein Jahr hinaus - eine Strafe, die zudem zur Bewährung ausgesetzt werden
könne. Ausnahmen bildeten Fälle, wo jemand mehrfach beim Schleusen von Menschen
erwischt wurde. Dennoch kann sie auch hier eine gewisse Milde nicht verbergen.
Schon 100 Euro Strafe tun richtig weh
"Die meisten, die hier vor
Gericht landen, sind ohne Beschäftigung. Oft ist es schon gut, wenn die Frau
Arbeit hat. Da freut man sich, wenn einer wirklich kommt", sinniert sie.
Mithin hätten solche Geldstrafen eher symbolischen Charakter, damit die
Ertappten mitbekommen, dass sie gegen deutsche Gesetze verstoßen haben. Aber
selbst diese geringen Strafen tun manchen Familien schon richtig weh, weiß
Papst.
Zum Glück sei seit Mai 2004
vieles leichter geworden, freut sich die Richterin. Sie kann nun auch
schriftlich, also ohne Hauptverhandlung entscheiden. Und sie kann
internationale Haftbefehle ausstellen, die in fast allen EU-Staaten gelten. Ob
sich polnische Behörden denn daran hielten? Sie lacht: "Eher als
deutsche." In der Tat lieferte Polen in den letzten Wochen wiederholt
Landsleute an Deutschland aus. Erst unlängst wurde dem Amtsgericht Görlitz ein
gesuchter Drogendealer überstellt, allerdings gegen das Versprechen, dass er
bei einer Verurteilung die Strafe daheim absitzen darf. Auch Staatsanwalt Sauter spricht von einer "sehr guten und engen"
Zusammenarbeit gerade mit den polnischen Staatsanwaltschaften im Grenzgebiet.
Vor Gericht passiert unterdessen
nicht viel. Auch der vierte Angeklagte erscheint nicht zu seinem
Gerichtstermin. Es kommt nur eine Zeugin, eine Frau vom BGS, die meint
bestätigen zu können, dass der 31-Jährige unerlaubt einreisen wollte. Das
Verfahren wird dennoch eingestellt, ein Haftbefehl ergeht nicht. Anders die
Sache bei Daniel O., der offenbar ein harter Wiederholungstäter ist. Fünf
Vorstrafen stehen in seiner Akte, nun soll er wieder zweimal geklaut haben.
Zwar ist auch er arbeitslos und zweifacher Vater, doch
das ist der Richterin angesichts der Vorfälle egal. Sie erlässt einen
Strafbefehl über 40 Tagessätze a 5 Euro.
80 Prozent Ausfall an diesem Gerichtstag. Silke Papst nennt dies eine "durchaus normale Quote". Es könne im Ersttermin eben keiner gezwungen werden, sofern kein Haftbefehl bestehe. Mancher warte da lieber, bis ihn der Arm der Justiz in Polen greift. Wer freiwillig erscheine, tue das oft, weil er sich ungerecht behandelt fühle. Aber das, so Silke Papst, sei bei deutschen Tatverdächtigen auch nicht anders.
Aus: Neues
Deutschland vom 03.08.2005. Wir danken für das Nachdrucksrecht.