"Ich sah
den Namen Bosch"
Zwei Bücher
über eine geheime Rüstungsfabrik, ein vergessenes KZ und die Erinnerungsarbeit
von Zeitzeugen
Von Betty Glasberg
Erst seit der Debatte um die "Entschädigung" für die
ehemaligen ZwangsarbeiterInnen des "Dritten
Reichs" hat man begonnen, sich an die zahlreichen Zwangsarbeitslager und
KZ-Außenstellen bei den deutschen Rüstungsbetrieben zu erinnern. Auch in
Kleinmachnow, einem Berliner Vorort, wollte man lange nichts von dem
KZ-Außenlager wissen, das sich hier von Sommer 1944 bis April 1945 auf dem
Firmengelände der Dreilinden Maschinenbau GmbH (DLMG) befand. Diese Tarnfabrik
des Bosch-Konzerns beutete gegen Kriegsende rund 2.900 ZwangsarbeiterInnen
aus, darunter etwa 800 weibliche KZ-Häftlinge. Die zumeist sehr jungen Frauen
kamen aus Polen und mussten unter größter Geheimhaltung Zubehör für Flugzeugmotoren
produzieren.
Wiederentdeckt
wurde das Konzentrationslager von Rudolf Mach, einem Regionalhistoriker aus
Leidenschaft. In dem Buch „Muster des Erinnerns. Polnische Frauen als
KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von Bosch“ beschreibt er, wie seine
Forschungen begonnen haben:
"Als ich 1996 zum ersten Mal
das sogenannte Bosch-Gelände in Kleinmachnow betrat,
wusste ich noch nicht, dass dieses Areal während des Zweiten Weltkrieges einem
Tochterunternehmen von Bosch gehört hatte. Leere, verwahrloste Häuser des VEB
APAG, eines Betriebes aus DDR-Zeiten, der 1992 stillgelegt worden war, zogen
meine Neugier an: In den Kellern lagen noch durchfeuchtete und vergammelte
Akten. Ich stöberte in den verstreuten Papieren und entdeckte ein Paket, das in
Packpapier eingewickelt war. Als ich es aufriss, sah ich plötzlich die
Jahreszahl 1942. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich so alte
Originaldokumente gefunden und mir war, als hätte ich einen kleinen Goldschatz
gehoben."
Was Mach zwischen den Unterlagen
der DDR-Firma gefunden hatte, waren Schriftstücke der Dreilinden Maschinenbau
GmbH, vor allem Versicherungsakten. Hier las er auch die Bezeichnung
"KL". "Erst später begriff ich, dass ‚KL' eine Abkürzung für
Konzentrationslager ist. Das war eine für mich ungeheuerliche Entdeckung.. Ich begann, zu dem Komplex Zwangsarbeit und KZ-Außenlager
Kleinmachnow zu recherchieren."
Mach informierte die Berliner
Geschichtswerkstatt e.V. und die wiederum beauftragte die Historikerin Angela
Martin mit Recherchen zu der bis dahin völlig unbekannten Geschichte der Firma.
Zusammen mit der Übersetzerin und Publizistin Ewa Czerwiakowski
interviewte sie fast fünfzig Überlebende des Konzentrationslagers. Die
Fotografin Hucky Fin Porzner hat die Zeitzeuginnen
porträtiert. Nachzulesen sind die Ergebnisse dieses Projekts in zwei
Buchpublikationen der Berliner Geschichtswerkstatt: Angela Martin, „Ich sah den
Namen Bosch“, und „Muster des Erinnerns“, herausgegeben von Ewa Czerwiakowski und Angela Martin.
Die Geschichte der DLMG reicht
bis ins erste Jahr der NS-Herrschaft zurück. Bereits 1933 setzen sich Vertreter
des Reichsluftfahrtministeriums und Mitarbeiter der Robert Bosch GmbH zusammen,
um über eine "Ausweichfabrik" im militärisch sicheren
Mitteldeutschland zu verhandeln. Bosch-Produkte waren für die Kriegspläne der
Nationalsozialisten, insbesondere für die Aufrüstung der Luftwaffe,
unersetzlich. Schon in der Planungsphase des Dreilinden-Werkes hieß es, in
Kleinmachnow entstehe ein industrielles Unternehmen von größter Bedeutung für
die Luftfahrt: Zwei Jahre später wurden die ersten Werkshallen der DLMG in Betrieb
genommen. Es waren relativ kleine Gebäude in einem Waldgebiet, denn die
Industrieanlage sollte wie eine Wohnsiedlung erscheinen. Im ersten Band des Projekts
beschreibt Angela Martin ausführlich die Entwicklung dieser
"Schattenfabrik". Das Unternehmen expandierte schnell, alle
Hindernisse bei Erweiterungsbestrebungen wurden mit Hilfe des
Reichsluftfahrtministeriums und anderer NS-Behörden ausgeräumt, außerdem wurden
großzügige finanzielle Beihilfen gewährt.
Während des Krieges beutete die
Firma etwa 2 000 Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter aus West- und
Osteuropa aus. Neben dem Werksgelände entstand eine kleine, schäbige Stadt aus
Baracken für die zur Arbeit gezwungenen Menschen. Im Herbst 1944 kamen außerdem
zwei Transporte mit jeweils etwa 400 polnischen Frauen aus dem KZ Ravensbrück
nach Kleinmachnow. "Die Fabrik, in der wir arbeiten mussten, eine große
Halle, lag im Wald und war von einem Zaun umgeben. Es war ein doppelter
Stacheldrahtverhau, der innere stand unter Strom. Wir wurden von SS-Leuten (dem
Lagerkommandanten und Aufseherinnen) bewacht. Gewohnt haben wir unterhalb der
Fabrik, in Zellenstuben, etwa je 30 Frauen in einer. Wir schliefen auf
Etagenpritschen. Die Kellerräume waren kalt, feucht, ohne Fenster."
Das berichtete Maria Cicha, die 14 Jahre alt war, als sie in das KZ-Außenlager
Kleinmachnow deportiert wurde.** Sie ist eine von
sechzehn Überlebenden des Konzentrationslagers, die in dem zweisprachigen Buch
„Ich sah den Namen Bosch“ zu Wort kommen. Bewacht von SS-Aufseherinnen mussten
die Häftlinge zwölf Stunden am Tag schwere Arbeiten leisten. Als im April 1945
die Front nahte, wurden sie von der Firmenleitung in das KZ Sachsenhausen
geschickt und von dort auf den berüchtigten "Todesmarsch" getrieben.
Für viele der Zeitzeuginnen
begann ihre Leidenszeit mit dem Warschauer Aufstand 1944. Die meisten wurden
während der Erhebung der polnischen Hauptstadt gegen die deutschen Besatzer
gefangen genommen und zunächst in das KZ Ravensbrück verschleppt. Dort wurden
sie in einer entwürdigenden Selektion von Mitarbeitern der DLMG ausgewählt und
dann nach Kleinmachnow gebracht. Fast alle Frauen schildern auch die
Nachkriegsjahre, den mühsamen Wiederanfang im völlig
zerstörten Warschau, die Folgen der Lagerhaft, die
bis heute andauern und sich in gescheiterten Lebensentwürfen, Ängsten und
Krankheiten ausdrücken.
Jedes Interview ist mit einem
Fotoporträt versehen. Der sorgfältig gestaltete Band enthält zudem weiteres
Bildmaterial, zum Beispiel gerettete Dokumente der Zeitzeuginnen: eine
Bettkarte aus dem Krankenrevier, ein Blatt aus dem Lagergebetbuch, eine
Postkarte, Kochrezepte, die die hungernden Frauen aufgeschrieben haben. Auch
Funde von Rudolf Mach sind abgebildet, der auf dem Grundstück der DLMG
Produktionsreste ausgegraben hat, sowie Pläne des Werks- und Lagergeländes und
Fotos vom Bau der Fabrik. So wird die spezifische Geschichte des Bosch-Betriebs
deutlich. Sie ist zugleich ein exemplarisches Beispiel für die Rüstungswirtschaft
des NS-Staates, wie Wolfgang Benz im Vorwort schreibt.
Die Resonanz auf diese
Dokumentation war ausgesprochen positiv: "Ein eindrucksvolles Buch"
schrieb zum Beispiel die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das ermutigte die
Berliner Geschichtswerkstatt zu einer Fortsetzung des Projekts. Der zweite Band
kam zunächst in polnischer Sprache heraus, jetzt ist er auf Deutsch in einer
erweiterten Fassung unter dem Titel Muster des Erinnerns erschienen. Auch hier
stehen die Erinnerungen der Zeitzeuginnen im Zentrum, dreiunddreißig Frauen
berichten von ihrem Überleben im KZ Kleinmachnow. Den
Interviewausschnitten sind drei Essays vorangestellt.
Ewa Czerwiakowski
untersucht mit ebenso großem Einfühlungsvermögen wie analytischem Verstand die
Erinnerungsmuster der Zeitzeuginnen. Deren Biografien wurden durch den
gewaltsamen Einfluss der "großen Geschichte" geradezu
"gleichgeschaltet". Der Satz "Wir waren nur Nummern" ist
davon nur der drastischste Ausdruck. Die Frauen schilderten allerdings auch
positive Erlebnisse, die einen besonderen Platz in ihren Berichten einnehmen.
"Fast jede unserer Gesprächspartnerinnen berichtete spontan über
unerwartete gute Momente: die Hilfe einer Leidensgenossin oder eine Geste von
jemandem, der zu der feindseligen Umgebung gehörte. Dabei geht es meistens um
die heimliche Übergabe von Brot, die ein Meister oder Einrichter in der Fabrik
wagte, seltener um das Verhalten einer Aufseherin oder eines Soldaten, obwohl
auch solche Fälle vorkamen." Hier drückt sich ein Moment individueller
Entscheidungsmöglichkeit aus, der die Gleichschaltungs- und
Einschüchterungsversuche des Nationalsozialismus unterlief. "Die Beispiele
von Zivilcourage und damit eines freien, unreglementierten Verhaltens stellen
einen wichtigen Aspekt der Geschichte totalitärer Systeme dar."
Angela Martin schildert in ihrem
Beitrag "Das Gedächtnis der Archive" ihre mühsame Suche nach
Dokumenten über die Fabrik in Kleinmachnow. Dabei erläutert sie auch Probleme
der Archivüberlieferung. Erinnerungen von Zeitzeugen werden von der
akademischen Forschung noch immer als unzuverlässig und selektiv beargwöhnt,
zum Teil durchaus mit Recht. Doch auch Archive arbeiten selektiv, was die
Autorin vor allem am Beispiel des Bosch-Archivs belegt. Nicht zu allen Aspekten
der Firmengeschichte wurde gesammelt, etliche Dokumente gingen im Krieg
verloren. Zudem sei es möglich, vermutet die Autorin, dass viele Materialien
noch nicht erschlossen wurden. Die Erinnerungen der Zeitzeugen seien eine
unerlässliche Ergänzung, schreibt Martin, sie zeigen exemplarisch die
Verstrickung der deutschen Industrie "nicht nur in die Kriegswirtschaft,
sondern auch in den umfassenden nationalsozialistischen Repressionsapparat, zu
dessen wichtigsten Mitteln die unterschiedlichen Formen der Zwangsarbeit
gehörten."
Rudolf Mach befasst sich mit dem
Gedächtnis des Ortes Kleinmachnow. Dort wollte zunächst niemand etwas von
seinen Recherchen zur DLMG und ihre Lager wissen. Das hat sich inzwischen
geändert. So gibt es eine Gedenktafel, die an die Ausbeutung der Zwangsarbeiter
erinnert; neun Überlebende des KZ und zwei zivile Zwangsarbeiter wurden vom
Heimatverein zu der feierlichen Enthüllung eingeladen. "Kleinmachnow, das
lange ein Ort ohne Gedächtnis zu sein schien, beginnt sich zu erinnern",
schreibt Mach. Dass dies nicht zuletzt seiner unermüdlichen Arbeit zu verdanken
ist, verrät er allerdings nicht in seinem ermutigenden Beitrag, man kann es nur
den Anmerkungen der Herausgeberinnen entnehmen.
Ise
Bosch, eine Enkelin des Firmengründers, hat die Arbeit des Heimatvereins
Kleinmachnow und der Berliner Geschichtswerkstatt mit großem Interesse verfolgt
und ein Vorwort für das Buch „Muster des Erinnerns“ verfasst. Darin dankt sie
den Zeitzeuginnen, ohne deren Mitarbeit die beiden Bücher nicht zustande gekommen
wären: "Die Überlebenden des KZ-Außenlagers Kleinmachnow geben uns ihre
Ängste preis, sie sprechen über Erniedrigungen, über zerstörte Lebensläufe,
über Traumata, die sie bis heute belasten. Dazu gehört viel Mut, vor allem
auch, wenn sie es gegenüber Deutschen tun. Dafür und für ihre Hilfe, ein lange
vergessenes Kapitel unserer Geschichte zu erhellen, möchte ich den
Zeitzeuginnen meinen tiefsten Respekt aussprechen."
Die Initiative zu der längst
überfälligen Auseinandersetzung mit den KZ-Außenlagern und den Erinnerungen der
"vergessenen Opfer" geht häufig auf Vereine wie die Berliner
Geschichtswerkstatt zurück, die sich mit ihren Projekten für die so genannte
Alltagsgeschichte stark machen und dabei Methoden der Oral History
verwenden. Wie sinnvoll diese Arbeit ist, belegen beide Bücher.
* Muster des
Erinnerns. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von Bosch,
herausgegeben von Ewa Czerwiakowski und Angela Martin,
Berlin (Metropol Verlag) 2005, 143 Seiten, 14 Euro
** Angela Martin, Ich sah den Namen Bosch. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in der Dreilinden Maschinenbau GmbH, Berlin (Metropol Verlag) 2002, 320 Seiten, 17 Euro
Janina Podoba, geb. Russiak, *1929:
Dass es warm wird, dass man zu essen hat ...
Ich war ein Jahr alt, als mein Vater gestorben ist. (...) Unsere Mutter
hat meine Schwester und mich alleine großgezogen. Bis der Krieg ausgebrochen
ist, habe ich drei Klassen der Volksschule beendet und bin dann bis 1944 in den
Untergrundunterricht gegangen. Seit dem Aufstand ist mein Schicksal dem meiner
Kameradinnen verblüffend ähnlich geworden: Wir alle sind den gleichen Weg
gegangen. (...) Ich war völlig alleine, als man mich deportiert hat. Und ich
war fünfzehn.
Obwohl ich noch ein Kind war, musste ich in Kleinmachnow arbeiten wie
alle anderen. Wir hatten so schrecklichen Hunger! Einmal wollte ich ein paar
Kartoffelschalen aus der Mülltonne holen, da hat mich eine der Aufseherinnen,
die rothaarige, die schlimmste von allen, so heftig geschlagen, dass ich die
Treppe hinuntergefallen bin. In der Fabrik haben fast ausschließlich Polinnen
gearbeitet, aber ich erinnere mich auch an zwei Jüdinnen, Mutter und Tochter.
Eines Tages hat man sie abgeholt. Eine Aufseherin hat uns erzählt, man habe sie
freigekauft. Sie haben versprochen zu schreiben, aber niemals ist ein Brief von
ihnen gekommen. Sie haben sie bestimmt umgebracht. Drei Russinnen waren auch
da, drei oder auch vier. Sie haben immer zusammengehalten.
Im Lager hat man überhaupt nicht darüber nachgedacht, was später kommen
würde. Ich habe nur geträumt, dass es warm wird, dass man zu essen hat. Alles
war so entsetzlich: der Aufstand, Pruszków,
Ravensbrück, dieser Stacheldraht, der Todesmarsch, die Leichen in den
Straßengräben. Wir haben Gras gegessen, am Straßenrand ist kein Grashalm übrig
geblieben. Ich habe immer wieder die Finger in eine Pfütze getan und sie dann
abgeleckt, um etwas zu trinken. Für mich war alles schrecklich. Man kann diese
Erinnerungen nicht aus dem Gedächtnis löschen. Mein Mann war auch im Lager und
hat mir viel erzählt. Ich konnte nicht zuhören, ständig habe ich geweint.
Ich bin mit dem letzten Transport aus Spakenberg
zurückgekommen, das war 1946. Danach war ich oft und lange krank. Ich konnte
keine Kinder bekommen, hatte immer wieder Fehlgeburten, dreimal hintereinander.
Später habe ich doch zwei Töchter zur Welt gebracht. Ich habe sie großgezogen
und ausbilden lassen.
Gespräch in Krakau am 19.10. 2000 aus: „Muster des Erinnerns“