Der Roman
„Wirren“ von Henryk Sienkiewicz
Vor hundert Jahren, am 10. Dezember 1905, hat der mit dem Roman
"Quo Vadis" zu Weltruhm gelangte polnische
Schriftsteller Henryk Szienkiewicz den Literaturnobelpreis
bekommen. Nur wenige wissen, dass der Literat in eben jenem Jahr auch seinen
einzigen zeitgenössischen Roman angesiedelt hat: "Wirren".
Polen im Jahr 1905. Seit mehr als
100 Jahren ist das Land eine Nation ohne Staatsgebiet, besetzt von den
Teilungsmächten Preußen, Österreich und Russland. Folgt man dem kritischen
Blick des Schriftstellers und glühendem Nationalisten, Henryk Szienkiewicz, hat sich sein eigener Stand, der polnische
Adel, aus der Verantwortung heraus in resignierte Bequemlichkeit verzogen.
Damit ist zunächst aber Schluss, als die erste Welle der Revolution über
Russland hinweg bis ins besetzte Polen rollt und das Ende der zaristischen
Besatzungsmacht andeutet. Im russisch besetzten Teil Polens brechen Streiks
aus, der polnische Landadel muss plötzlich die "eigenen" Arbeiter
fürchten. In diese "Wirren" gerät nicht nur Szienkiewicz
selbst, sondern auch die Hauptfigur seines Romans, der junge Gutsbesitzer W³adis³aw Krzycki.
Der Tod seines Onkels beschert Krzycki eine illustre
Gesellschaft zu Gast. Da sind die zum politischen Disput neigenden Herren Gronski und Dolhanski. Aber vor
allem stürzen die drei attraktiven Damen im heiratsfähigen Alter - die Witwe Otocka, das Fräulein
Marynia und eine englische Freundin, Fräulein Anney - Krzycki in turbulente
Tage. Sein Herz schlägt, unter Schuldgefühlen, für das reizend herbe aber nur
bürgerliche Fräulein Anney. Und dann tobt der Klassenkonflikt
auch noch materiell: Krzycki wird beim Besuch des
Gutes seines toten Onkels, das in den Einfluss russisch-kommunistischer Agitierer gefallen ist, angeschossen, woraufhin die ganze
Gesellschaft nach Warschau flieht. Dort gipfelt die Handlung: Die Revolution
fordert ein unsinniges Opfer. Zwischen Krzycki und
Fräulein Anney kommt es zu einem überraschenden
Eklat, der einen Adelsstand von zweifelhafter Moral und festgefahrenen
Vorstellungen bloßstellt.
Abgesehen von Sienkiewiczs
hervorragender Qualität als Erzähler erscheint das Buch zunächst wie die bloße
Nabelschau einer nach außen blinden Gesellschaftsschicht. Aber wissend, dass Sienkiewicz selbst zur Zeit seiner Romanfiguren gelebt und
publiziert hat, kristallisiert sich ein von der russischen Zensur zwischen die
Zeilen gezwungener politischer Witz heraus. Natürlich richtet sich dieser gegen
die Besatzungsmacht, was dem Buch in Polen den Ruf einer nahezu prophetischen
Vorhersehung der Solidarnoœæ eingebracht hat. Die Aktualität des Buches ist für
den Manesse-Verlag der Grund gewesen, den hierzulande
kaum bekannten Roman in der Reihe "Bibliothek der Weltliteratur" neu
herauszugeben. Der Übersetzerin Karin Wolff ist es hervorragend gelungen, Szienkiewiczs reich mit Jugendstilornamenten verzierte
Sprache wiederzugeben. Vor allem für Osteuropa-Interessierte ein Lesevergnügen.
"Wirren":
Manesse Verlag Zürich 2005. Mit einem Nachwort von
Olga Tokarzuk. ISBN 3- 7175-2072-5. EUR 22,90.