Haltestelle "Solidarisches Polen" auf dem Weg zur IV. Republik

Von Holger Politt

 

Den teils heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen zu Wahlkampfzeiten folgen in der Regel politisch ruhigere Abschnitte, in der die je beteiligten Seiten sich auf die kommende Situation einzustellen versuchen. Insgeheim haben alle beteiligten Seiten sich abgefunden mit einer Lage, die unmittelbar auf den Wählerwillen zurückgeführt werden kann. Anders gestaltet sich die Situation in Polen im Frühjahr 2006. Hier ist auf der politischen Bühne fast alles in Bewegung geraten, teils getrieben durch die Konsequenzen des Wahlausgangs, teils angezogen durch die Aussicht baldiger Wahlen auf Regional- und Lokalebene, bei der nicht wenige auf Korrekturen zu ihrem Gunsten hoffen. Bei diesen Wahlen wird nach dem Präsidentenstuhl und der Sitzverteilung in den parlamentarischen Kammern auch der dritten wichtigen Ebene des politischen Systems - der kommunalen Selbstverwaltung - für die kommenden Jahre der Zuschnitt verpasst.

 

In einem traditionell zentral regierten Land bedeutet das immer auch eine Chance für die jeweiligen oppositionellen Kräfte, was die SLD (Demokratische Linksallianz) im Herbst 2002 bereits ein Jahr nach ihrem haushohen Sieg bei den damaligen Parlamentswahlen heftig zu spüren bekam. Der Verlust an Wählerstimmen war mit über einer Million bereits empfindlich.

Glaubt man den aktuellen Umfragen, droht der im Herbst 2005 siegreichen PiS (Recht und Gerechtigkeit) kein ähnlicher Verlust, aber der vor Monaten noch von vielen erwartete Sieg auch auf regionaler Ebene könnte womöglich ausbleiben. Die politische Situation in diesem Frühjahr ist durch eine ganze Reihe von bemerkenswerten Entscheidungen in Bewegung gekommen. Geblieben ist unter Polens Wählerschaft einzig ein hoher Grad an Unzufriedenheit über die in den zurückliegenden 16 Jahren aufgebauten herrschenden Zustände. Die sich herausschälenden drei großen politischen Blöcke versuchen in unterschiedlicher Weise dem Grad der Unzufriedenheit Rechnung zu tragen.

Das Regierungslager

Die Entwicklungen im Regierungslager haben international Aufsehen hervorgerufen. In Polen, so hört man überall, regierten fortan an der Seite der PiS europafeindliche Populisten und erzkatholische Nationalisten. Es wird dabei nur gerne übersehen, dass regierungsseitig die Initiative voll und ganz in den Händen jener Kräfte bleibt, die seit Herbst 2005 entscheidend die politischen Geschicke des Landes steuern. Der Übergang von einem eher unverbindlichen "parlamentarischen Stabilitätspakt", mit dem sich die PiS-Minderheitsregierung zumindest für einige Monate eine parlamentarische Mehrheit sichern wollte, zu einer Koalitionsregierung mit den widerspenstigen und eigentlich ungeliebten Partnern, hat daran nichts geändert. Vom Kräfteverhältnis mag zeugen, dass die beiden kleinen Koalitionspartner mit ihren jeweiligen Parteichefs bereits ihr ganzes Angebot ins Rennen schicken mussten, währenddessen PiS-Vorsitzender Jaros³aw Kaczyñski als bloßer Abgeordneter in gesicherter Stellung auf günstiger Lauerstellung verbleiben kann. Mit der einen Hand hält er die Zügel des Regierungslagers, mit der anderen den unmittelbaren Kontakt zum Präsidentenbruder Lech. Warschauer Paradoxie - sollte er selbst doch noch als Ministerpräsident in das Geschehen wird eingreifen müssen, wäre das Konzept der Zwillingsbrüder vom Herbst 2005 wohl gescheitert. Nur deshalb wurden nach dem raschen Scheitern des Stabilitätspaktes die entsprechenden Partner ins Boot geholt.

Die jetzige Koalition versucht sich als Vertretung eines "solidarischen Polen" zu begreifen und in Szene zu setzen. Mit dieser Losung war es PiS im Herbst vergangenen Jahres gelungen, bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die Nase - wenn auch denkbar knapp - vorne zu haben. Geschlagen wurden zweimal die sich damals liberal verstehenden Konservativen oder konservativ verstehenden Liberalen der PO (Bürgerplattform), die fast alles den Maßgaben wirtschaftlicher Rationalität unterzuordnen wünschten oder versprachen. Nunmehr soll eine Koalition mangels anderer Übereinstimmungen auf diese Formel sich verständigen.

Andrzej Lepper, Vorsitzender der Samoobrona, seit Monaten damit befasst, sein Image als antiliberaler Bürgerschreck loszuwerden, sieht sich mit der Berufung zum Agrarminister und dem Aufstieg zu einem der vier Vizepremiers vorerst am Ziel seiner Wünsche. Von allen Regierungsvertretern wird ihm das Kostüm "solidarisches Polen" übrigens am besten stehen. Der andere neue Vizepremier ist Bildungsminister und schnell zum umstrittensten Mann in Polens Regierung geworden. Roman Giertych, Parteichef der LPR (Liga der Polnischen Familien), kommt aus einer Familiendynastie, die im Geiste der Vorkriegs-Endecja eines Roman Dmowskis erzogen ist. Das ist sperrig-gefährliches Gut, vor allem wenn man der sensiblen Bildungssache vorsteht. Zwar schwört er vor Freund und Feind, im Amte sich nicht von seiner Ideologie leiten zu lassen und nur noch dienender Patriot sein zu wollen, doch wird ihm solches nicht einmal der ihn vereidende Präsident abnehmen, dem nun wiederum Józef Piłsudski der größte aller Vorkriegshelden ist.

Während sich  nun viele auf Giertych und Lepper konzentrieren, wird leicht übersehen, wie weit bereits die bisherige PiS-Minderheitsregierung auf dem Wege neuer Ordnungsvorstellungen vorangeschritten ist: Die Bildung eines Nationalen Erziehungsinstituts ist auf den Weg gebracht, mit dem Zentralen Antikorruptionsbüro ist eine von parlamentarischer Kontrolle kaum beeinflussbare neue Polizeibehörde geschaffen worden, das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist in die Hände eines IM-Jägers gelegt worden, der Klerikalisierung des Staates sind Tür und Tor geöffnet.

Nun auch Rokita&Co.: "Solidarisches Polen"

Nachdem sich das Regierungslager für welche Frist auch immer konsolidiert hat, bleibt für alle übrigen politischen Kräfte wenig Zeit, sich vor dem Wähler erkennbar und klar zu positionieren. Auf jeden Fall stellen die im Herbst stattfindenden Regional- und Lokalwahlen eine wichtige Zäsur dar. Erfolg oder Misserfolg bei diesen Wahlen entscheidet mit darüber, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen den wichtigsten politischen Kräften des Landes, zu denen augenblicklich PiS, PO und SLD gehören, gestalten wird. Da die PiS in absehbarer Zeit mit den Konsequenzen der Bildung einer Koalitionsregierung beschäftigt sein dürfte - so dass Kalkül der PO-Strategen - wäre man in einer hervorragenden Ausgangsposition, um den Trend des letzten Herbstes, immer nur zweiter Sieger zu sein, umzukehren. Die Aussichten, das zumindest verraten mittlerweile die Umfragen, stehen gar nicht einmal so schlecht.

Um diese Erfolgsaussichten zu erhärten, hat sich die Partei kürzlich ein den herrschenden Zeiten angemessenes Profil zu geben versucht. Mit alt-neuer Führungsspitze soll nunmehr das Bild einer bürgerfreundlichen und kompetenten politischen Kraft gezeichnet werden, ohne die ein gescheiter Ausweg aus der politischen Krise, in die hinein das Land durch die Schuld des Wahlsiegers vom Herbst 2005 geraten sei, gar nicht mehr gedacht werden könne. PO stehe unverrückbar in der Tradition der "Solidarność", was selbstredend heiße, dass der Gedanke an ein "solidarisches Polen" eher hier als bei Andrzej Lepper zu Hause sei. Da wird, wo noch vor Wochen immer nur von den ehernen Regeln des Marktes die Rede war, plötzlich an die Geschäftswelt appelliert, bei allem Engagement in der Sache doch zugleich an diejenigen Mitbürger zu denken, die nur mit größten Schwierigkeiten im Kräftespiel des freien Marktes mithalten könnten. Den Strategen der PO steht da die Vision einer Volkspartei vor Augen, die zum Sammelbecken einer breit verstandenen Mitte werden solle. Den Anfang könne eine Bürgerbewegung machen, die noch vor den Herbstwahlen ins Leben gerufen werden solle. Denn Widerstand müsse geleistet werden nicht nur gegen die jetzige aberwitzige Regierungskoalition, sondern auch (nein: vor allem) gegen die SLD. Die Koalition werde sich von selbst erledigen, die SLD aber dürfe nicht noch einmal auf die Beine kommen, sprich: die Regierungsgeschäfte übernehmen.

Rhetorisch geht es zwar kräftig gegen die Kaczyński-Brüder, doch insgeheim wird auf die Zeit nach dem Koalitionsbruch spekuliert. Dann nämlich gäbe es tatsächlich nur noch die Möglichkeit von Neuwahlen oder einer Koalition aus PiS und PO, die übrigens nach wie vor eine komfortable Mehrheit besäße.

Wiedergeburt als dritte politische Kraft?

Eine dritte starke politische Kraft werde in Polen künftig dringend benötigt, meinte unlängst der junge SLD-Vorsitzende Wojciech Olejniczak. Angesichts der Situation im Regierungslager und der weitgehend ungeklärten Rolle der stärksten Oppositionspartei PO müsse die Linke zu ihrer Verantwortung für das Land stehen. Das betreffe insbesondere die SLD, die als stärkste linke politische Kraft eine besondere Verantwortung habe. Dem werde in der aktuellen Diskussion um programmatische Leitlinien Rechnung getragen.

Dem Wunsch nach einer starken dritten politischen Kraft gab auch Marek Borowski öffentlich Ausdruck, wobei der Vorsitzende der 2004 aus der SLD ausgeschiedenen und nicht mehr im Parlament vertretenen Gruppierung SdPl (Polnische Sozialdemokratie) bereits mit ganz konkreten Vorschlägen operiert: Die Entwicklungen auf der Seite der Wahlsieger des Herbstes 2005 zwängen die Linke zu deutlicheren Schritten. Programmatische Kosmetik reiche nicht mehr aus. Die Bürger des Landes verlangten längst nach einem anderen Signal. Höchste Zeit also, ernsthaft an die Gründung einer neuen politischen Formation zu denken, deren Rückrat durch die Sozialdemokraten der SLD und SdPl sowie die Freidemokraten der PD (Demokratische Partei) gebildet werden kann. Diese Mitte-Links-Formation ("Centrolew") hätte gute Chancen, das bisher weitgehend zerstrittene Feld von der Mitte der Gesellschaft nach Links hinein zu integrieren. Bei den nächsten Parlamentswahlen würde das Kaczyński-Lager sich zweier ernsthafter Herausforderer gegenübersehen: der liberal-konservativen PO und dem sozialliberalen "Centrolew". Einer der zentralen Figuren im "Centrolew" - so Borowski weiter - könnte Ex-Präsident Aleksander Kwaśniewski sein.

Während also Borowski - so scheint es - Nägel mit Köpfen zu machen versucht, muss sich Olejniczak zunächst einmal auf die Gegebenheiten der SLD einlassen. Noch immer ist sie mit vielleicht 50.000 aktiven Mitgliedern zahlenmäßig eine der stärksten politischen Faktoren im Lande. Nach den Regional- und Lokalwahlen im Herbst wird sich nach Ansicht kenntnisreicher Beobachter das Schicksal der SLD entscheiden. Borowski hat bereits vorausgedacht: Es mache keinen Sinn, künftig in erster Linie um jene Wähler zu streiten, die ins Lager des "solidarischen Polen" gewandert seien. Sozialer Protest, so seine kühne Hypothese, werde künftig in Polen eine immer geringere Bedeutung spielen. Man müsse sich auf den aktiven und leistungsfähigen Teil der Gesellschaft orientieren und für diesen Angebote herausarbeiten, die auf Werte wie Demokratie oder Europa gestützt seien. Ihm steht - was die linke Seite betrifft - eine italienische Lösung in polnischen Farben näher als eine entsprechende deutsche.

Olejniczak ist da etwas vorsichtiger geworden. Anders als in der unmittelbaren Nachwahlzeit gibt er nunmehr unumwunden zu, dass der Erfolg des jetzigen Regierungslagers auch etwas zu tun habe mit den in den zurückliegenden 16 Jahren Transformation angestauten sozialen Problemen - etwa die höchste Arbeitslosenquote aller EU-Staaten, vielfach verbreitete Hoffnungslosigkeit und die umsichgreifende Existenzangst. Deshalb könne sich ein zukünftiger "Centrolew" nicht nur als Instanz der Verteidigung des in der Zeit von 1990-2005 Erreichten verstehen, sondern müsse viel mehr auf Angebote achten, die zu einer spürbaren sozialen Verbesserung der Lage der durch die Transformation ausgeschlossenen und ins Abseits gedrängten Menschen führen.