Die letzten
Zeugen
Mitten in der Großstadt Frankfurt
am Main, in Bahnhofsnähe, wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs eines der
schlimmsten Konzentrationslager in Hessen errichtet und doch weiß heute kaum
jemand etwas davon! Jahrelang blieb das KZ Katzbach relativ wenig erforscht.
Erst in den 90er Jahren lieferten zwei Privathistoriker, Ernst Kaiser und
Michael Knorn, eine fundierte Monographie (Ernst
Kaiser, Michael Knorn: "Wir lebten und schliefen
zwischen den Toten". Rüstungsindustrie, Zwangsarbeit und Vernichtung in
den Frankfurter Adlerwerken. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1994, 3.Aufl.
1998).
1.300 Polen wurden während und
nach dem Warschauer Aufstand über die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald
in das Außenlager "Katzbach" zur Zwangsarbeit in die Adlerwerke
deportiert. 518 dieser Häftlinge starben in Frankfurt; Hunderte wurden während
der Todesmärsche ermordet. Das Kriegsende erlebten nur 56 Personen. Heute sind
noch sechs der ehemaligen polnischen Gefangenen aus dem KZ Katzbach am Leben.
Die Journalistin Joanna Skibinska hat ausführliche Gespräche mit diesen Zeitzeugen
geführt, die sie jetzt unter dem Titel "Die letzten Zeugen" im
Hanauer CoCon-Verlag veröffentlicht hat. Mit ihrem
Buch betritt die Autorin Neuland. Sie sprach mit den letzten Überlebenden des
KZ Katzbach sowohl über Ihre Inhaftierung in Frankfurt als auch über ihr Leben
vor und nach dem Krieg.
Die Zeitzeugen stammen aus
unterschiedlichen sozialen Schichten - ihre Väter waren Berufsoffiziere,
Beamte, Lehrer, Arbeiter. Die meisten der späteren jungen KZ-Häftlinge
beteiligten sich bereits in den ersten Jahren der deutschen Besatzung am
aktiven Widerstand gegen die Naziherrschaft. Im Warschauer Aufstand kämpften
sie entweder in der antisowjetischen "Heimatarmee" (AK) oder in der prosowjetischen
"Volksarmee" (AL). Ihre damalige Kampfbeteiligung hatte Konsequenzen
bis in die Gegenwart, was aus den Gesprächen deutlich wird.
In einer Offenheit, die lange
Zeit nur im engsten Familienkreis in Polen möglich war, befreien sich die
Zeitzeugen aus dem KZ Katzbach in diesen ausführlichen Gesprächen aus ihrer
Anonymität, der Leser taucht tief in ihre Welt ein. Ein damaliger "Untergrund-Pfadfinder"
in Warschau, den man heute vielleicht als "Kindersoldat" bezeichnen
könnte, beschreibt seinen Werdegang zum aufständischen Kämpfer. Ein etwas
älterer Kamerad, damals Offizier in der Untergrundarmee, schildert Motive zum
Kampf, seine Überlebensstrategie im KZ-Außenlager und sein Leben nach der
Befreiung im kommunistischen Polen. Jan Kozlowski, dem als vielleicht einzigem
die Flucht aus der Katzbach-Hölle gelang, erzählt zum ersten Mal von den
riskantesten Minuten seines Lebens. Im Gespräch mit Joanna Skibinska
öffnet sich dieser stille und beinahe unbemerkte Held in einem sehr persönlichen Gespräch.
"Es ist spannend zu
verfolgen, wie unterschiedlich sich die Schicksale der sechs Interviewten
gestalteten. Jeder hatte einen anderen Anteil am Warschauer Aufstand und jeder
schlug nach dem Krieg einen anderen Lebensweg ein. Nur in der Schilderung von
Katzbach nimmt man wenig Unterschiede wahr, hier verlor man sein
Menschsein", schreibt der in Warschau lehrende Literaturwissenschaftler
Karol Sauerland in seinem Vorwort.
"Die letzten Zeugen"
bieten einen tiefen Einblick in die polnische Geschichte im 20. Jahrhundert und
damit auch einen Schlüssel zum Verständnis der polnischen Nachbarn.
Der Leser schaut mit fremden
Augen auf die Kriegsgeschichte Deutschlands, auf die Zeit der Naziherrschaft,
auf den späteren Prozess der deutsch-polnischen Annäherung sowie nicht zuletzt
auf einen vergessenen und verdrängten Teil der Frankfurter Stadtgeschichte.
Die Journalistin, Joanna Skibinska, wurde 1967 in Stargard/Polen geboren und lebt
seit 1985 in Deutschland. Sie studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte
an den Universitäten Göttingen und Frankfurt am Main. Als freie Journalistin
veröffentlichte Joanna Skibinska in der polnischen
und deutschen Presse: im Tygodnik Powszechny,
der Rzeczpospolita, der Süddeutschen Zeitung, dem
Deutsch-Polnischen Magazin "Dialog" und im Hörfunk der Deutschen
Welle, des Deutschlandfunks und des RBB-Radio Multikulti. 2004 gab sie zusammen mit Basil Kerski im fibre-Verlag Osnabrück
das Buch "Ein jüdisches Leben im Zeitalter der Extreme. Gespräche mit Arno
Lustiger" heraus.
Das Buch wird von der W.H.O.Claudy-Stiftung im CoCon-Verlag
herausgegeben. S.K.
Joanna Skibinska: Die letzten Zeugen. Gespräche mit Überlebenden des KZ-Außenlagers "Katzbach" in den Adlerwerken Frankfurt am Main. CoCon-Verlag, Hanau 2005. ISBN 3-937774-11-4, 192 Seiten, 16,80 Euro