Novembernebel, Zwillingsbrüder und allerlei Unwägbarkeiten

Von Holger Politt

 

Ob Polens Bürger mit ihrer Wahl eine für sie gute Wahl getroffen haben, werden wohl erst die kommenden Monate zeigen. Alle mit den Wahlen anstehenden Entscheidungen sind gefällt, doch die Konsequenzen sind bei weitem noch nicht absehbar. Polen hat einen neuen Präsidenten, der zumindest bis 2010 ganz entscheidend die Geschicke des Landes prägen will. Lech Kaczyñski (bisher PiS) hat bereits während der letzten Wochen des entscheidenden Wahlkampfes als "Präsident der IV. Republik" firmiert, was vor allem als erkennbare Kritik an den Zuständen der sogenannten III. Republik (seit 1990) gedeutet werden sollte. Worin aber diese Kritik nun des näheren bestehen soll, ließ er bisher nicht durchblicken. Die ersten Monate seiner Amtszeit werden jedoch schnell Aufschluss darüber geben. Polen hat eine neue Regierung, deren Amtszeit bis 2009 reichen könnte. Ob aber die PiS-Minderheitsregierung unter Kazimierz Marcinkiewicz tatsächlich so weit kommen wird, hängt wohl ganz gewiss an einem seidenen Faden.

 

Insofern schauen viele Bürger des Landes gebannt auf die ersten wirklichen Schritte der neuen politischen Macht Polens. Versprochen wurde allerlei, auch wenn dem Friseur um die Ecke oder der Verkaufsfrau im Laden nebenan nicht ganz klar ist, wohin die Reise gehen soll. Von "IV. Republik" können sie sich nicht allzu viel kaufen. Aus der Wirtschaft vernimmt man plötzlich sorgenvolle Kommentare, denn da haben plötzlich Leute ihre Hände mit im Machtspiel, die allgemein als "wirtschaftsfeindlich" (also neudeutsch: als populistisch) geschimpft werden. So hatte man im Sommer nicht gewettet! Studenten beginnen zu streiken, zu protestieren gegen die neue Regierung, da ihnen die Zukunft gestohlen worden sei. Alles Dinge, die am Wahlabend des 25. September 2005 fast ausgeschlossen schienen. Anders als in Deutschland hatte der Wähler in Polen eigentlich für klare Verhältnisse gesorgt. Eine Koalition aus den sich konservativ verstehenden Gruppierungen PiS und PO verstand sich eigentlich von selbst. Eine bequeme Mehrheit war gesichert und an die teils beträchtlichen Unterschiede sollten sich die Akteure in den mehrere Monate laufenden Wahlkampf eigentlich gewöhnt haben. Und doch kam alles ganz anders.

Der Premierminister aus

Kraków in der Opposition

Sollte es eine personifizierte Wahlniederlage geben, so dürfte die Siegpalme ohne Zweifel ihm gehören. Bereits frühzeitig in diesem Jahr hallte es durch die Lande, dass mit ihm der neue Ministerpräsident eigentlich bereits feststünde. Nunmehr aber sieht sich Jan Maria Rokita, der seine Herkunft aus dem sich gerne konservativ verstehenden Kraków gerne herausstreicht, auf den ungeliebten Oppositionsbänken wieder. Zunächst kam seine PO trotz anderslautender Meinungsumfragen bei den Parlamentswahlen im September nur als zweiter Sieger ein. Knapp geschlagen zwar, aber es hätte nur noch zum Stellvertreter des Chefs gereicht. Die Enttäuschung war ihm wochenlang anzusehen. Nach dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Oktober musste er zudem erleben, dass der doppelte Wahlsieger PiS kaum noch Anstalten machte, die versprochene Ehe auf Zeit auch einzuhalten. Was kümmerte den Sieger noch das fast zweijährige Gerede, man wolle nach den Wahlen unbedingt auf eine sich konservativ verstehende Koalition mit der PO zusteuern. Dass PiS und PO programmatisch nur in den wenigsten Fragen tatsächlich und gut auf einen Nenner zu bringen sind, hatte ehedem wenig gestört, denn beide Gruppierungen einte der Wille, die tiefe Schmach der Wahlniederlage von 2001 wettzumachen und den politischen Hauptgegner - die "Postkommunisten" - für immer oder zumindest entscheidend aus dem Rennen zu werfen. Für die "Wirtschaftspartei" PO gibt es keinen besseren, zu diesem Ziel hinführenden Weg, als den Staat auf einige wenige und unentbehrliche Grundfunktionen zurückzusetzen und alles zu tun für die möglichst weitgehende Stärkung das "unternehmerisch-aktiven Elements" im Lande. Am besten durch ein einfaches wie simples Steuerkonzept: Für alles und für jedermann 15%! Die Kollegen der "Kleinen-Leute-Partei" PiS hingegen offerieren ein anderes Modell, in dem vor allem mit den Mitteln eines starken, bei den Bürgern nicht unpopulären Staats die entscheidenden Zäsuren gesetzt werden sollen. Diese Botschaft hat sich bei den Bürgern als sogenannte IV. Republik festgehakt. Die taumelnd machenden Umfragewerte des Sommers, nach denen PO und PiS zusammen mitunter bereits eine satte Zweidrittelmehrheit im Parlament in der Tasche zu haben schienen, verführten schnell dazu, die Unterschiede zu übersehen oder unter den Tisch zu kehren. Ein einziger wenigstens ließ sich nicht betören und begann noch frühzeitig genug, dem Lauf eine andere Richtung zu geben.

Der Fluch der Doppelwahl

Jaros³aw Kaczyñski - PiS-Vorsitzender - erwies sich im Wahlmarathon dieses Herbstes als meisterlicher Stratege. Das unmittelbare zeitliche Zusammenfallen von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen war für viele Lager und Kräfte verlockend genug. Diese Chance erhob der PiS-Vorsitzende zur wichtigsten Aufgabe seiner politischen Laufbahn. Erstmals konnte bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen der Amtsinhaber nach zwei Wahlperioden selbst nicht mehr antreten. Aleksander Kwaœniewski überredete seinen politischen Weggefährten W³odzimierz Cimoszewicz, als Kandidat des Präsidentenpalastes in den Ring zu steigen. Ein Fehler, denn Cimoszewicz startete wegen des angekratzten Renommees der damals regierenden SLD ohne parteipolitische Anbindung und ganz als bürgerschaftlicher Kandidat. Er sollte mit der Losung "Kontinuität" die Kastanien nochmals aus dem Feuer holen. Eine realistische Chance, das weiß man heute, hatte er wohl nicht mehr, aber er hätte das gesamte Rennen nachhaltig beeinflussen können. Er stolperte jedoch vorzeitig über eine geheimdienstlich angelegte Provokation, auf die vor allem das Umfeld des PO-Kandidaten Donald Tusk merkwürdig gleichgültig reagierte. Kaczyñskis Rechnung begann aufzugehen. Tusk ließ sich wochenlang vor der Wahl großflächig und landesweit als "Präsident" und "Mann mit Grundsätzen" plakatieren. Er sah Lech Kaczyñski, den Zwillingsbruder des PiS-Vorsitzenden und seinen hartnäckigsten Kontrahenten, unweigerlich in eine Sackgasse laufen: Er gewahrte ihn als beherzten Kämpfer gegen die "Kommune", der in einer Schlacht um Vergangenheit sich allzu sehr verschleißen und zudem polarisieren werde. Der plötzliche Wegfall des "Kommune"-Kandidaten war ihm ein Geschenk des Himmels, schien doch der einzig übrig gebliebene chancenreiche Kontrahent fortan zum Schattenboxen verurteilt zu sein. Sein Hauptproblem war fortan, ob denn wegen des vorhergesagten PO-Siegs bei den Parlamentswahlen seine Chancen auf das Amt nicht doch noch einmal geschmälert werden könnten. Nachdem bei den Parlamentswahlen PiS die Nase vorne hatte, zeigte er sich ohnehin überzeugt, der Wähler werde - wie es in Polen so üblich ist - für einen "gesunden Ausgleich" sorgen.

Die Kaczyñski-Brüder jedoch überraschten mit einer Strategie, die den konservativ-liberalen Rivalen an empfindlichster Stelle traf. Sie schafften es erstens, PiS und vor allem sich selbst vor der Wählerschaft als das einzig nennenswerte Bollwerk gegen einen "ungezügelten Liberalismus" aufzuspielen. Eine klare Botschaft an die Millionen Menschen, die in der Transformationsmühle müde geworden sind und keinen rechten Ausweg für sich und ihre Nächsten sehen. Eine klare Botschaft an alle, die sich als Verlierer der zurückliegenden 16 Jahre sehen. Und zweitens gelang es ihnen, ein längst und fälschlicherweise als erledigt angesehenes Thema anzuzapfen - Polens EU-Beitritt. Virtuos beherrschten sie das Thema und wiederholten schließlich und zum Entsetzen der anderen mit Erfolg die auffällige soziologisch-territoriale Teilung des Landes beim EU-Referendum des Sommers 2003. In den Wahlkreisen, in denen damals Ablehnung bzw. Nichtteilnahme am höchsten waren, gewann Lech Kaczyñski die entscheidenden Stimmen für den Sieg gegen den bekennende "Europäer" Tusk. Über Geschichte und "Kommune" redete Lech Kaczyñski während der Kampagne übrigens kaum. Er wusste warum.

Der Alleingang

Inzwischen schaffte PiS wohlbekannte und erstaunliche Tatsachen. Obwohl man selbst nur 27% der abgegebenen Stimmen bekam, wurde eine Minderheitsregierung ohne den avisierten Partner PO riskiert. Lech Kaczyñskis Sieg bei den Präsidentschaftswahlen wurde als Votum für eine präsidiale Republik, die viel beschworene IV. Republik gewertet. Das geltende System einer parlamentarischen (der III.) Republik mit direkt gewähltem Präsidenten, der zunächst einmal als Hüter der verfassungsmäßigen Ordnung sich zu begreifen hat, müsste verfassungsgemäß in die gewünschte neue Republik "organisch" hineinwachsen, in der die Befugnisse des Parlaments eingeschränkt bzw. die des Präsidenten beträchtlich erweitert werden sollen. Ein Sieg von Tusk hätte alles Gerede einer IV. Republik überflüssig gemacht. Dieser eine Trumpf wurde durch ihn und durch die PO allerdings zu keiner Zeit ausgespielt. Anders der Konkurrent. Lech Kaczyñski ließ sich auf dem Höhepunkt des Kampfes um das Präsidentenamt nur noch als "Präsident der IV. Republik" abbilden. Den PiS-Strategen war nach dem Ausgang der Parlamentswahlen sofort klar, dass eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit, gegen die auch ein Präsidentenveto machtlos gewesen wäre, außerhalb jeder Reichweite lag. Mit PO zusammen hatte man gerade knapp 51% der Stimmen bekommen. Ein Zusammengehen mit den Rechtsliberalen hätte zudem jede Möglichkeit eines überparteilichen Zusammengehens mit den oppositionellen Gruppierungen aus dem bauernpolitischen Spektrum (Samoobrona und PSL) sowie mit der national-katholischen LPR, die sich allesamt eher "antiliberal" verstehen, von vornherein ausgeschlossen. Ohne lange zu zögern nominierte Jaros³aw Kaczyñski, der PiS-Vorsitzende, mit Kazimierz Marcinkiewicz einen Mann zum Ministerpräsidenten, den eigentlich außerhalb der eigenen politischen Strukturen kaum jemand auf der Rechnung hatte. Ein treuer und gottesfürchtiger Parteisoldat, der seine Aufgabe pflichtgemäß erfüllen wird.

Mehrere Wochen rang der neue Premier um eine handlungsfähige Regierung: Herausgekommen ist eine PiS-Minderheitsregierung. PiS-Leute besetzen darin alle Posten, die aus der Logik des kommenden Weges in die IV. Republik hinein wichtig werden könnten. Der gesamte Bereich der Sicherheits- und Innenpolitik befinden sich in den Händen gestandener eigener Politiker. Angekündigt sind in allen diesen Ressorts weitreichende Veränderungen im Personalbereich. Hintergrund ist übrigens die Überzeugung des PiS-Vorsitzenden, dass die Zeit der Volksrepublik letztendlich dem Land mehr Schaden beigefügt habe als die deutsche Okkupation von 1939-1945. Die andere Hälfte der Ministerien ist mit Fachleuten besetzt, deren Nominierung eher als Einladung an die PO gedacht werden kann. Ein lockendes Angebot zum Spiel für die parlamentarische Szene.

Wie weit die Minderheitsregierung tatsächlich kommen wird, steht vorerst auf einem anderen Blatt. Aus der Sicht der Verfechter einer IV. Republik aber könnte die Situation angesichts der Kräfteverhältnisse keine bessere Sein: Es wird nach Lage der Dinge zunächst ein stilles Bündnis mit drei von vier Oppositionsparteien geben - mit der Samoobrona, mit der Bauernpartei PSL und mit der LPR. Sie wird ein diffuser "antiliberaler" Reflex einen, der vor allem Angesichts der angespannten sozialen Situation im Lande Gehör finden wird. Zugleich bleibt kurioserweise das Koalitionsangebot an die PO bestehen. Wie lange wird die PO standhalten können? Die Oppositionsrolle tritt die Gruppierung, die sich im Sommer bereits als Sieger sah, widerwillig und trotzig an. Ihr steht im Parlament kein anderer Partner zur Verfügung, denn auf die SLD werden sich die Kollegen von Rokita und Tusk nur widerwillig einlassen. Ein Umstand übrigens, den die Parteistrategen zu wenig auf der Rechnung hatten. Was sie mit der PiS alleine einte, war der Abstand zu allem "Postkommunistischen". Zu wenig, wie sich zeigt, nachdem diesem "grässlichen" Gegner die wichtigsten Trümpfe aus der Hand genommen wurden.

Die Herausgeforderten

Der große Verlierer der Wahlen ist die Linke, wobei die SLD im Parlament zwar vertreten ist, ihr aber vorerst kaum größere Gestaltungsräume gegeben sind. Alle anderen linksgerichteten Gruppierungen müssen sowieso außerparlamentarisch versuchen, über die Runden zu kommen.

Es ist schon paradox, dass dies alles passiert zu einer Zeit, in der zwei Dinge zusammenfallen: Der hohe Grad der Unzufriedenheit mit den sozialen Ergebnissen der "Transformation" nämlich mit einem hohen Grad positiver Rückbesinnung auf die Zeit der Volksrepublik unter denjenigen, die damals bereits im Erwachsenenalter gewesen waren. Bei einer repräsentativen Umfrage nach jenen Politikern, die seit 1945 das meiste für Polen getan und erreicht hätten, kam Edward Gierek in diesem Jahr vor Lech Wa³esa ein! Unfassbar eigentlich, wenn man sich die Wahlergebnisse anschaut. Und doch erklärt es sich schnell. Polens Linke zeichnete seit 1990 aus, das sie ohne viel Federlesen auf Tuchfühlung zu den entstehenden Verhältnissen ging. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, als man bei den Parlamentswahlen 2001 mit einer kleineren Partei im Bunde über 41% der Stimmen holte, erklärte die Parteiführung den "dritten Weg" von Schröder und Blair zum Maßstab ihres Handelns. Mehr sogar: Das traditionelle, auf den Sozialstaat sich stützende sozialdemokratische Verständnis von Gesellschaft gehöre der Vergangenheit an. Zuförderst  müsse dem Markt die Referenz erwiesen werden. Man wolle erfolgreicher Gestalter sein der neuen Verhältnisse, die dem Land und seinen Menschen die besten Entwicklungschancen eröffneten. Die Warnzeichen am gesellschaftlichen Himmel wurden stillschweigend übersehen. Etwa die Tatsache, dass das Land der "Solidarnoœæ"-Tradition nunmehr in punkto Gewerkschaftsdichte mit nur 14% das Schlusslicht in der EU darstellt. Oder, dass bei einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit von offiziell über 18% die bedrückende Tatsache im Raume steht, wonach 88% von diesen Betroffenen - also weit über zwei Millionen Menschen - überhaupt keine Lohnersatzleistungen bekommen. Wer von den Betroffenen sollte da etwas gestalten wollen und wovon auch?