Alles auf eine Karte!

Von Holger Politt

 

Die ersten drei Monate unter neuer Regierung und die ersten Wochen unter dem neuen Präsidenten haben an und für sich wenig Überraschendes gebracht und doch ist die Verwirrung selten so groß gewesen. Das Regieren aus der Minderheitsposition fällt der PiS-Regierung unter Kazimierz Marcinkiewicz schwerer als vielleicht erwartet, weshalb Polens neuer Präsident frühzeitig zu erkennen gab, dass er die Option einer vorzeitigen Parlamentsauflösung, die ihm im Zusammenhang mit der Haushaltsverabschiedung verfassungsrechtlich ohne vorherigen Mehrheitsbeschluss des Parlaments zusteht, ernsthaft in Erwägung zog. Bis zum späten Nachmittag des 13. Februar - dann obsiegte die Option seines Zwillingsbruders, der als PiS-Vorsitzender mittlerweile zum starken Mann in der Politik Polens aufgestiegen ist. Ihm gelang mittels eines Stabilitätspakts, die kleineren Parteien LPR (Liga der polnischen Familien) und Samoobrona ins Boot der Minderheitsregierung zu holen.

 

Für die Sicherung einer parlamentarischen Mehrheit zahlte der PiS-Vorsitzende einen kleinen Preis - die Aussicht, keine Neuwahlen auszuschreiben. Im Bunde mit seinem Präsidentenbruder gelang es ihm am letzten Tag der verfassungsmäßigen Frist noch einmal, den Preis zu drücken. Die Drohung, der Präsident könnte das Parlament auflösen, zwang die kleinen Stabilitätspartner auf die Knie. Sie unterschrieben einen Blankoscheck, worauf sie im Prinzip erklärten, im Rahmen des Paktes keine Gesetzesänderungsvorschläge gegen den PiS-Willen vorzunehmen. Das reicht einstweilen den Kaczyñski-Brüdern Jaros³aw (Vorsitzender) und Lech (Präsident). Ob sie die Rechnung ohne Wirt gemacht haben, wird sich zeigen. Wollen sie tatsächlich ihre vierte Republik erreichen, müssten sie von jetzt an alles auf eine Karte setzen.

Der Stabilitätspakt nämlich, so meinen die meisten Beobachter an der Weichsel einhellig, werde das Jahr nicht überleben. LPR und Samoobrona haben das, was sie zu bieten hatten, veräußert. Ab jetzt werden sie nur noch Klotz am Bein sein. Da das Parlament sich von nun an für geraume Zeit (bis zur Haushaltsrunde in einem Jahr) nur noch selber auflösen kann (mit einfacher Mehrheit), sind sie im strategischen Spiel der PiS-Oberen ab sofort unbrauchbar geworden, da sie einer Selbstauflösung des Parlaments bei Gefahr des eigenen Untergangs nicht zustimmen können. Eine Selbstauflösung des Parlaments - genau das wäre die gewünschte Initialzündung für die vierte Republik - ist ab sofort nur noch mit Einwilligung der PO (Bürgerplattform) möglich. Bevor es dazu kommen könnte, müsste PiS seine Hausaufgaben machen - einen national-katholischen Block schaffen. Erstes Opfer wäre die LPR, die beinahe organisch in der übermächtig gewordenen Konkurrentin aufgehen könnte. Der Samoobrona müsste der soziale Schneid abgekauft werden, denn alleine aus dieser Positionierung heraus zieht sie noch ihre Stärke, die ihr aktuell laut Umfragen sogar ein parlamentarisches Überleben verheißen könnte. Aber die prononcierte soziale Rhetorik der Marcinkiewicz-Regierung könnte sich als stark genug erweisen, auch wenn mit Ablauf der Zeit bei nüchterner Betrachtung sich herumsprechen könnte, auf welch dünnen Sand das alles gebaut wurde.

Der Ministerpräsident selbst kann ab sofort nicht mehr als ein bloßer Verlegenheitskandidat gelten, als der er bei Amtsantritt nicht nur in Oppositionskreisen angesehen wurde. Einerseits ist er laut Umfragen zum beliebtesten PiS-Politiker aufgestiegen, andererseits kann eine Auflösung des Parlaments über seinen Kopf hinweg eben auch nur noch erfolgen, wenn PiS und PO zusammengehen sollten. Für die nächsten Monate allerdings ein nicht zu erwartender Fall. Gelänge es ihm im Kabinett, seine Popularität in gefällige Politik umzumünzen, wäre er aus Sicht des national-katholischen Lagers einer der wichtigsten Garanten für die Aufrechterhaltung und den erhofften Ausbau des aktuellen Wählerhochs. Erforderlich wären bis zum Ende des Jahres 30% +x und möglichst ein kleiner Vorsprung vor der PO-Konkurrenz. Kleiner Vorsprung, weil die zusammengenommenen 60% der Wählerstimmen ausreichen könnten, um im Parlament die für Verfassungsänderungen erforderliche Zweidrittelmehrheit zu bekommen. Erst in einem solchen Fall, das wissen alle Akteure auf der rechten Seite nur zu gut, wäre der Weg zur vierten Republik im geltenden gesetzlichen Rahmen überhaupt möglich. Sogar mehr: er wäre dann möglich und das dürfte Verlockung genug sein - nicht nur in den Köpfen der PiS-Strategen.

Vierte Republik hieße formal Aufbau einer Präsidialrepublik und Einführung des Mehrheitswahlrechts. Anstelle der heute im Parlament („verwirrenden“) existierenden Parteienvielfalt hätte es der Wähler („der Einfachheit halber“) nur noch mit zwei großen (einzig aussichtsreichen) Wahlblöcken zu tun - einem national-katholischen Block (um PiS herum) und einem liberal-konservativen Block (um die PO herum). Eine Aussicht, die beim Durchschnittswähler augenblicklich gar nicht einmal so unbeliebt ist!

Noch vor Jahresfrist galten PiS und PO als unzertrennbare Partner im konservativen Lager. PiS gab sich national-katholischer und erhielt kräftigen Aufwind nach dem Papsttod, die PO positionierte sich als „moderne Wirtschaftspartei“, die an liberalen Werten nicht gänzlich vorbeikommt. Gemeinsamer Hauptfeind der beiden Gruppierungen waren die „Postkommunisten“, die ein für alle Male von den Hebeln der Macht entfernt werden sollten. Und genau hier tauchte die Idee einer anderen Republik mit anderen Spielregeln auf, sollte doch eine Wiederholung von 1993 und 2001, als die Linke aus der Opposition heraus an die Regierungshebel gelangte, verhindert werden.

Die Parlamentswahlen 2005 brachten so gesehen eine Enttäuschung, wurde doch die beabsichtigte Zweidrittelmehrheit deutlich verfehlt. Seitdem beherrscht ein Spiel die politische Szene, wie es vor den Wahlen kaum jemand für möglich gehalten hätte. PiS und PO stilisieren sich seit Wochen und eindrucksvoll, weil in aller Öffentlichkeit, also ungeniert zu gegenseitigen Hauptfeinden hoch. Die Inszenierung einer unglaublichen Polarisierung beginnt zu wirken. Nutznießer sind - wen sollte es wundern - beide Gruppierungen. Hinter dem Ganzen steht aber nichts weiter als der erstrebte Weg zur vierten Republik, den nur beide gemeinsam gehen können.

Wie beim Kartenspiel auch besteht freilich die Gefahr des Überreizens. Etwa wenn der PiS-Vorsitzende und Präsidenten-Bruder die PO-Führung über Polens meistgelesenes Blatt „Gazeta Wyborcza“ des „antistaatlichen (also staatsfeindlichen) Abenteurertums“ bezichtigt. Viele Beobachter meinen mittlerweile, dass sich PiS und PO (bzw. deren Führungen) nach Schlammschlachten dieses Stils in absehbarer Zeit nicht mehr auf gemeinsame politische Projekte einigen werden können. Sie geben Entwarnung und halten der Kaczyñski-Brüder vierte Republik mittlerweile eher für einen großen Bluff aus Wahlkampfzeiten. Sie übersehen nur, dass der gegenwärtig wichtigste politische Akteur Polens - das PiS-Lager - jezt alles auf eine Karte setzt. Und die Versuchung ist groß.