"Vertreibung" im Spannungsfeld von Politik und Gedächtnis

Eine Sammelrezension

Von Joachim Neander, Kraków

"Die Bedeutung der Vertreibungen und des Vertreibungsdiskurses für das Selbstverständnis, die Selbstdarstellung und das Selbstbild der polnischen Gesellschaft seit 1945 rührt an den Kern des polnischen Geschichtsbildes." Mit dieser Feststellung beginnt Hans-Jürgen Bömelburg seine profunde Analyse des "polnischen Monolog[s] über Flucht und Vertreibung und seine deutsch-polnischen Ursachen."1 Bewusst hat der Autor das Wort "Monolog" gewählt, denn zu einem Dialog, einem polnisch-deutschen Zwie-Gespräch über "Vertreibung", sei es bisher noch nicht gekommen, von vereinzelten Ansätzen in Kreisen Intellektueller nach 1990 abgesehen. Beide Seiten, die deutsche wie die polnische, hätten bisher Monologe geführt und aneinander vorbei geredet. Dabei habe die deutsche Seite den innerpolnischen Diskurs entweder überhaupt nicht oder sehr verspätet wahrgenommen, wohingegen die polnische Seite stets seismographisch auf den innerdeutschen Vertreibungsdiskurs reagiert habe.

 

Bömelburg skizziert eingangs das polnische master narrative über die Bevölkerungsverschiebungen in den durch das Potsdamer Abkommen an Polen gefallenen ehemals deutschen Territorien, eine Erzählung, die auch noch heute das Geschichtsbild der über Dreißigjährigen in Polen prägt. Terminologisch wird in ihr das Wort "Vertreibung" bewusst vermieden. Statt dessen wird - auch im Zusammenhang mit der Zwangsaussiedlung ethnischer Polen aus den nach 1945 an die Sowjetunion gefallenen Teilen Vorkriegspolens - neutral klingend von "Aussiedlung", "Umsiedlung", "Transfer" oder gar "Repatriierung" der Deutschen gesprochen.2 Gerechtfertigt wird diese Maßnahme in erster Linie als Sühne für die durch Krieg und Okkupation bedingten Leiden und Verluste des polnischen Volkes, für welche die Deutschen kollektiv verantwortlich gemacht werden.3 Als weitere Argumente werden vorgebracht: Die Deutschen hätten ohnehin mehrheitlich das Territorium schon vor Kriegsende freiwillig verlassen, die Erfahrungen der Zeit von 1919 bis 1945 hätten gezeigt, dass Deutsche in Polen einen ständigen Unruheherd bilden würden, weswegen die Alliierten in Potsdam (17.7.-2.8.1945) die Aussiedlung veranlasst und auch allein zu verantworten hätten, und nicht zuletzt sei die polnische Bevölkerung auf "urpolnisches" Gebiet zurück gekehrt, das die Deutschen den Polen im Laufe der Jahrhunderte geraubt gehabt hätten. Unterfüttert wurde dies alles durch einen Pionier-Mythos: Die Neusiedler hätten eine von den Deutschen verlassene und verwüstete Landschaft vorgefunden, die sie unter erheblichen Mühen hätten rekultivieren und organisieren müssen.

Obwohl hier vielfach eigene lebensgeschichtliche Erfahrungen an die deutsche Besatzungs- und die unmittelbare Nachkriegszeit angesprochen wurden, was dieser Argumentationslinie auch heute noch Aktualität verleiht und sie auch außerhalb Polens vielfach rezipiert und akzeptiert werden ließ, seien hier doch einige kritische Anmerkungen angebracht. Den etwa 400 Breslauer jüdischen Holocaust-Überlebenden, die im August 1945 ihre Heimatstadt verlassen mussten, dürfte wohl kaum jemand ernsthaft Mitschuld oder auch nur Nutznießerschaft an den von Deutschen in Polen begangenen Verbrechen zuschreiben wollen. Zivilpersonen, die vor der herannahenden Front fliehen, "Freiwilligkeit" und fehlenden Rückkehrwillen zu unterstellen, ist zumindest zynisch - kein Pole würde dies gegenüber seinen Anfang September 1939 vor den Deutschen geflohenen eigenen Landsleuten tun. Die Forderung nach der Aussiedlung sämtlicher Deutschen aus dem Nachkriegspolen wurde von der polnischen Exilregierung schon 1940 erhoben und auch vor den Beschlüssen von Potsdam in die Tat umzusetzen begonnen (sog. "wilde Vertreibungen"). Der Deutsche Orden (polnisch Krzy¿acy) wurde 1226 von Konrad Mazowiecki zur Hilfe gegen die heidnischen Pruzzen ins Land gerufen und mit dem Kulmer Land belehnt, und Schlesien ging 1335 (gegen den Verzicht der böhmischen Krone auf ihre Ansprüche auf Mazowsze und die polnische Königswürde sowie die Zahlung einer hohen Geldsumme) friedlich an Böhmen und damit in den Bestand des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation über. (Der König von Böhmen war einer der sieben Kurfürsten, die das Gremium für die Wahl des deutschen Kaisers bildeten.) Und nicht zuletzt spricht man heute auch in Polen offen darüber, dass ein Großteil der Verwüstungen in den ehemals deutschen Gebieten, etwa die totale Zerstörung der Danziger Altstadt oder die umfangreichen Demontagen von Eisenbahn- und Industrieanlagen, nach Ende der Kampfhandlungen und in sowjetischer Regie stattfanden.

Obwohl bis 1989 in Polen die Zwangsaussiedlungen von Deutschen kaum thematisiert, und wenn, dann als notwendig, gerecht und human verlaufen4 dargestellt wurden, gab es zwei bemerkenswerte Ausnahmen, die jedoch erwartungsgemäß auf heftigen Widerspruch im Lande stießen, nicht nur von staatlich-offizieller Seite. Als wichtigste darf das Schreiben der polnischen an die deutschen Bischöfe vom November 1965 gelten ("Wir strecken unsere Hände zu Ihnen ... gewähren Vergebung und bitten um Vergebung"). Obwohl in dem Schreiben nur vage und im allgemein-christlichen Sinne von "Schuld" auch auf polnischer Seite gesprochen wurde, reagierte die Öffentlichkeit mit einem Sturm der Entrüstung und üblen Verdächtigungen an die Adresse der Oberhirten. Zu Recht bemerkt Bömelburg, dass die polnischen Bischöfe vergebens auf einen gleichartigen Schritt von deutscher Seite warteten und sieht hierin eine von vielen auf deutscher Seite verpassten Chancen zum Dialog.

1981 erschien zuerst im Exil und anschließend vielfach in der polnischen Untergrundpresse nachgedruckt Jan Józef Lipskis Essay "Zwei Vaterländer - zwei Patriotismen. Anmerkungen zu nationalem Größenwahn und Fremdenfeindlichkeit der Polen".5 Auch hier reagierten offizielle Stellen mit einer Flut von gehässigen Anklagen auf das Infragestellen des sorgsam gepflegten Selbstbildes vom toleranten, edlen, zu keiner bösen Tat fähigen Polen, der immer nur unschuldiges Opfer finsterer Machenschaften der "Anderen" gewesen sei, eine auf die romantische Tradition des frühen 19. Jahrhunderts (Adam Mickiewicz: "Polen ist der Christus unter den Nationen") zurück gehende und auch heute noch in Polen dominierende Weltsicht. Lipskis Einfluss reichte jedoch nicht über den kleinen Kreis (meist oppositioneller) Intellektueller hinaus.

Die politische Wende 1989 ermöglichte erstmals einen freien Meinungsaustausch auch über die Zwangsaussiedlungen der deutschen, aber auch der als national unzuverlässig angesehenen ruthenischen Bevölkerung ("Aktion Wis³a") im Nachkriegspolen. In den Jahren 1993 bis 2000 wurde in den Spalten auflagenstarker Tages- und Wochenzeitungen, auch unter Beteiligung deutscher und internationaler HistorikerInnen und JournalistInnen, ein offener Diskurs zum Thema "Vertreibungen" geführt. Von deutscher Seite wurden die während des Krieges erfolgten Vertreibungen von Polen (und Juden polnischer Staatsangehörigkeit), von polnischer Seite der Mantel des Verschweigens, der nach 1945 über am Ort begangene Verbrechen an Deutschen gedeckt wurde, kritisch thematisiert. Auch das Instytut Pamiêci Narodowej (IPN), Rechtsnachfolger der Hauptkommission zur Untersuchung der faschistischen Verbrechen am polnischen Volk, nahm sich des Themas an und führte Ermittlungen durch. Des Polnischen kundigen LeserInnen sei etwa der Bericht der Staatsanwälte Dziurok und Majcher Salomon Morel i obóz w Œwiêtoch³owicach-Zgodzie über das 1945 als Internierungslager für Reichs- und Volksdeutsche benutzte ehemalige KZ "Eintrachthütte" empfohlen, der auf der Website des IPN (http://ipn.gov.pl) abrufbar ist.

Dieser "Diskurs einer gemeinsamen Opfererfahrung" (Bömelburg) - ergänze: und Tätererfahrung - blieb jedoch sowohl in Deutschland als auch in Polen auf intellektuelle Kreise beschränkt. In Polen stieß er schnell an Grenzen auf Grund der im kollektiven Selbstverständnis begründeten weitgehenden Unfähigkeit, auch eigenes Schuldigwerden außerhalb des ritualisierten religiösen Bereichs wahrzunehmen und zu akzeptieren, sowie der im kollektiven Gedächtnis tief verankerten Vorstellung von den Deutschen als den archetypischen "Tätern". Vollends zum politischen und Medieneklat kam es jedoch erst, als die seit der Jahrtausendwende in Deutschland aufkommende Tendenz, sich im Zweiten Weltkrieg nicht immer nur als Täter, sondern auch als Opfer zu sehen, sich im vom Bund der Vertriebenen initiierten Plan manifestierte, ein "Zentrum für Vertreibungen" in Berlin zu schaffen. Die Nachricht hiervon löste in Polen einen Sturm der Entrüstung aus, zumal etwa gleichzeitig eine sich höchst unglücklich "Preußische Treuhand"6 nennende private Organisation im Namen von Heimatvertriebenen auftrat mit Forderungen auf Rückgabe oder Entschädigung, ähnlich den nach 1990 getroffenen innerdeutschen Regelungen. In einem breiten Konsens sieht die polnische Öffentlichkeit in "Zentrum" und "Treuhand" eine für Polen unakzeptable Verbindung von materiellen Interessen und dem Versuch, "die Geschichte" in einem für die Deutschen günstigen Sinne "umzuschreiben".

Gerade letzteres trifft in Polen, einem Land mit ausgesprochen starkem Interesse für Geschichte auch in den weniger gebildeten Bevölkerungskreisen, auf entschiedenen Widerspruch, da es das herrschende polnische Geschichtsbild in Frage stellt. Dieses wird seit jeher vorwiegend durch (schöngeistige) Literatur und Historienfilme vermittelt, aber auch durch "patriotische Erziehung" im Schulunterricht und vielfältige nationale Gedenkfeiern. Die Grenzen zwischen Literatur und Historiographie sind fließend und traditionell wird in Polen von beiden erwartet, den Leser moralisch aufzurichten und vor allem der "Staatsräson" zu dienen, wie auch immer diese - oft wechselnd - verstanden wird. Dies alles hat zur Bildung vielfältiger nationaler Mythen geführt, die niemand im Lande ungestraft in Frage stellt.7 Zwei Jahrhunderte Zensur und Selbstzensur8 haben nicht unerheblich dazu beigetragen, dass die heimische Geschichtsschreibung in Wissenschaftskreisen außerhalb Polens immer noch höchst kritisch gesehen wird.

Der an der Universität von Stanford, Kalifornien, lehrende Jurist Pawel Lutomski hat in einem Beitrag für die renommierte Zeitschrift German Studies Review die durch das "Zentrum für Vertreibungen" aufgeworfene Problematik vom Standpunkt der internationalen Beziehungen näher beleuchtet.9 Er untersucht unter anderem die materielle Seite des Konflikts: das eskalierende gegenseitige Aufrechnen von Forderungen, sei es für Verluste durch Vertreibung oder durch Kriegs- und Besatzungshandeln. Zwar sieht er die "Nulloption" als die einzig vernünftige: Beide Seiten verpflichten sich völkerrechtlich, keine materiellen Ansprüche an die Gegenseite zu stellen und sichern dies durch innerstaatliche Gesetzgebung ab, sieht aber auf Grund der politischen Lage in Polen und der in diesem Lande herrschenden "Alles-oder-Nichts-Mentalität" in absehbarer Zeit keine Chancen der Realisierung.

Beide Autoren, sowohl der Deutsche Bömelburg als auch der Pole Lutomski, sehen sympathischerweise die Fehler und Versäumnisse, die zu der derzeitigen festgefahrenen Situation geführt haben, in erster Linie bei ihren eigenen Landsleuten. Beide sind pessimistisch in einer Prognose für die nächste Zukunft. Bömelburg sieht auf deutscher Seite eine weitverbreitete Unfähigkeit, die auf lebensgeschichtlichen Erfahrungen und deren Verarbeitung zum kollektiven Gedächtnis beruhenden Ängste und Befürchtungen der Polen ernst zu nehmen, während Lutomski "bei den kulturellen und politischen Eliten" seines Landes "die Unfähigkeit [sieht], auf die Herausforderungen zu reagieren, die ein kultureller Prozess aufwirft, in dem bedeutende Teile des Selbstverständnisses der Deutschen neu definiert werden". Beide machen auf beiden Seiten "Extremisten in Politik und Medien" aus, die einen nicht-nationalistischen Diskurs über Vertreibungen behindern, indem sie alte Feindbilder reaktivieren und für innenpolitische Zwecke instrumentalisieren. Zwar hat die neue deutsche Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart, ein Berliner "Zentrum für Vertreibungen" nicht zu unterstützen und damit einen bedeutenden Stolperstein für die deutsch-polnische Verständigung aus dem Wege geräumt. Die in der Kampagne zu den Parlaments- und Präsidentenwahlen 2005 in Polen angeschlagenen Töne und die Wahlergebnisse machen jedoch wenig Hoffnung auf eine Änderung des polnischen Standpunktes in absehbarer Zeit.

Anmerkungen:

[1] H.J. Bömelburg, "Gestörte Kommunikation. Der polnische Monolog über Flucht und Vertreibung und seine deutsch-polnischen Ursachen", in: Mittelweg 36 3/2005, S.35-52.

[2] Es ist international üblich geworden, einer Minderheit zuzugestehen, dass sie sich selbst ihren Namen wählt und auch erwarten darf, von der Mehrheit so bezeichnet zu werden. Man denke etwa an "Sinti und Roma" statt "Zigeuner" oder "Native Americans" statt "Indianer". Ebenso billigt man auch diesen Gruppen zu, selbst zu definieren, was sie als Diskriminierung sehen ("Antiziganismus") oder als zugefügtes Leid empfinden (die Verdrängung aus ihren angestammten Siedlungsgebieten), auch wenn die Mehrheit es anders sieht. In diesem Sinne wäre es "politisch korrekter", auch im Deutschen die von den Betroffenen gewählte Bezeichnung "Heimatvertriebene" zu verwenden statt der in Polen und seinerzeit in der DDR üblichen "neutralen" Termini.

[3] So unlängst noch der seinerzeitige israelische Botschafter in Polen, Szewach Weiss: Die Vertreibung der Deutschen sei die gerechte Strafe für den von ihnen begangenen Holocaust gewesen. GW Nr. 216, 16. 9. 2003.

[4] Verständlicherweise haben die, die sich als "Opfer" fühlen, eine andere Sicht auf die Ereignisse als die, die zwangsweisen Umsiedlungen veranlasst oder durchgeführt haben.

[5] Originaltitel: Dwie ojczyzny - dwa patriotyzmy. Uwagi o megalomanii narodowej i ksenofobii Polaków.

[6] Sowohl das Wort "preußisch" als auch der Begriff "Treuhand" erwecken in Polen unangenehme Assoziationen an Teilungs- und Besatzungszeit: Preußen war eine der Teilungsmächte, und  "Treuhänder" hießen offiziell diejenigen Deutschen, die im Kriege enteignete polnische oder jüdische Firmen übernommen hatten.

Fortsetzung S. 22

Fortsetzung von S. 21

[7] So verlor der Bydgoszczer Historiker Prof. Jastrzêbski seine Stelle an der Pädagogischen Hochschule, nachdem er mehrfach öffentlich die offizielle polnische Version von den Ereignissen um den "Bromberger Blutsonntag" Anfang September 1939 in Frage gestellt hatte.

[8] Hierzu kritisch der Nestor der polnischen Historiographie, Akademiemitglied Janusz Tazbir, "O czym siê pisaæ nie godzi³o", in: Gazeta Wyborcza 27-28.12.2003.

[9] Pawel Lutomski, "The Debate about a Center against Expulsions: An Unexpected Crisis in German-Polish Relations?", in: German Studies Review XVII/3, 2004, S. 449-468.