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Trotz neuer Gesetze kein Ende der alten Vorurteile gegenüber sexuellen Minderheiten

Von Christiane Thoms

 

Polen gehört seit dem 1.Mai 2004 zur EU. Um dazu zugehören, musste das Land, wie alle anderen Mitgliedsstaaten auch, die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen. Mit der Umsetzung dieses Abkommens scheint es aber zu hapern. Auf Druck der Europäischen Union haben mehrere osteuropäische Beitrittskandidaten Gesetze abgeschafft, die Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminieren. Doch selbst in den Ländern, in denen gleichgeschlechtliche Liebe nicht mehr unter Strafe gestellt ist, sehen sich Homosexuelle oft mit Hass, Gewalt und Unverständnis konfrontiert. Organisationen, die sich für die Rechte von nicht-heterosexuellen Menschen einsetzen, entwickeln sich nur langsam und werden vielfach von staatlicher Seite behindert.

 

Auch Polen gehört zu den osteuropäischen Ländern, die Homosexualität als Straftatbestand aus dem Gesetzbuch gestrichen haben. Im Zuge der Regierungsneubildung im letzten Jahr in Polen hat sich jedoch die Situation für Lesben, Schwule und Transgenders immens verschärft. Der neue Präsident, Lech Kaczynski (PiS), sprach nach seiner Wahl von einer vierten Republik, von einer neuen Zeit, die jetzt beginne.

Kein Klima für „Andere“

Das Wahlergebnis in Polen scheint ein Sieg für die Rechten und eine Niederlage für das Demokratieverständnis zu sein: Durch ein stilles Bündnis der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) mit der Samoobrona und der "Liga der polnischen Familien" (LPR) regiert nun eine Minderheitsregierung. Mit 40 Prozent verzeichnete das Land die schwächste Wahlbeteiligung seit 1989.

Laut einer Meinungsumfrage betrachten fast neunzig Prozent der Polen und Polinnen Homosexualität als etwas Unnatürliches. Menschen, die sich zu ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe bekennen, werden als Angriff auf fundamentale Werte betrachtet. Aus Angst vor Repressalien verschweigen viele deshalb ihre sexuelle Orientierung. Die Berliner Zeitung titelte: "Es war nie einfach, in Polen schwul zu sein. Seitdem das Land einen neuen Präsidenten hat, ist es noch viel schwieriger geworden". In diesem Zeitungsartikel kommt der Chef des polnischen Schwulenverbandes, Szymon Niemiec, zu Wort: "Es geht nicht nur um die Rechte der Homosexuellen, sondern um die Demokratie an sich".

Es stellt sich an dieser Stelle unweigerlich die Frage, inwiefern Organisationen, Debatten und Wertorientierungen im Stande sind, die Demokratie zu festigen. Eine große Teilhabe am Demokratisierungsprozess würde in diesem Fall bedeuten, dass die formelle Demokratie und eine aktive Zivilgesellschaft als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen keinen Gegensatz bilden, sondern aufeinander angewiesen sind. Die Interessenformulierung und das politische Handeln sind dabei als Faktoren für genau diese Festigung der Demokratisierung zu sehen. Wie die in der polnischen Zivilgesellschaft formulierten Partizipationsansprüche einer sexuellen Minderheit bewertet und von der politischen Gesellschaft aufgenommen und verarbeitet werden, zeigt beispielsweise die am "Toleranzmarsch" entfachte Debatte.

Wie den polnischen Medien im November 2005 zu entnehmen war, wurde der am internationalen Tag der Toleranz geplante "Toleranzmarsch" von offizieller Seite in Poznañ verboten. Der ordnungsgemäß angemeldete und zuerst genehmigte "Toleranzmarsch" wurde erst nach massivem Druck von Vertretern der regierenden konservativ-populistischen PiS (Recht und Gerechtigkeit) und der rechtsnationalistischen LPR (Liga der Polnischen Familien) verboten. Als Gründe für das Verbot waren die "Bedrohung der Werte" sowie die "Gefahr der öffentlichen Sicherheit" zu hören und zu lesen.

Dennoch fand am 19.11.2005 eine der Toleranz, Solidarität und Antidiskriminierung gewidmeten Demonstration statt, zu der die polnischen Grünen, feministische sowie lesbisch-schwule Organisationen aufgerufen hatten. Es bleiben Bilder einer von der Polizei gewaltsam aufgelösten Demonstration mit rund 65 Festgenommenen. Diese festgenommenen TeilnehmerInnen des Toleranzmarsches sind inzwischen durch ein bemerkenswertes Gerichtsurteil straffrei wieder freigelassen worden.

Sowohl Polen als auch Deutschland, Österreich, Italien und die Schweiz haben auf die durch den Toleranzmarsch entfachte Debatte entsprechend reagiert.

Amnesty International (AI) zeigt sich über das intolerante Klima in Polen gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trangenders besorgt. In einem entsprechenden Statement spricht AI nicht nur die in Warschau  verbotenen Demonstrationen in den Jahren 2004 und 2005 an, sondern gibt auch die offen homophobe Sprache der polnischen PolitikerInnen, den homophoben Hass sowie die homophobe Gewalt von rechten Gruppierungen in Polen zu bedenken. Außerdem zeigt sich AI sehr besorgt über die Abschaffung der "staatlichen Behörde für Gleichbehandlung und sexuelle Minderheiten".

Der vertretende Botschafter Polens in der Schweiz erklärte, es gäbe keine Diskriminierung von Lesben und Schwulen in Polen. Die zuständige Behörde habe aus Rücksicht auf die Bevölkerung gehandelt, die die Grenze zwischen Pädophilie und Homosexualität nicht ziehen könne. Darauf zeigte sich die Berner Nationalrätin  der Sozialdemokratischen Partei (SP), Margret Kiener Nellen, entsetzt und wies darauf hin, dass in diesen Fällen der polnische Staat erst recht Aufklärungsarbeit zu leisten hätte.

Eine Richtlinie des Vatikans

Die rechtskonservativen Kräfte in Polen bekamen für ihren Kampf gegen „Andere“ argumentative Schützenhilfe. Noch im gleichen Monat, als der „Toleranzmarsch“ in Polen verboten wurde, hat der Vatikan ein umstrittenes Richtliniendokument über die Nicht-Zulassung von Homosexuellen zum Priestertum veröffentlicht, welches vom Präfekten der Kongregation für katholische Bildung, Kardinal Zenon Grocholewski, unterzeichnet wurde: "Es geht darum, ob Kandidaten, die tiefsitzende homosexuelle Tendenzen haben, für das Priesterseminar und zu den heiligen Weihen zugelassen werden sollen oder nicht. (...) Der Katechismus unterscheidet zwischen homosexuellen Handlungen und homosexuellen Tendenzen. Bezüglich der homosexuellen Handlungen lehrt er, dass sie in der Heiligen Schrift als schwere Sünden bezeichnet werden. Die Überlieferung hat sie stets als in sich unsittlich und als Verstoß gegen das natürliche Gesetz betrachtet. Sie können daher in keinem Fall gebilligt werden. Die tief sitzenden homosexuellen Tendenzen, die bei einer gewissen Anzahl von Männern und Frauen vorkommen, sind ebenfalls objektiv ungeordnet und stellen oft auch für die betroffenen Personen selbst eine Prüfung dar. Diesen Personen ist mit Achtung und Takt zu begegnen; man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen. (...)"

Dieses Dokument erschien dem Vatikan scheinbar notwendig, nachdem Repräsentanten der Kirche in den USA, Brasilien, Österreich und Polen in sexuelle Skandale verwickelt waren sowie Studenten mit offensichtlich homosexuellen Neigungen als Priesteramtskandidaten in den Vereinigten Staaten akzeptiert wurden. Diese Praxis soll nach päpstlichem Willen damit aufhören.

Die Weisungen des Vatikans blieben nicht ungehört. Scharfe Kritik erntete dieses Vatikan-Dokument beispielsweise von den italienischen ParlamentarierInnen der oppositionellen Linksdemokraten. Sie warnten vor einer "Verteufelung" der Homosexuellen. Der Präsident des italienischen Verbands für die Rechte der Homosexuellen, Grillini, gab zu bedenken, dass diese homosexuellenfeindliche Moral nicht einmal von der Mehrheit der KatholikInnen geteilt werde. Die Schweizer Bischofskonferenz hielt in ihrer Stellungnahme zum Vatikan-Dokument unter anderem fest: "Im Mittelpunkt unserer Abklärungen zur Zulassung zum Priesteramt steht nicht die sexuelle Orientierung, sondern die Bereitschaft zur konsequenten Christusnachfolge." Umberto Bossi von der rechtspopulistischen Regierungspartei Lega Nord dagegen begrüßte den Inhalt des Dokuments und unterstrich die Schuld der Homosexuellen, die Institution der "natürlichen Familie" zu untergraben. Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, hatte das Dokument sehr begrüßt.

Diskriminierende Einstellungen in der Diskussion

"Das Ende der normalen Familie", "Homo ist auch ein Mensch", "Der verachtete Homo" titelten die polnischen Zeitungen im letzten Sommer. Die Aktion "Sollen sie uns doch sehen" von der Organisation "Kampagne gegen Homophobie" war wohl der erste Höhepunkt innerhalb einer Debatte, die ganz Polen beschäftigt. Auf Plakaten und in Galerien wurden Fotos lesbischer und schwuler Paare gezeigt, die sich mal scheu, mal offen in die Kamera lächelnd an den Händen hielten. Die Reaktionen waren vielsagend: In Krakau wurde eine Galerie kurz nach der Ausstellungseröffnung wieder geschlossen und Plakate mit Farbe übergossen.

Zivilgesellschaftliche Akteure haben sich seit 1989 in Polen stark vermehrt und institutionalisiert. Öffentlich-rechtliche sowie private Rundfunk- und Fernsehsender und einige Zeitungen sorgten bisher immer mehr für eine Spiegelung öffentlicher Debatten. Doch seit diesem Jahr hat Polen einen neuen Rundfunkrat. Mit einer Eilabstimmung im Parlament sägte die PiS die alte neunköpfige Medienaufsicht ab. Der neue fünfköpfige Rundfunkrat kontrolliert die gesamte Fernseh- und Hörfunklandschaft, vergibt Sendelizenzen an kommerzielle sowie gesellschaftliche, religiös orientierte Programme und kann in die Berichterstattung eingreifen. "Verfassungswidrig", urteilt Andzej Zoll und Verleger vieler großer Zeitungen warnen vor der Gefahr einer möglichen gelenkten Berichterstattung.

Inwiefern die polnische Zivilgesellschaft frei und lebendig ist und inwiefern sie nun zur demokratischen Konsolidierung beiträgt, zeigt beispielsweise der NGO-Sektor (NGO-Nicht-Regierungs-Organisation). Lambda, die erste Schwulen- und Lesben -organisation in Polen konstatiert in ihrem "Bericht zur Diskriminierung", dass "75 Prozent der Homosexuellen in Polen ihre Neigung am Arbeitsplatz verheimlichen". Robert Biedron, der führende Aktivist der Organisation und erste polnische Politiker, der sich öffentlich zu seiner sexuellen Orientierung bekannt hat, erklärte: "Das ist die Angst vor dem gesellschaftlichen Druck, dem Verlust von Anerkennung und dem, was es nach sich zieht, nämlich finanzielle Nachteile".

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich innerhalb Europas verschiedene Formen der Demokratie historisch entwickelt haben, zeigt sich das Grundproblem der Demokratie immer im Spannungsverhältnis zwischen Freiheit des Einzelnen und seiner Bindung an die Gesamtheit (Staat und Gesellschaft). Demokratie versteht sich somit nicht als eine Summe formaler Verfahrensvorschriften, sondern bestimmt sich von ihrem inhaltlichen Ziel her, unter den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen das größtmögliche Maß an Freiheit, Eigenverantwortung und sozialer Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Inwiefern besteht nun in Polen eine demokratisch politische Kultur, in der die Menschen am politischen Entscheidungsprozess teilnehmen? Sind dessen Prozeduren überhaupt durchlässig genug, um Partizipationsansprüche sozialer Gruppen und sexueller Minderheiten aufzunehmen?

Polen hat mit dem Beitritt zur EU den europäischen Grundwerten von Nichtdiskriminierung, Gleichheit und der Versammlungsfreiheit zugestimmt. So verbietet Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Diskriminierungen aufgrund sexueller Orientierung. Fast zwei Jahre nach dem EU-Beitritt scheint momentan die Debatte der Diskriminierung von sexuellen Minderheiten zwar sichtbar, aber noch im Anfangssumpf stecken geblieben zu sein.

Wie stark die Umsetzung eines Rechts gefordert wird, ist ein Gradmesser für die jeweilige Festigung der Demokratie. Vielleicht sind ja Kursänderungen sehr wesentlich, um autoritäre Einstellungen und die damit verbundenen Diskriminierungen wirksam zu verarbeiten? Die öffentliche Debatte und die Enttabuisierung von Homosexualität in Polen legt dieses jedenfalls nahe. 

 

Bürgerprotest gegen die Ereignisse in Poznañ am 19.11.2005

Der Verlauf der Ereignisse anlässlich des (verhinderten) Toleranzmarsches, der am 19. November 2005 in Poznañ zum Internationalen UNESCO-Tag der Toleranz stattfinden sollte, zeigt, dass in Polen sowohl das Menschenrecht wie auch die Grundlagen der Demokratie gebrochen werden. Eine der wichtigsten Grundlagen der Demokratie besteht darin, dass man keine friedlichen Demonstrationen verbieten darf, auf denen für die eigenen Ideen oder Einstellungen eingetreten wird. Der Gleichheitsmarsch hätte Bestätigung und Stütze für diese demokratischen Grundlagen sein können.

Aus ideologischen Gründen hat aber die Stadtregierung den Marsch verboten. Offiziell berief sie sich auf die Sicherheit und Ordnung, aber das war nur ein Trick und Vorspiel, denn die Ordnungskräfte wurden in einer solch großen Zahl mobilisiert, dass die Demonstration ohne Schaden hätte stattfinden können. (…)

Im Gegenteil: Es waren gerade die Teilnehmer des Marsches, die nicht nur von Seiten homofober und aggressiver Gegen-Demonstranten Attacken ausgesetzt waren, sondern auch - wie Zeugen aussagen - von Seiten der Polizei, die in den Polizeiautos Festgenommene schlugen. Halten wir auch fest, dass am 11. November die rechtsextreme Organisation ONR, antisemitische und rassistische Losungen schreiend, ungestört unter Begleitung der Polizei durch Czêstochowa marschierte, obwohl diese Demonstration mit Sicherheit keinen friedlichen Charakter hatte.

Die Entscheidung über das Verbot des Marsches in Poznañ ist ein weiterer Schritt gegen das in der Verfassung der Republik Polen und der Europäischen Union garantierte Recht, das die Diskriminierung verbietet und allen Bürgern die Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert.

Wir widersprechen dem fortschreitenden Prozess der Beschneidung und des Bruchs der Menschenrechte in Polen ausdrücklich. Wir wollen in einem Staat leben, der die gleiche Behandlung aller Bürger ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, religiöses Bekenntnis oder politische Ansichten garantiert - und diese Garantie wertschätzt. Polen ist ein Land der Diskriminierung. Damit finden wir uns nicht ab.

(Dieser Protest wurde einen Tag nach der Demonstration von Hunderten Polinnen und Polen unterschrieben und veröffentlicht; http://pl.indymedia.org/pl/2005/11/16997.shtml,  27.2.2006)