Lebensgeschichten in kritischen Zeiten

Polnisch-Israelisch-Deutsches Psychiatertreffen in £ódŸ

Von Friedrich Leidnger

 

"Ihr macht keine Medizin! Was ihr hier macht, das ist Politik!" Mit diesen Worten begrüßte Marek Edelmann, der letzte noch lebende militärische Führer des jüdischen Ghettoaufstandes in Warschau, die mehr als 200 Kongressteilnehmer aus Polen, Deutschland, Israel und der Ukraine des 16. Deutsch-Polnischen Psychiatrie-Symposiums am 29. September 2005 in £ódŸ. Das Thema des Symposiums lautete: "Lebensgeschichte(n) in kritischen Zeiten". Mit diesem Titel wollten die Veranstalter einen Bogen von der "Geschichte" zur individuellen Lebensgeschichte schlagen. Jeder Mensch lebt seine Geschichte und die Persönlichkeit jedes Menschen wird in seiner Lebensgeschichte geformt. "Denn die Menschen", so sagt der Philosoph Odo Marquardt, "das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss man erzählen". Für die Psychiatrie haben Geschichten eine hervorragende Bedeutung. Geschichten erschließen einen Zugang zu existenziellen Konflikten, zu Leid und Krankheit, aber Geschichten enthalten auch Lösungen; nicht immer sind diese klar, oft sogar verborgen.

 

Viele Therapiemodelle bauen auf dem Erinnern und Erzählen der Lebensgeschichte auf. Erzählen und Zuhören von Geschichten schafft sowohl ein Bewusstsein von Individualität als auch eine gemeinsame Sprache, die die Grundlage für jede Verständigung, für jeden Dialog ist. Das gilt auch innerhalb größerer gesellschaftlicher Gruppen, ganz besonders für die Verständigung zwischen Deutschen und Polen.

Aber ist das noch Medizin? Eindringlich formulierte Edelmann seine Mahnung an die Psychiater und Psychotherapeuten im Saal. Mit großer Bewegung schilderte er die Grausamkeit des nationalsozialistischen Terrors und das anhaltende Leid derer, die ihm entronnen sind und für den Rest ihres Lebens gezeichnet überlebt haben. Denn vor den Folgen dieser Erlebnisse, die die Überlebenden alltäglich quälen und die ihr Leben beherrschen, erscheint jeder therapeutische Anspruch als vermessen, ja zynisch. Edelmann, der selber Arzt ist - er war bis zu seiner Pensionierung vor einigen Jahren als Kardiologe tätig - rief zur Aufklärung und Wahrheit auf, die Überlebenden könnten das Geschehene niemals vergessen.

Seit über 15 Jahren gibt es inzwischen diesen Deutsch-Polnischen Dialog auf dem Gebiet der Psychiatrie. Er knüpft zunächst an der wenig bekannten Tatsache an, dass der Mord an psychisch Kranken und Behinderten während des Dritten Reiches historisch eng mit dem deutschen Überfall auf Polen verknüpft ist. Der Euthanasieerlass Adolf Hitlers wurde zwar erst im Oktober 1939 abgefasst, aber bewusst auf den 1. September, den Tag des deutschen Überfalls auf Polen zurückdatiert. Der Krieg gegen Polen war auch der unmittelbare Auslöser der Mordaktion: Unmittelbar nach den vorrückenden deutschen Truppen machten sich Sondereinsatzgruppen und Wehrmachtseinheiten daran, die Krankenhäuser und Anstalten im Pommern und in den eroberten Gebieten Westpreußens leer zu morden. Massenerschießungen und später der Einsatz von Gaswagen - noch lange vor der systematischen Erfassung der unheilbar Kranken im Deutschen Reich - forderten Tausende Opfer unter den polnischen Patienten und ihren Ärzten und Betreuern. Besonders grausam war das Vorgehen der Deutschen gegenüber jüdischen Kranken. Später wurden Kranke aus West- und Norddeutschland in Anstalten im besetzten Polen verbracht, wo sie unter ärztlicher Leitung durch Erschießen, Verhungernlassen und Vergiften ermordet wurden. Eine historische Aufarbeitung dieser Morde hat kaum stattgefunden, strafrechtlich sind sie von wenigen Ausnahmen abgesehen, niemals verfolgt worden.

Erst 1983 erschien in der Fachzeitschrift "Sozialpsychiatrische Informationen" ein Aufsatz aus der Feder des polnischen Psychiaters Dr. Zdzis³aw Jaroszewski, der seit 1945 die Krankenmorde in den polnischen Anstalten während der deutschen Besatzung systematisch dokumentiert hatte. 1985 lud der Krakauer Chirurg und Medizinethiker Prof. Józef Bogusz den Gütersloher Psychiater Prof. Klaus Dörner und eine kleine Gruppe deutscher Ärzte zu dem internationalen Kongress "Krieg, Okkupation und Medizin", ein. Es kam zum ersten Kontakt mit Prof. Adam Szymusik, Direktor der psychiatrischen Klinik der Jagiellonen - Universität. Zwei Jahre später reiste eine Gruppe von 30 Frauen und Männern aus verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland zehn Tage lang durch Polen. Sie besuchten Orte an denen schreckliche und grausame Verbrechen begangen worden waren: Meseritz-Obrawalde, Dziekanka bei Gnesen, Warta, Kobierzyn bei Krakau und Auschwitz. Sie fanden in den Kliniken nicht nur die Spuren der Verbrechen, sondern herzliche gastfreundliche Aufnahme und kollegiales Interesse. In Krakau waren sie in den Häusern und Familien der überlebenden Auschwitzhäftlinge zu Gast.

Dieser Besuch, der für viele Deutsche der erste in Polen überhaupt war, schlug eine stabile Brücke, auf der psychiatrisch Tätige aus Deutschland und Polen in den folgenden Jahren in immer größerer Zahl und dichter und vielfältiger Weise miteinander in Kontakt gekommen sind, sich fachlich und menschlich austauschen können. Die im Jahre 1990 gegründete Deutsch-Polnische Gesellschaft für Seelische Gesundheit zählt inzwischen in beiden Ländern etwa 1.000 aktive Mitglieder. Zu ihr gehören Fachleute aus allen in der Psychiatrie tätigen Berufen, aber auch Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige psychisch Kranker. Sie sind sich einig in der Überzeugung, dass Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen sind, und dass die Psychiatrie, die ganze Medizin ihre moralische Position von dieser Vergangenheit aus zu bestimmen hat. Die Gesellschaft leistet eine ganz besondere Form der Erinnerungsarbeit: In über 50 Partnerschaften zwischen psychiatrischen Einrichtungen in Polen und in Deutschland setzt sie den Opfern des psychiatrischen Massenmordes ein Denkmal. Auf ihren jährlichen Symposien, abwechselnd in Polen und in Deutschland, formuliert sie ein Programm für eine Psychiatrie der Zukunft, die die Kranken als Subjekte behandelt und sich gegen jede Form der Diskriminierung und Benachteiligung wendet. Nachzulesen ist das in der Zeitschrift "Dialog", die selbstverständlich zweisprachig erscheint und in inzwischen 12 Ausgaben mit Schwerpunktthemen wie "Psychiatrie nach Auschwitz", "Vom Patienten zur Person", "Freiheit und Verantwortung" und zuletzt "Würde des Menschen" immer wieder den Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft schlägt. So bezieht die Gesellschaft aus dem Entsetzen über eine grausame Vergangenheit die Kraft zur Aufklärung, Verständigung, Zusammenarbeit und Freundschaft. Im Jahr 2000 erhielt die Gesellschaft den Deutsch-Polnischen Preis für besondere Verdienste um die Verständigung zwischen den beiden Ländern.

Vor allem aber geht es der Gesellschaft darum, die Sprachlosigkeit zu überwinden, die sich als Folge der bis heute nachwirkenden Vergangenheit über die Menschen in Polen und in Deutschland gelegt hat. Diese Sprachlosigkeit, die sich in isolierter Selbstbespiegelung oder in verantwortungslosem Geschwätz, in Desinteresse oder in Großmannssucht und manchmal auch bloß in Smalltalk oder oberflächlichen Versöhnungsritualen äußert.

Nahezu zwangsläufig ergab sich schon seit einigen Jahren eine Erweiterung des deutsch-polnischen Dialoges um den Aspekt der polnisch-jüdischen bzw. deutsch-jüdischen Beziehungen. Dem ging zum einen die kritische Reflektion des christlich-jüdischen Verhältnisses in Polen voran, dessen vielfältige und konfliktreiche Geschichte nicht ohne den brutalen Eingriff Deutschlands in die Geschichte Polens verständlich wäre. Im Herbst 1999 diskutierten polnische, israelische und deutsche Historiker und Psychiater im Zentrum für Jüdische Kultur in Krakau über "Mythen und Tabus" in den gegenseitigen Beziehungen, im Frühjahr 2000 entstand in Jerusalem nach dem Vorbild der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit die Polnisch-Israelische Gesellschaft für Seelische Gesundheit.

Nicht allein die polnisch-deutsche oder polnisch-jüdische Geschichte, auch die polnisch-ukrainische Geschichte ist seit einigen Jahren Thema der Gesellschaft geworden. Im Sommer 2005 veranstaltete die Gesellschaft gemeinsame mit der Universität L'viv (Lemberg) und der Psychiatrischen Gesellschaft der Ukraine ein gemeinsames Symposium in L'viv, an dem Vertreter aus Israel, Polen, Deutschland und der ukrainischen Psychiatrie teilnahmen. Dieses Symposium soll zum Ausgangspunkt eines Dialoges und einer neuen Kooperation über Grund- und Menschenrechte, gesellschaftliche Integration auch sozial schwacher und randständiger Menschen und über die Entwicklung einer zeitgemäßen psychiatrischen Versorgung in der Ukraine werden.

Und nun luden beide - die isaelisch-polnische und die deutsch-polnische - Gesellschaften gemeinsam zu dem Symposium in £ódŸ ein. Es konnte kaum ein besserer Ort für diesen Polnisch-Israelisch-Deutschen Dialog gefunden werden. £ódŸ war bis zur Besetzung durch die Wehrmacht 1939 ein Jahrhundert lang die Verkörperung einer modernen europäischen Utopie, in der Polen, Juden, Russen und Deutsche an einem atemberaubenden Projekt zusammenarbeiteten. Es endete im deutschen Besatzungsterror. Das Schicksal der im "Ghetto Litzmannstadt" eingeschlossenen und über 4 Jahre hinweg ermordeten Menschen ist eines der grausamsten Kapitel der Shoah.

"Erinnerung und Verantwortung" hatte Prof. Anna Wolff Powêska, die ehemalige Leiterin des Westinstituts in Posen ihren Vortrag zur Eröffnungsabend des Lodzer Symposiums überschrieben. Die dramatische Schicksalsgemeinschaft der Deutschen, Polen und Juden schaffe für diese drei Nationen eine besondere, wenn auch gewiss unterschiedliche, Verpflichtung zur Erinnerung und zur Verantwortung. Sie ergebe sich aus mehreren Umständen: Die Juden, das Volk mit der längsten Geschichte und der kürzesten Existenz eines eigenen Staates, haben seit Jahrhunderten im deutsch- und polnischsprachigen Raum gewohnt und die Kultur dieser beiden Nationen mit geschaffen. Die Schicksalsverflechtung äußere sich im jahrhundertealten jüdischen Kulturerbe auf dem Alten Kontinent, ohne das Europa nicht das wäre, was es ist. Die kollektive Erinnerung an Krieg und Holocaust sei nicht allein der Versuchung der Apologie und Verdrängung oder der politischen Instrumentierung zur Legitimierung bestehender Herrschaftsformen ausgesetzt. Sie scheitere oft auch an ihrem eigentlichen Gegenstand: "Wenn man also die Erinnerung an den Holocaust aus dem Gefängnis des Nichts befreien will, muss die Erinnerung an das Böse von der Erinnerung an das Gute und der Schmerz der Sinnlosigkeit von der Gewissheit begleitet werden, dass die menschliche Existenz einen Sinn hat - mit allem, was dazugehört. Den Schmerz der Erinnerung an den Holocaust kann man interpretieren als den Schmerz über das verletzte Gute. Das Gute lässt sich leichter erklären; das Böse bleibt unverständlich. Man kann es weder definieren noch erklären."

Die Fahrt nach £ódŸ war für manche Redner auf der Tagung eine schmerzhafte Rückkehr. Henry Szor, Psychoanalytiker in Tel Aviv, geboren nach dem Krieg in £ódŸ, als Kind mit der Familie nach Frankfurt am Main emigriert, nach dem Studium übergesiedelt nach Israel, erinnerte an das Schicksal der Menschen im Ghetto £ódŸ, wo auch die erste Frau seines Vaters und seine ältere Schwester den Tod fanden. Szor war zum ersten Mal seit seiner Kindheit wieder in £ódŸ. Schmerzhafte Erinnerungen an eine vernichtete Heimat, die selbst die Nachgeborenen prägen und nicht mehr loslassen. Seine Gefühle an seine Vaterstadt, den Ort seiner Geburt, die für ihn immer mit dem Ghetto verbunden ist, in dem er selbst nie leben musste, fasste er mit dem Spruch des israelischen Schriftstellers Jossi Hadar: "Aber Theresienstadt ist nicht Jerusalem. Da ist es unmöglich, sein Heimweh zu besingen."

Einen ganz anderen Blick eröffnete Katarzyna Zimmerer, Tochter von Joanna Olczak-Rolnikier, einer berühmten Schriftstellerin und Schauspielerin (sie gehörte zu den Gründern des Kabaretts "Piwnica Pod Baranami" in Krakau) und des langjährigen westdeutschen Korrespondenten, Schriftstellers und Kunstsammlers Ludwig Zimmerer. Ihre Familiengeschichte mit jüdisch-polnischen Wurzeln auf der mütterlichen und den bayrisch-fränkischen auf der väterlichen Seite bündelt die Absurdität nationalistischer Stereotype, schafft Identität und lässt doch einen Berg an unlösbaren Widersprüchen zurück. Nicht nur Katarzyna Zimmerer selbst, auch ihre Tochter erlebte als Kind antisemitische Anfeindungen - wegen ihres deutschen Namens. Als Katarzyna Zimmerer vor einigen Jahren versuchte, mit ihrer Mutter über ihre jüdische Herkunft zu sprechen, "gingen diese Gespräche irgendwie schief. Sie fragte mich sachlich, mit welcher jüdischen Welt ich mich identifizieren möchte, wenn unsere Familie seit über hundert Jahren nicht nur assimiliert sondern auch sehr tief im Polentum eingebettet ist." Selbst als Joanna Olczak-Rolnikier vor Jahren die Geschichte ihrer Familie als Buch veröffentlichte, empfand sie es als Verrat, die Geburtsurkunde ihrer Vorfahren zu erwähnen, die als Jüdinnen geboren waren und doch sehr für ihr Polentum gekämpft hatten. Katarzyna Zimmerer verdankt ihre Existenz einem ganzen Bündel von unwahrscheinlichen Zufällen, nicht zuletzt dem Zufall, nach dem Krieg geboren, und nicht Opfer des Holocaust geworden zu sein. Ihr Blick auf diese Geschichte verfestigt sich in dem verstörenden Satz: "Mein Volk hat mein Volk ermordet und mein Volk hat dabei zugeschaut".

Einen Kontrapunkt zu den sehr stark von persönlicher Betroffenheit geprägten Berichten der polnischen und israelischen Referenten bildeten Skizzen des Lüneburger Historikers Hans-Jürgen Bömelburg, der exemplarisch die Lebensläufe deutscher und polnischer Lodzer Bürger nachzeichnete, die zwischen Kollaboration, Anpassung und Widerstand alle guten und bösen Facetten des Lebens in der kritischen Zeit der deutschen Besatzung zeigten.

Der Tradition der deutsch-polnischen Psychiatriesymposien folgend gab es in zahlreichen Arbeitsgruppen Möglichkeiten des unmittelbaren und spontanen Austausches, so über den Film "Der Untergang", der in Polen und Deutschland zahlreiche Zuschauer in die Kinos gelockt hat und dabei sehr kontrovers diskutiert wurde, oder die Gefängnistagebücher des Psychiaters John Rittmeister, der 1943 wegen seines Widerstandes gegen das NS-Regime (in der Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe) hingerichtet wurde, über einen israelischen Offizier, der nach einem Kriegserlebnis so nachhaltig erschüttert ist, dass erst die Entdeckung eines bis dahin verdrängten Schicksals seiner Familie im Holocaust einen therapeutischen Ausweg bietet, oder über fachpsychiatrische Fragen, wie den Dialog zwischen Patienten, Angehörigen und Therapeuten, die Arbeit im multiprofessionellen Team oder die Aufgaben der Pflege.

Das 17. Deutsch-Polnische Psychiatrie-Symposium findet vom 28.9. - 30.9.2006 in Ravensburg statt. Es steht unter dem Thema "Von Kunden und Menschen" und beschäftigt sich mit den Chancen einer öffentlich getragenen Daseinsfürsorge in einer Gesellschaft, die alle sozialen Dienste den Marktgesetzen unterwerfen und privatem Gewinnstreben aussetzen will.

Die schwierigen Dinge kann man wohl nur erfassen, wenn man sie von ihrem Rand her betrachtet. Die Psychiatrie ist so ein Randgebiet. Es scheint, als habe de deutsch-polnische Dialog auf dem Gebiet der Psychiatrie etwas Wesentliches zum Diskurs über den Aufbau einer europäischen Zivilgesellschaft beizutragen.

 

 

„… Wir treffen uns in £ódŸ an einem abgelegenen Ort und doch mitten in Europa. Hier - am Rande des Russischen Reiches gelegen - entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb kürzester Zeit ein Gemeinwesen, das alle Eigenschaften der kapitalistischen Moderne radikal in sich vereinigte. Der Bruch mit der Vergangenheit war total. Hier regierte das Geld, das alle Verhältnisse revolutionierte, vor dem alle gleich waren und das die Menschen nach neuen Regeln unterschied: Hier schamloser, trunkener Reichtum und dort erbärmliche Armut. Das "Gelobte Land" für die einen, die "schlechte Stadt" für die andern. £ódŸ wurde das erste große Gemeinschaftsprojekt der Moderne: Polnische Adlige, deutsche Bürger und jüdische Händler durchbrachen alle feudalistischen Klassenschranken und wurden zu kapitalistischen Unternehmern. Russen, Juden, Polen und Deutsche, die vor Armut und Hunger von überall her hierhin zogen, bildeten eine neue Klasse: das Industrieproletariat. Sie schufen eine Stadt, die weithin ausstrahlte, den ganzen europäischen Kontinent mit ihren Handelsbeziehungen überspannte: Von Odessa nach St. Petersburg, Berlin, Hamburg, Lissabon.

Vor allem den Juden verhieß diese frühe Prophetin einer globalen Welt die Befreiung aus den Fesseln der alten Ordnung. £ódŸ war das "polnische Jerusalem", wie der jiddisch-polnische Romancier Israel Joshua Singer vor dem Krieg schrieb. Mehr als ein Drittel der über 500.000 Einwohner, auf die die Stadt um die Jahrhundertwende angewachsen war, waren Juden.

Die "Böse Stadt", das "Gelobte Land": Die Verheißung des Glücks hielt gerade einmal ein Jahrhundert. Die Hoffnung der Menschen mit Mut, Erfindergeist und harter Arbeit eine gemeinsame Zukunft in Europa zu errichten, ging in £ódŸ mit einem entsetzlichen Akt des Verbrechens zu Ende. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde diese Stadt gänzlich unter deutscher Herrschaft genommen. Sie wurde ihres Namens beraubt, ihre Bewohner gedemütigt und ausgeplündert, das trotz aller Konflikte, Spannungen und Gegensätze lebende, pulsierende Gemeinwesen wurde zerschlagen, und alle Juden im Herzen dieser Stadt zu einem qualvollen und brutalen Sterben verurteilt. Das Ghetto £ódŸ mit seinen etwa 250.000 Einwohnern war nicht nur der Ort der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, hier wurde die Idee dieser Stadt, ihre Seele, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft vernichtet. Dieser monströse Massenmord, für den hunderte deutscher Beamter und Militärs die unmittelbare Verantwortung tragen, ist in Deutschland so gut wie unbeachtet geblieben. Als vor einem Jahr die Stadt und ihre Bewohner und mit ihnen die ganze polnische Nation und die Juden in aller Welt in einer beeindruckenden Zeremonie des 60. Jahrestages der Deportation der letzten noch lebenden 65.000 Lodzer Juden in die Gaskammern nach Auschwitz gedachten, da ließ sich die neue Bundesrepublik Deutschland durch einen subalternen Beamten der Botschaft in Warschau vertreten. Die deutschen Medien nahmen von der Veranstaltung so gut wie keine Notiz.“    

(Aus der Begrüßung durch den Vorsitzenden der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit e.V. Dr. Friedrich Leidinger)