Der lange Weg der Versöhnung

Ansprache von Bischof em. Dr. Josef Homeyer, Hildesheim, beim Festakt zum 40. Jahrestag des Briefwechsels der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965, 21.09.2005 in Fulda

 

Im September 1944 lieferten sich deutsche und polnische Soldaten in den Trümmern der Kathedrale von Warschau ein erbittertes Gefecht. Im September 1980 haben an derselben Stelle in dem wieder aufgebauten Gotteshaus polnische und deutsche Bischöfe gemeinsam die Eucharistie gefeiert. Genau in der zeitlichen Mitte, Ende November/Anfang Dezember 1965, in den letzten Tagen des II. Vatikanischen Konzils, reichten sich polnische und deutsche Bischöfe die Hände, gewährten einander Vergebung und baten um Vergebung.

 

Dieser denkwürdige Versöhnungsakt ließ damals die Welt aufhorchen. Der polnische Intellektuelle Jan Józef Lipski sieht in ihm die "weitsichtigste Tat der polnischen Nachkriegsgeschichte". 30 Jahre später, 1995, veröffentlichten die beiden Episkopate - zum erstem Mal in ihrer Geschichte - ein "Gemeinsames Wort", in welchem sie feststellen: "Der Briefwechsel von 1965 wurde zum Beginn eines gemeinsamen Weges, in dessen Konsequenz sich das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland immer mehr verändert hat."

Die Ausgangslage für diesen gemeinsamen Weg konnte heilloser nicht sein. Ich will die historischen Sachverhalte nur kurz andeuten:

- Während Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich das revolutionäre Bürgertum das Zeitalter des Absolutismus beendet, beenden die deutschen Mächte Preußen und Österreich im Bündnis mit Russland die Existenz des polnischen Staates, indem sie ihn in drei Etappen unter sich aufteilen. Die Gründung des Deutschen Reiches durch Bismarck 1871 erfüllt die Sehnsüchte des liberalen und nationalen deutschen Bürgertums, besiegelt aber - im Einvernehmen mit dem russischen Zaren - die Fortdauer der Fremdherrschaft in und die Unfreiheit der Polen für fast ein weiteres halbes Jahrhundert, bis weit in den Ersten Weltkrieg hinein.

- Der Zweite Weltkrieg beginnt mit der erneuten Aufteilung des polnischen Staates durch seine deutschen und russischen Nachbarn. In Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenideologie vernichten deutsche Mordkommandos gezielt ganze Schichten der polnischen Bevölkerung. Als die Folgen des von Hitler entfesselten und auch von Stalin infernalisch geführten Krieges auf die Deutschen zurückschlagen, werden im Zuge der von den Siegermächten beschlossenen so genannten "Westverschiebung" Millionen Deutsche Opfer der Vertreibung aus ihrer Heimat, manche Zyniker bezeichnen sie als geordneten Verwaltungsakt, viele Zeitgenossen sehen sie als gerechte Vergeltung, immer mehr Menschen aber erkennen, dass uns auch die Vertreibung als (ein) gewaltsames Unrecht vor Augen steht.

- Zum heillosen Verhältnis unserer Völker zählt 1965 auch die Fortdauer alter Klischeevorstellungen über den jeweiligen Nachbarn, die weit in die Geschichte zurückreichen. Unter den geistigen deutschen Eliten des 19. Jahrhunderts ist ein allgemein negatives Polenbild weit verbreitet. So hat etwa Ernst Moritz Arndt 1848 in einem Artikel schreiben können: "Ich behaupte eben mit der richtenden Weltgeschichte vorweg: Die Polen und überhaupt der ganze slawische Stamm sind geringhaltiger als die Deutschen ..."

- Schließlich können sich im Zeichen des so genannten "Kalten Krieges", der mit dem Mauerbau in Berlin und der Krise um Kuba 1961 dramatische Höhepunkte erreicht, positive Ansätze für Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschen und Polen zunächst kaum entfalten. Mutige, insbesondere durch ihren christlichen Glauben motivierte Pioniere der Versöhnung haben schon früh manches versucht und werden gehindert. So gehört zur Vorgeschichte von 1965, dass Einladungen von Kardinal Frings und Kardinal Döpfner zu den Katholikentagen von 1956 und 1958 an polnische Bischöfe scheitern. Wie konnte es bei dieser schwierigen Ausgangslage dennoch zu einer Wende in den Beziehungen kommen? (…)

[Nachdem Homeyer die polnisch-deutsche Annäherung in den folgenden Jahrzehnten auf der Ebene der katholischen Kirche in engem Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen in beiden Ländern ausgeführt hat, fragt er weiter:]

Welches sind denn nun die sog. "heißen Eisen" zwischen uns?

Hier kann ich nur einen zaghaften Versuch wagen, einige Wahrnehmungen zu skizzieren, die mir im Laufe von 4 Jahrzehnten mehr und mehr aufgefallen sind.

In welchen Fragen Polen sich häufig von Deutschen unverstanden fühlen:

- Unverständlich ist den Polen, wenn in deutschen Äußerungen immer wieder von einem polnischen Messianismus gesprochen und dabei der Kirche in Polen unterstellt wird, dieser werde von der Kirche in Polen vertreten und gefördert. Dabei wird verschwiegen, sagen die Polen mit Recht, dass es der große polnische Dichter Adam Mickiewicz war, der polnische Goethe, der in der Mitte des 19. Jh. in seiner Dichtung zum ersten Mal von der messianischen Bestimmung des polnischen Volkes gesprochen hat, nämlich das ihm zugefügte Leid anzunehmen und den anderen Völkern Europas das wahre religiöse Leben zu bezeugen. Es war der literarische (!) Versuch, die geschichtliche Katastrophe zu verarbeiten und dem polnischen Volk Identität und Selbstbewusstsein zu vermitteln. Die Kirche in Polen hat ihrerseits diesen Mythos keineswegs geteilt oder gar gefördert.

- Viele Polen sorgen sich wegen der deutschen Außenpolitik, die seit jeher und auch heute besondere Beziehungen mit Russland aufzunehmen bemüht ist. Bei Deutschen nehmen sie eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber solchen Sorgen wahr.

- Es gibt offenbar die geheime Furcht vieler Polen, von manchen Deutschen in der Tradition des eingangs erwähnten demütigenden "Polenbildes" des 19. Jahrhunderts immer noch irgendwie als kulturell unterlegen angesehen zu werden. Vielleicht hängt damit auch das Empfinden mancher Polen zusammen, sie seien vielen Deutschen letztlich gleichgültig, man interessiere sich gar nicht recht für Polen.

- Schließlich scheinen manche Polen den sie nicht wenig irritierenden Eindruck zu haben, die Kirche in Deutschland habe zwar eine große Bewunderung für polnische Frömmigkeit, sehe diese aber doch als ein gutes Stück hinter den Aufbrüchen des II. Vatikanischen Konzils zurückgeblieben. Auf deutscher Seite - so meinen viele Polen - würden die enormen und offensichtlich erfolgreichen Anstrengungen der Kirche in Polen völlig übersehen, dem eindringenden Säkularismus zu widerstehen und an einer aus christlicher Tradition geformten Zivilgesellschaft zu bauen, indem "in tausenden Pfarrgemeinden sich zehntausende caritative, erzieherische, kulturelle und selbst verwaltende Initiativen entwickeln", wie ein Religionssoziologe kürzlich festgestellt hat.

In welchen Fragen Deutsche sich von Polen unverstanden fühlen:

- Viele Deutsche, die Verständnis für das Entsetzen der Polen ob der durch Deutsche im letzten Weltkrieg begangene furchtbaren Untaten zeigen, verstehen dennoch nicht recht, warum umgekehrt die Polen sich ihrerseits so schwer tun, ihren Anteil bei der von den Siegermächten beschlossenen Vertreibung der Deutschen aus Polen einzugestehen. Man versteht in diesem Zusammenhang nicht recht die lange Zurückhaltung gegenüber den Vertriebenen, den diesen gegenüber immer wiederkehrenden Verdacht des "Revanchismus" und die Beargwöhnung der Vertriebenenseelsorge.

- Viele Deutsche tun sich schwer mit der überraschend großen Unruhe und den Ängsten im polnischen Volk, wenn deutsche Vertriebenenverbände ein "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin errichten wollen. Nicht nur die Vertriebenenverbände fühlen sich missverstanden, wenn man in Polen befürchtet, man wolle letztlich von den Untaten des nationalsozialistischen Deutschlands ablenken und sich vornehmlich in der Rolle des Opfers sehen. Es zeigt sich an diesem Punkt einmal mehr, wie schwer wir uns noch immer tun, vorhandene Ängste voreinander wahrzunehmen und einfühlsam mit ihnen umzugehen.

- Nicht einsichtig ist es gerade den engagierten Katholiken unter uns Deutschen, dass sich Polen so schwer taten, den für die Deutschen schwer verständlichen Umgang mit den sog. "facultates specialissimae" offen zu erörtern, wie auch die Art und Weise des Umgangs mit den deutschen Bischöfen unmittelbar nach Kriegsende in den ehemals deutschen Gebieten zu besprechen.

- Manche Deutsche bedrückt das irgendwie spürbare Misstrauen mancher Polen, die Kirche in Deutschland, im "Land des Protestantismus", sei, von diesem arg beeinflusst, "protestantisiert", nicht "richtig katholisch" und unsicher in seiner Treue zum Apostolischen Stuhl.

- Schließlich fühlen sich manche bei uns missverstanden, wenn seitens polnischer Katholiken die Vermutung geäußert wird, die Kirche in Deutschland sei vom Säkularismus mehr als angekränkelt und drohe ihre Kraft zu verlieren.

Es mag ja an der einen oder anderen Wahrnehmung durchaus etwas dran sein. Aber sollte, müsste man unter Brüdern nicht noch intensiver darüber sprechen? Gerade dies gehört zum Geschenk der Versöhnung. Kardinal Döpfner hatte das in seinem Brief vom 15. Mai 1971 an Kardinal Wyszynski offensichtlich im Blick: "Entscheidend ist (für unsere beiden Völker), dass die Kenntnis voneinander verbessert wird und Vorurteile abgebaut werden; die katholische Kirche in der Bundesrepublik wird sich dieser Sorge besonders angelegen sein lassen." Versöhnung, die uns in Jesus Christus geschenkt, aber auch aufgetragen ist, meint ja: Die gestörte oder gar unterbrochene Beziehung soll geheilt, soll neu aufgenommen, es soll ein völlig neuer Anfang gemacht werden.

5. Ein neuer Anfang - Aufgaben der Zukunft

Versöhnung als neuer Anfang - Gott sei's gedankt - ist zwischen Deutschen und Polen doch wahrlich geschehen. Die Sprengkraft der Versöhnung hat längst begonnen uns zusammenzuführen und auch felsenharte Vorurteile und Stereotypen aufzubrechen, wenn  auch der Weg gewiss noch beharrlich weitergehen muss. Das zweite "Gemeinsame Wort" der polnischen und deutschen Bischöfe, das wir zum 40. Jahrestag des Briefwechsels von 1965 in dieser denkwürdigen Stunde unterzeichnen werden, gibt die Richtung unseres Weges in eine gemeinsame Zukunft unmissverständlich an. (…)

In der Versöhnungsbotschaft der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 und ihrer greifbaren Wirkungsgeschichte ist die ureigenste Aufgabe und Kraft der Kirche neu deutlich und wirksam geworden: die Botschaft der Versöhnung hier und heute zu bezeugen. Sie gilt es weiterzugeben - der kommenden Generation und dem ganzen Europa, wie es Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben "Ecclesia in Europa" entfaltet hat. Immer wieder fordert er auf: "Du, Kirche in Europa!" "Wenn also jemand in Christus ist" schreibt Paulus der zerstrittenen Gemeinde in Korinth, "dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat." (2 Kor 5.18f.)