Nicht weniger als die polnische Realität zu beschreiben hat sich die Soziologie-Professorin Maria Jarosz vorgenommen. Aus der Sicht des Jahres 2004 zog sie in einem in Polen viel beachteten Buch Bilanz über Deformationen des Staates, aus der sozialistischen Zeit übernommene und neu entstandene Privilegien und um Korruption als informelle Parallelstruktur öffentlichen Handelns. Für ihr Buch erhielt sie den Ludwik-Krzywicki-Preis, den wichtigsten polnischen Preis für Soziologie. Das Deutsche Polen Institut Darmstadt hat nun die Herausgabe in einer deutschen Ausgabe übernommen. Doch bei der Vorstellung des Buches in Berlin führte die Autorin trotz mehrfachen übervorsichtigen Ausgewogenheits-Bemerkungen des Leiters des Polen-Instituts Dieter Bingen konsequent in die Zeit der neuen konservativen Regierung ein. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Deutschen Polen-Instituts dokumentieren wir hier den Redebeitrag von Maria Jarosz bei der Buchpräsentation. In der anschließenden Diskussion wurde sie noch deutlicher: Die neue Regierung, die mit dem Slogan der Bekämpfung von Korruption an die Macht gekommen ist, institutionalisiert in Wirklichkeit das, was sie zu bekämpfen vorgibt.

 

Ein Buch zur polnischen Transformation nach 1989

"Macht, Privilegien, Korruption"

Von Maria Jarosz

 

In Polen ist mein Buch von fast allen Zeitungen und Fernsehsendern rezensiert und zitiert worden, es wurde auch bei einer Konferenz des Sejm besprochen und mit einem renommierten soziologischen Preis ausgezeichnet (dem Ludwik-Krzywicki-Preis). Nichts aber war für mich eine größere Freude als die deutsche Ausgabe des Buches. Dies und die Möglichkeit, an der heutigen Diskussion teilnehmen zu können, ist eine große Ehre, für die ich den Herausgebern, Übersetzern und Veranstaltern herzlich danken möchte. Wie steht es um Polen gut 15 Jahre nach der Systemtransformation? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, so wie auch die polnische Realität kompliziert ist.

 

Eingangs sei bemerkt, dass Polen dank der Übereinkunft am Runden Tisch 1989 und dem 17 Jahre währenden Umbau des Landes ein freier und demokratischer Staat mit einer sich entwickelnden Wirtschaft ist, der sich fest in Europa integriert hat. Hätte man diesen großen Prozess des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbaus besser - und mit geringeren gesellschaftlichen Kosten - programmieren und durchführen können? Ja, sicherlich, vor allem, wenn wir ihn aus heutiger Sicht betrachten. Doch andererseits vollzog sich damals erstmals - in Polen und in Europa - eine postkommunistische Transformation, für deren Durchführung es keine fertigen Rezepte gab. Es herrschte eine Euphorie für radikale Veränderungen und man war sich einig, das westliche Systemmodell praktisch ohne Korrekturen zu übernehmen, was eine Ursünde nicht nur der polnischen Transformation war.

Polen befindet sich heute, im Jahre 2006, in einer positiven wirtschaftlichen Situation; es hat ein hohes wirtschaftliches Wachstumstempo, eine geringe Inflation - und sichere Grenzen.

Zugleich gehören zum Bild Polens die höchsten Arbeitslosenraten Europas, politischer Kapitalismus, Korruption und all das, was zu Armut und Marginalisierung eines großen Teils der Gesellschaft geführt hat. Damit einher geht eine wachsende Kritik an der Macht, die zum Triumph populistischer Parteien führt, welche die Veränderungsrichtung und praktisch alle guten Seiten der Dritten Republik negieren. Sie fordern, diese Dritte Republik angesichts dessen gemeinsam mit ihren institutionellen Fundamenten auszuradieren - um auf ihren Trümmern eine Vierte, bessere Republik zu errichten, welche die Fehler ihrer Vorgängerin nicht wiederholen werde. Dies ist eine ganz klar politische Ansicht, mit der ich als Soziologin und Erforscherin der sozialen Wirklichkeit nicht einverstanden bin.

Hier stellt sich nun eine Frage: wenn dies so ist, warum konzentrieren sich dann meine Bücher auf die Schattenseite der Transformation? Auch und gerade das Buch "Macht, Privilegien, Korruption". Und welchen Zusammenhang hat diese hier enthaltene Diagnose mit dem Programm der heute regierenden Partei?

Beginnen wir mit der ersten Frage. Meine wissenschaftlichen Interessen - die Analyse von Dysfunktionen, Desorganisation, übermäßigen sozialen Ungleichgewichten usw. - sind schon gut vierzig Jahre alt. Meine Bücher und Untersuchungen über die gesellschaftliche und institutionelle Desorganisation - in Polen spricht man in diesem Zusammenhang häufig auch von "Pathologie" -, über soziale Ungleichheiten, über Selbstmorde als Indikatoren von Desintegration und Zustand der Gesellschaft, über die Fehler der Zentralverteilungswirtschaft, aber auch über die Hintergründe der polnischen Privatisierung sind in einem guten Dutzend Ländern erschienen (das neueste Buch über den Selbstmord ist 2005 in Frankreich erschienen und kommt dieses Jahr auch in Japan heraus). Der guten Ordnung halber sollte angemerkt werden, dass ich mein stures Festhalten an der Analyse der Systemfehler im ancien regime in den 1970er Jahren mit anderthalb Jahren erzwungener Arbeitslosigkeit bezahlt habe. Ein anderes Argument für die Analyse der Schattenseite der sozialen Realität ist, dass sie zur Grundlage für positive Veränderungen der diagnostizierten Wirklichkeit werden kann. Aber wirklich nur dann, wenn dies eine glaubhafte Analyse ist, die sich auf viele Quellen und auf Informationen der offiziellen Statistiken sowie auf repräsentative (...) Untersuchungen über Fakten, Situationen, Verhaltensweisen und Einstellungen der Menschen stützen. Diesen Standards einer soliden Soziologie habe ich mich bei der Analyse unterworfen, unter anderem in Macht, Privilegien, Korruption.

Eine weitere Voraussetzung für einen "Wandel zum Besseren" ist, ob - wenn überhaupt - die Forschungsergebnisse zu den Politikern vordringen. Offenbar lassen sich die Vertreter der Machtelite - egal, ob der Rechten oder der Linken -  früher wie heute in ihrem Handeln von eigenen Urteilen leiten, die sich aus kurzfristigen politischen Überlegungen ergeben. Diese Ansichten stehen also in keinerlei Zusammenhang zu wissenschaftlich begründeten Informationen, welche das komplizierte Wissen über das Funktionieren und über die Dysfunktionen von Wirtschaft und Gesellschaft vermitteln. Dieses Wissen wird von einer virtuellen, von Politikern geschaffenen Begriffs- und Urteilswelt verdrängt, die sich an bestimmte gesellschaftliche Schichten richtet und mittlerweile von diesen übernommen worden ist.

Gibt es also eine Koinzidenz zwischen Wissenschaft und Politik, oder, genauer gesagt, zwischen der soziologischen Analyse der Pathologie der Macht, der Analyse von Ungleichheit und Korruption auf der einen Seite und dem Programm eines Umbaus der Republik Polen auf der anderen Seite, wie es von Jarosław Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit vertreten wird, die seit Herbst vergangenen Jahres die polnische Regierung bildet?

Wenn es einen Zusammenhang gibt, dann vor allem insofern, als die in meinem (vor zwei Jahren geschriebenen) Buch dargestellte Analyse nach Meinung der Rezensenten die Realität erstaunlich gut abbildete. Sie gab aber auch Anlass für Prognosen, in denen soziale Unzufriedenheit und die Wahl einer neuen Regierung vorhergesagt wurden. Insbesondere einer solchen Regierung, welche den Kampf aufnehmen würde gegen die Privilegien der Nutznießer, gegen Armut und Erniedrigung der Transformationsverlierer sowie gegen die allgegenwärtige Korruption.

Und so kam es. Die neue Regierung versprach feierlich die Verwirklichung der Träume von einem besseren, gerechteren Polen, in dem all jene, die gegen Gesetze verstoßen haben, bestraft werden würden, während die bislang ungerecht behandelten armen, gewöhnlichen Menschen endlich würden normal leben können. Dies ist - mit größtenteils von den Linken übernommenen, bislang nicht verwirklichten Schlagworten - ein sehr ehrgeiziges Reformprogramm. Das Problem besteht darin, dass es - Jarosław Kaczyński und den derzeitigen Machthabern zufolge - eine Bedingung sine qua non für seine Verwirklichung ist, das unheilvolle, alles umfassende Beziehungsgeflecht (polnisch: układ) zu zerstören, also jenes "Viereck" aus Geheimdiensten, Wirtschaft, Politik und organisierter Kriminalität.

Dies dürfte recht schwer werden, vor allem wenn man bedenkt, dass dieses Beziehungsgeflecht eher virtuell denn real existiert. Weder empirische Forschungen noch sorgfältige theoretische Analysen haben Beweise für sein Bestehen liefern können. Die drei letzten Bücher, die ich geschrieben bzw. herausgegeben oder mitverfasst habe - Macht, Privilegien, Korruption (2004), Polen. Aber was für eines? (2005) sowie Gewinner und Verlierer der polnischen Transformation (2005) -, belegen die Existenz vieler destruktiver Verbindungen zwischen Politikern und Wirtschaftsoligarchen oder auch Geheimdiensten. Es gibt sie, wenn auch verpuppt und an die neue Lage angepasst. Diese dysfunktionalen Beziehungsgeflechte sind weder eine polnische Besonderheit noch ein Spezifikum der postkommunistischen Staaten. Gegen politisch-wirtschaftliche Affären, an denen häufig auch die Geheimdienste beteiligt sind (wie dies von den Medien aufgedeckt wird), kämpft man auf der ganzen Welt. Auch die Regierung von "Recht und Gerechtigkeit", die nun schon im fünften Monat ganz alleine über das Innenministerium, die Staatsanwaltschaft, die Polizei und die Geheimdienste gebietet, hat keinerlei Beweis für das Bestehen eines derartigen "Vierecks" liefern können. Hatte die ganze Aufregung also lediglich ideologischpragmatische Gründe? Zum Beispiel, um verschiedene Sonderuntersuchungskommissionen mit gewaltigen Befugnissen berufen zu können, die sich hauptsächlich gegen den politischen Gegner richten oder aber sich in den Kampf gegen die Unabhängigkeit demokratischer Staatsstrukturen einschalten sollten (Verfassungsgericht, Richter und Rechtsanwälte, Medien usw.)? Vielleicht handelt es sich aber auch um eine Art von Absicherung vor einem möglichen wirtschaftlichen und politischen Niedergang - der natürlich durch jenes mythische Beziehungsgeflecht verursacht sein würde? Sei es wie es wolle, die Ideen für eine außergewöhnlich konfliktreiche Art und Weise zur Umgestaltung Polens, welche die Polen unterteilen würde in anständige Menschen, die die umstrittenen Konzepte der neuen Machthaber vorbehaltlos unterstützen, und in solche, die ihnen gegenüber kritisch eingestellt sind (die "Roten", "Rosafarbenen", "Liberalen" usw.) haben zu einer raschen Polarisierung der Gesellschaft geführt. In großer Vereinfachung handelt es sich um die Unterteilung in gewöhnliche graue Menschen und die Bildungsschicht (die wiederum aus den "eigenen" Parteigängern und den "anderen" besteht). Adam Michnik beschreibt diesen Prozess zutreffend: "diese Menschen (...), die erniedrigt sind durch Arbeitslosigkeit, degradiert durch die Logik des Marktes, die wegen ihres ungerechten Schicksals Aggressionen hegen und hasserfüllt auf Menschen mit Erfolg blicken - diese Menschen suchen unbeirrlich die Schuldigen für die eigene Niederlage. Diesen Menschen kann man leicht einreden, dass sich ein geheimnisvolles Beziehungsgeflecht gegen sie verschworen habe, eine Front der Verteidiger der Kriminalität, dass sie durch die Lügenelite leiden" (Adam Michnik: Opowieść o zwyczajnym człowieku, in: Gazeta Wyborcza vom 18./19. März 2006.

All dies - die instabile politische Lage, die bedrängte Regierung, die sich nicht mit sinnvollen politischen Kompromissen beschäftigt, sondern mit unklaren programmatischen Szenarien, der nicht enden wollende, aggressive Wahlkampf und die Ausweitung der Konfliktfelder - all dies lässt natürlich Unruhe entstehen.

Gibt es aber wirklich eine reale Gefahr, dass Polen vom Weg der demokratischen Veränderungen abkommt? Derartige Befürchtungen (die von einigen Publizisten und Politikern geäußert werden) scheinen wenig begründet zu sein. Polen, das in die Europäische Union integriert ist, das Institutionen besitzt, welche die Staatsverfassung schützen und (wie schon gesagt) das gut entwickelte Veränderungen des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Systems besitzt, droht heute, im Frühjahr 2006, keine populistische Diktatur. Möge es dabei bleiben.                                                                                                                           Berlin, 28. März 2006

Aus dem Polnischen: Peter Oliver Loew

 

 

"Macht, Privilegien, Korruption" ist die erste komplexe Analyse der Schattenseite der polnischen Wirklichkeit nach 1989. Die polnische Soziologin Maria Jarosz stellt in ihrem Buch, das in Polen heftige Debatten ausgelöst hat, die Probleme des heutigen Polen anschaulich und unverblümt dar. Maria Jarosz ist Professorin am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Zu ihren zahlreichen Buchveröffentlichungen zählen Arbeiten wie "Selbstmorde. Die Flucht der Verlierer" (2004) und "Soziale Ungleichheiten" (1984) sowie zuletzt - als Herausgeberin - "Polen. Aber was für eines" (2005)

Jarosz, Maria, Macht, Privilegien, Korruption, Die polnische Gesellschaft 15 Jahre nach der Wende Aus d. Poln. von Peter Oliver Loew, 290 Seiten Paperback, ISBN: 3-447-05296-1, 24,80 Eur.


Wenn Sie das Buch über nebenstehenden Link bestellen, unterstützen Sie unsere Arbeit