Tschetschenische
Flüchtlinge zwischen Polen und Deutschland
Treibgut in
der Europäischen Union?
Von Regine M. Wörden
Brandenburg liegt als eines der östlichen deutschen Bundesländer an der polnischen Grenze. Die Außengrenze der EU wurde mit dem Beitritt zehn weiterer Staaten Richtung Osten verschoben, dennoch ist die Oder-Neiße-Linie, die die Grenze zwischen Polen und Deutschland markiert, weiterhin streng bewacht. Die sogenannte Drittstaatenregelung, die bis zum Beitritt Polens zur EU galt, hat es auch bis dahin für Flüchtlinge fast unmöglich gemacht, in Deutschland einen erfolgreichen Asylantrag zu stellen. Wurden sie beim illegalen Grenzübertritt vom Bundesgrenzschutz (BGS) festgenommen und konnte klar festgestellt werden, dass sie soeben einen der Grenzflüsse überquert hatten, wurden sie in den Zellen des BGS bis zu 48 Stunden inhaftiert. Hatte Polen seine Zustimmung gegeben, wurden sie nach Polen zurückgeschoben, ohne in Deutschland eine Chance auf das Stellen eines Asylantrags zu haben.
Seit Mai 2004 ist nun auch in
Polen die DUBLIN 11-Verordnung in Kraft getreten, die vor der noch geltenden
Drittstaatenregelung Vorrang hat. Diese Verordnung besagt, dass der Staat, den
die Flüchtlinge in der EU als erstes erreichen, zuständig für die Durchführung
des Asylverfahrens ist.
In Tschetschenien herrscht seit
1994 Krieg. Mit aller Härte geht die russische Regierung gegen die
Zivilbevölkerung vor, mehr als 400.000 Menschen sind seither aus der
Kaukasusrepublik geflohen. Seit einigen Monaten kommen viele Tschetschenen auch
über Polen nach Brandenburg, um in Deutschland oder anderen westlichen Staaten
Schutz zu suchen. Doch wenn sie die Grenze nach Deutschland überquert haben,
erwartet sie hier kein Schutz, sondern Abschiebehaft, denn zur legalen Einreise
benötigen sie ein Visum, das sie von der russischen Föderation nicht erhalten.
Nur wenn sie es schaffen, in westlichere Bundesländer oder wenigstens bis
Berlin zu gelangen, wo man ihnen die illegale Einreise über Polen nicht mehr
nachweisen kann, haben sie eine Chance, nicht inhaftiert zu werden.
Der Umgang mit tschetschenischen
Flüchtlingen beschreibt ein hochaktuelles Problem der deutschen Abschiebepolitik.
Auch wenn das Thema sehr speziell ist, wird gerade daran deutlich, dass der
Einsatz gegen Rassismus, Diskriminierung und für Menschenrechte weit über ein
multikulturelles Fest hinausgehen muss.
Tschetschenen überqueren meist in
Terespol die beorussisch-polnische
Grenze. Hier müssen sie einen Asylantrag stellen, da sie sonst keine Chance auf
Einreise haben. Bei illegaler Einreise droht Inhaftierung, ein dann gestellter
Asylantrag garantiert keineswegs die Freilassung. Bei der Einreise erfolgt eine
erkennungsdienstliche Behandlung und die Fluchtgründe müssen dargelegt werden.
Nach der Einreise wird das polnische Asylverfahren eingeleitet, die Flüchtlinge
werden in überfüllten Unterkünften untergebracht. 2004 wurden weniger als zehn
Prozent der tschetschenischen Antragsteller in Polen ein Flüchtlingsstatus
entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zuerkannt. Im Februar 2005
fiel die Anerkennungsquote auf nur zwei Prozent. Nur anerkannte Flüchtlinge
erhalten in Polen ein Jahr soziale Unterstützung, Flüchtlinge mit einem
Tolerierten-Status jedoch finden sich auf der Straße wieder und haben das Problem,
Wohnung und Arbeit suchen zu müssen. Anerkannte Flüchtlinge in Polen haben zwar
das Recht auf Schulbesuch, Ausbildung und eine Arbeitserlaubnis, doch ohne
offizielle Meldeadresse bleiben sie ohne Sozialhilfe und ohne
Krankenversicherung. Hinzu kommt, daß gerade
tschetschenische Flüchtlinge aufgrund der schrecklichen Brutalität des Krieges
in ihrer Heimat besonders häufig traumatisiert sind. Eine
medizinischpsychologische Versorgung gibt es selbst für polnische Staatsbürger
kaum. Gerade einmal zwei Psychologen arbeiten in Polen derzeit mit
Flüchtlingen. Somit geraten insbesondere Kranke, Alleinerziehende und
kinderreiche Familien aufgrund des Verlusts der finanziellen und sozialen
Hilfen nach Abschluss des Asylverfahrens in eine aussichtslose Situation.
Rassistische Abschiebungen
Das sind jedoch nicht die
einzigen Gründe, aus Richtung Polen in den Westen zu reisen. Viele möchten mit nahestehenden Angehörigen und Freunden zusammenleben
können. Das ist gerade für Menschen, die Gewalterfahrungen
ausgesetzt waren, besonders wichtig. Zumal das Misstrauen unbekannten
Tschetschenen gegenüber sehr groß ist, da auch Tschetschenen auf russischer
Seite gegen die Bevölkerung der Kaukasusrepublik kämpfen.
Viele Flüchtlinge haben auch
früher schon den Ausgang des Asylverfahrens in Polen gar nicht abgewartet,
sondern sind Richtung Westen weitergewandert. Im Unterschied zu der Zeit vor
dem EU-Beitritt Polens ist infolge ihrer erkennungsdienstlichen Erfassung im EURODAC-System nun jedoch sofort erkennbar, wo sie in die EU
eingereist sind. Somit ist eine Ausweisung nach Polen meist eine Frage der
formalen Regelung. Allein in der zweiten Jahreshälfte 2004 erhielt Polen insgesamt
1.320 Wiederaufnahmeanträge nach dem Dublin-Verfahren aus anderen EU-Ländern,
von denen 1.182 positiv beantwortet wurden. Die meisten Anträge stammten aus
Deutschland. Trotz der Gefahr der Rücküberstellung versuchen viele
tschetschenische und auch andere Flüchtlinge, weiter Richtung West- oder
Nordeuropa zu ziehen. Hier haben sie Freunde, Verwandte, Bekannte. Doch die
polnische-deutsche Grenze ist weiterhin stark gesichert. Überqueren die
Flüchtlinge die Flüsse Oder und Neiße illegal und werden im Grenzgebiet von der
Bundespolizei gestellt, bringt man sie nach Eisenhüttenstadt. Hier befindet
sich auf dem gleichen Gelände wie das Abschiebegefängnis die
Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Brandenburg. Beide liegen direkt an
der polnischen Grenze. Bei den Familien werden die Frauen und Kinder im
Familienhaus der Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht, die Männer jedoch
kommen in Abschiebehaft. Gemessen an den Erfahrungen, die diese Menschen
gemacht haben, ist es eine psychische Zumutung, die Familien in dieser Art und
Weise zu trennen. Zeitweise ist es auch schon vorgekommen, dass die
minderjährigen Kinder in das Heim für alleinreisende Jugendliche in
Brandenburg, ihre Eltern jedoch in die Haft gebracht wurden. Bis April 2005
stellten die Tschetschenen die größte Zahl der Häftlinge in der
Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt. Doch nun gehen auch hier die Zahlen
zurück, immer weniger Flüchtlinge kommen über die deutsch-polnische Grenze.
Die Verfahrensweise der
sofortigen Zurückschiebungen scheint sich unter den Flüchtlingen
herumgesprochen zu haben. Wählen sie nun andere Wege oder andere Fluchthelfer?
Oder gelingt eine Weiterflucht nach Westeuropa nun einfach immer seltener? Die
lang geforderte Rechtsberatung für die Menschen in Abschiebehaft ist lange Zeit
vom Innenministerium untersagt worden, seit September 2005 wird sie nun
angeboten. Bedingung des Innenministeriums war, dass nur in Brandenburg
zugelassene Anwälte in Eisenhüttenstadt tätig werden dürfen, alle Berliner
Anwältinnen, die sich engagieren wollten und auch eingehend mit der Thematik
befasst sind, dürfen es nicht. Wie die Beratung läuft und angenommen wird, ist
derzeit noch unklar.
Im Niemandsland
Die Asylanträge der Flüchtlinge
werden in der Haft entgegengenommen, die Flüchtling
(bleiben jedoch inhaftiert. Wessen Fingerabdrücke in Polen erfasst sind, der
wird dorthin abgeschoben. Ist dies nach vier Wochen nicht erfolgt, müssen die
Menschen aus der Haft entlassen werden, denn es handelt sich um eine
Inhaftierung zu Verwaltungszwecken und nicht um eine Strafhaft.
Nach der Freilassung tauchen viele Tschetschenen unter, um zu Verwandten in
andere EU-Staaten zu gelangen.
Was muss ein Mensch, der durch einen
jahrelangen brutalen Krieg traumatisiert wurde, empfinden, wenn er in dem Land,
in dem er Schutz erwartet, inhaftiert und mit Polizeigewalt wieder abgeschoben
wird? Die Gefahr einer Re-Traumatisierung ist sehr hoch. Hinzu kommt, dass die
Flüchtlinge größtenteils nicht psychologisch betreut werden. Die Flüchtlinge,
die es geschafft haben, einen Behandlungsplatz in den Psychologischen Zentren
im nahe gelegenen Berlin zu erhalten, werden oftmals trotzdem zurückgeschoben.
Anfang April 2005 wurde eine tschetschenische Familie in einer der üblichen
nächtlichen Aktionen an die polnische Grenze gebracht. Die Familie befand sich
in psychosozialer Behandlung. In Handschellen wurden sie von der Polizei auf
die polnische Seite begleitet. Der polnische Grenzschutz inhaftierte die
Familie für eine Nacht, anstatt sie mit dem Zug weiter in Richtung des ihnen
zugewiesenen Lagers fahren zu lassen. Am nächsten Tag wurde die Familie zu
einem Bahnhof gebracht und dort stehen gelassen - ohne jegliche finanzielle
Mittel. Sie sollten selber sehen, wie sie das weit entfernte Lager, das sie aufnehmen
sollte, erreichen konnten. Hier zeigt sich die völlige Unfähigkeit der
deutschen und der polnischen Behörden, mit traumatisierten Menschen umzugehen.
Die Frage nach einer
Harmonisierung des Asylrechts der europäischen Staaten stellt sich also derzeit
nur auf dem Papier - faktisch sind die Anforderungen an die neuen
Mitgliedsstaaten so gestiegen, dass diese für sie (noch) nicht erfüllbar sind.
Zugleich lehnen sich die alten EU-Staaten mit dem Verweis auf die DUBLIN
II-Verordnung zurück und schieben jegliche Verantwortung den neuen
Mitgliedsstaaten zu, die an der EU-Außengrenze liegen. Auch hier werden immer
wieder große Defizite beim Umgang mit Asylsuchenden deutlich. Somit entziehen
sich die westlichen EU-Mitgliedsstaaten mit der DUBLIN 11-Verordnung ihren
humanitären und völkerrechtlichen Verpflichtungen den Menschen gegenüber, die
Schutz und Hilfe suchen. Der besonderen Situation traumatisierter
Menschen muss ebenso Rechnung getragen werden wie einer Transparenz der
Verfahren für die Betroffenen mit der Möglichkeit einer qualifizierten Beratung.
Infos: info@fluechtlingsrat-brandenburg.de, www.fluechtlingsrat-brandenburg.de
(aus: Die rote
Hilfe, 32. Jg., Nr. 1.2006. Wir danken
für das Nachdrucksrecht)