Eine
spekulative Zukunft
Science-Fiction
und die polnische Fantasy-Literatur gestern und heute
Von Christiane Thoms
Nachdem die marode Wirtschaft in Polen den Geist auszuhauchen schien,
erlebte Ende der achtziger Jahre die Fantasy-Literatur in Polen einen raschen
Aufschwung. Zum Einen ist die märchenhafte fantastische Literatur und zum
Anderen die spekulativ-futuristische Science-Fiction-Literatur gemeint: eine
hypothetische Möglichkeit der Zukunft, ein geistiges Experiment, ein tiefes
menschliches Unterbewusstsein zeichnen eine Grenzüberschreitung der
Wirklichkeit. Das Genre Fantasy-Literatur war in
Polen vor 1980 nicht so populär, was aber durch die wirtschaftlichen und politischen
Bedingungen herzuleiten ist. Eine große Schar junger AutorInnen
meldete sich nun zu Wort und verlangte Aufnahme in die Reihen anerkannter
Erzähler und Erzählerinnen. Der Autor Andrzej Sapkowski
sagte in einem Interview: "Science fiction
konnte man lesen, das hatte mit Wissenschaft zu tun, mit Ökonomie, war also
etwas für kluge Leute. Fantasy war dekadent, somit
etwas für dumme Leute. Außer J.R.R.Tolkien, der in
der polnischen Übersetzung schon in den 60er Jahren herausgegeben worden war,
hatten wir absolut nichts."
Stellt man sich die Frage nach
dem Wesen der Science-Fiction und folgt den Stimmen der Kritik, der Soziologie,
Psychologie und der Literaturwissenschaft, so gelangt man an die beiden Pole
der Fantastik: Science-Fiction und Fantasy. Hier scheiden sich nicht selten die Geister. Für
Manche ist klar, dass Geschichten über eine hypothetische Zukunft nichts mit
Geschichten über eine mythische Vergangenheit gemeinsam haben; das eine ist
Wissenschaft, das andere Magie. Sapkowski
unterstreicht das Argument, dass Science-Fiction ein wesentliches Element der Krisenerscheinungen sei, das in Zeiten gesellschaftlicher
Unruhen und Wandlungen von Moralvorstellungen und Wertigkeiten auf der
Bildfläche erscheint.
Zeigt in diesem Sinne die Fantastik eine Bewusstseinserweiterung oder eine
Wirklichkeitsflucht? Betrachtet man einige fantastische Werke unter
Berücksichtigung historischer Verhältnisse, ist eine Wirklichkeitsflucht
verständlich. Als Strömung gegen einen einseitigen Rationalismus bestätigt sich
aber auch eine Existenz von irrationalen Kräften, die die Realität beeinflussen
und eine Bewusstseinserweiterung bewirken. Die Fantastik
als Wirklichkeitspoetisierung verhilft, unsere Einsicht und unser Verständnis
zu erweitern sowie die Wirklichkeit pausieren zu lassen.
Ein Beispiel früher polnischer
Science-Fiction, die ihrer Zeit weit voraus war, ist die Mond-Trilogie von
Jerzy żuławski
(1874-1915). Der erste Band erschien kurz vor dem Ersten Weltkrieg unter dem
Titel "Auf silbernen Gefilden. Ein Mond-Roman." auch in deutscher
Übersetzung. Zulawski beschreibt in seinem ersten
Band "Auf dem Silbermond" sehr eindrucksvoll die erste von einer
internationalen Mannschaft unternommene Fahrt zum Mond. Während die von einem
polnischen Patrioten geführte Raumfahrt im Hintergrund verschwindet, beschreibt
der Autor sehr anschaulich den Überlebenskampf der gestrandeten RaumfahrerInnen auf dem Mond.
Die Science-Fiction-Literatur hat in Polen eine durchaus erwähnenswerte
Tradition
Beim Erreichen der bizarren,
menschenfeindlichen "Rückseite" des Mondes realisieren die
Überlebenden, dass sie ohne Rücksicht auf Moralvorstellungen der Erde eine neue
Zivilisation aufbauen müssen. Reizvoll ist das Ausloten der menschlichen
Differenzen mit seinen melodramatischen-psychologischen Spannungsfeldern. Im
zweiten Band "Der Sieger" beschreibt ¿u³awski die Entstehung eines
neuen Ursprungsmythos. Ein weiterer irdischer Raumfahrer entdeckt nach 700
Mondjahren eine kleinwüchsige Mondmenschengeneration, für die die Erde einen
märchenhaften Mythos darstellt. Die grandiosen Beschreibungen der
Mondlandschaft, das kulturelle Hinterfragen sowie die Erkenntnis, dass die
Menschen unter widrigen Umständen ganz neue Mythen und Religionen entwickeln
können, machen diesen Roman sehr reizvoll. Der dritte Band "Die alte Erde"
zeigt schließlich, wie Mondskeptiker auf die Erde gelangen und was sie dort an
erschreckenden Ereignissen erleben.
Der in diesem Jahr verstorbene
und im deutschen Sprachraum sehr gut vertretene Stanisław Lem (1921-2006) war ein Autor, der den Terminus Science-Fiction
ernst nahm und an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Literatur
seinerzeit Neues schaffte. Dennoch sprach und spricht immer noch die neue
Science-Fiction-Generation, die zu Beginn der 80er Jahre anrückte, vom
wackelnden Lem-Thron. Die in den 60er Jahren
etablierte Science-Fiction-Generation versuchte vergeblich den
"dialektischen Weisen aus Krakau" auf Biegen und Brechen zu
übertreffen. Sie konnten ihm aber derzeit das Wasser nicht reichen.
In der Weltliteratur hoch geachtet: Stanisław Lem
"Es herrscht Chaos. Vielleicht muß diese
Menschheit untergehen, damit eine andere entstehen kann." (Stanisżaw Lem)
Lem war
in erster Linie ein Schriftsteller der
Ideen, Charaktere sind funktionell und einer Aussage untergeordnet. Als
unübertreffbarer Stilist mit unterschiedlichen Ausdrucksarten bringt er uns
seine Betrachtungsweisen der Welt nahe. Berühmt sind seine Neologismen sowie
die von ihm mit Glanz beherrschte Terminologie fiktiver Wissenschaften. Immer
wieder zeigte Lem, wie er mit seinen wahnwitzigen
Einfällen den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen eine Spur voraus war.
Die Weltenschöpfung und die Schöpfung von Bewusstsein ist
bei Lem immer mit Leiden verknüpft und seine
Sehnsucht ist das Unerreichbare Absolute. Seine oft märchenhaften und
scherzhaften Erzählungen verbergen immer einen tiefen kulturellen Sinn. Lem war ein Relativist und Moralist, der die kulturellen
Werte sehr betonte, obwohl er wusste, dass die Vernunft keine absoluten Werte
zu schaffen vermag. In den Werken von Lem schimmern
Visionen und Fantasmagorien durch und die Absurdität
des menschlichen Daseins hinterlässt einen Rest des Unerklärlichen. Genau
dieses "fremde Andere" gibt es im den Planeten Solaris bedeckenden, geheimnisvollen
und intelligenten Ozean. Sein Roman "Solaris" ist ein origineller
Versuch, die Welt auf einem hohen literarischen und wissenschaftlichen Niveau
auszulegen und mit Sinn zu füllen. Die Tatsache, dass die Menschen unfähig
sind, alles zu verstehen, ist für Lem kein Anlass zu
existentieller Verzweiflung. Die Wissenschaft löst Probleme und wirft
gleichzeitig wieder neue auf; der Mensch befindet sich in einem nie endenden
Lernprozess und erschafft sich dabei die sinnvollen Wertvorstellungen in einer
tröstenden Fiktion.
Der Psychologe Dr. Kelvin wird
zur Raumstation des Planeten "Solaris" geschickt, um dort
unerklärliche Phänomene zu untersuchen. Auf dem Planeten angekommen, stößt er
dort nur auf Chaos und auf ein verwirrtes Forscherteam. Als Dr. Kelvin jedoch
seine Frau antrifft, die sich auf der Erde vor zehn Jahren das Leben genommen
hatte, fängt er an, zwischen Realität und Wahnsinn zu schwimmen.
Solaris (...) kreist um zwei Sonnen, eine rote und eine blaue. Über
vierzig Jahre lang näherte sich ihm kein Raumschiff, die Gamov-Shapleysche
Theorie über die Unmöglichkeit der Entstehung von Leben auf Planeten von
Doppelsternen galt damals für erwiesen. (...) Die Solaris (avancierte) nun in
den Rang eines besonderer Beachtung würdigen Himmelskörpers. (...) Innerhalb
des Wissenschaftlerteams kam es jedoch zur Aufspaltung in zwei generische
Lager. Gegenstand des Streits war der Ozean. Auf Grund der Analysen wurde er
als organisches Gebilde definiert (ihn lebendig zu nennen, wagte damals noch
niemand). Die Biologen sahen in ihm ein primitives Gebilde, (...) eine einzige
monströs auseinandergewachsene flüssige Zelle, die
den ganzen Globus mit einem gallertartigen, stellenweise eine Tiefe von
mehreren Meilen erreichenden Mantel überzogen hat. (...) Als dies ausgesprochen
war, brach in der wissenschaftlichen Welt einer der heftigsten Stürme unseres
Jahrhunderts los.(...) in der wissenschaftlichen
Literatur tauchten die ketzerischsten Artikel auf, und die Alternative
"genialer Ozean" oder "Gravitations-Gallerte" erhitzten
alle Gemüter. (...) Einige Zeitlang kursierte die Ansicht (und wurde eifrig von
der Tagespresse verbreitet), der denkende Ozean, der die ganze Solaris umspült,
sei ein gigantisches Gehirn, das unserer Zivilisation Jahrmillionen der
Entwicklung voraus habe.(...)
Wir brechen in den Kosmos auf, wir sind auf alles vorbereitet, das
heißt auf die Einsamkeit, auf den Kampf, auf Martyrium und Tod. (...) Menschen
suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen
Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen. Es genügt unsere
eine, und schon daran ersticken wir. Wir wollen das eigene idealisierte Bild
finden; diese Globen, diese Zivilisationen haben vollkommener zu sein als die
unsere, in anderen wiederum hoffen wir das Abbild unserer primitiven
Vergangenheit zu finden. Indessen ist auf der anderen Seite etwas, was wir
nicht akzeptieren, wogegen wir uns wehren, und schließlich haben wir von der
Erde nicht nur das pure Destillat aus lauter Tugenden mitgebracht, das
heroische Standbild des Menschen!
Die Expeditionen legten im Innern von Symmetriaden
Hunderte Kilometer zurück und brachten Registriergeräte und selbsttätige
Filmkameras an; die Fernsehaugen künstlicher Satelliten registrierten das
Knospen der Mimoide und Längichte,
ihr Reifen und Sterben. Die Bibliotheken füllten sich, die Archive wuchsen
(...). In den Kataklysmen sind siebenhundertachtzehn Menschen umgekommen. (...)
Snaut hatte die Elektroden fertig befestigt und die Finger an den Schalter
gelegt. (...) Die Apparatur schnappte zweimal beim Ausschalten. (...)
Sartorius, immer noch in der gleichen Haltung, sah mich prüfend an; (...) Herr
Doktor Kelvin, glauben Sie, daß es gelungen ist?-Sartorius ließ seine
abstoßende Näselstimme erklingen. Ja. (...) Im übrigen,
was erwarten sich Menschen, was können Menschen sich vom "Anknüpfen einer
Nachrichtenverbindung" mit denkenden Meeren versprechen? Ein Register der
Erlebnisse im Zusammenhang mit zeitlich endloser Existenz, die so alt ist, daß sie sich bestimmt nicht an den eigenen Anfang erinnert?
Das Nürnberger Staatstheater
hatte es 2005 gewagt, dieses literarische Science-fiction-Stück
auf die Bühne zu bringen; mit ambivalenten Kritiker-Stimmen.
Fantasy-Romane treten in den Vordergrund
Mit der Ausweitung des Bereiches
der Popularkultur entfaltete sich dieses literarische
Genre, das bis Mitte der achtziger Jahre in der nationalen Literaturszene ein
stiefmütterliches Dasein führte. Die 1986 in der Warschauer Zeitschrift "Fantastyka" gedruckte Erzählung "Der Hexer"
von Andrzej Sapkowski (geb.1948) galt als erste
gelungene Umsetzung des Fantasy-Genres in Polen. Zu
den Inspirationsquellen seiner fantastischen Erzählungen gehörte J.R.R.
Tolkien, der ihn zu seinem fünfbändigen Romanzyklus anregte. Die fünf Teilbände
"Das Blut der Elfen" (Krew elfów, 1994), "Zeit der Verachtung" (Czas pogardy, 1995),
"Feuertaufe" (Chrzest ognia,
1996), "Turm der Schwalbe" (Wie¿a jaskó³ki,
1997) und "Die Herrin des Sees" (Pani jeziora, 1999) wurden in andere europäische Sprachen übersetzt
und teilweise verfilmt. Sapkowski schöpft aus den
Schatzkammern der fantastischen Literatur, denn seine Werke sind von Hobbits, Dryaden, Elfen und Zwergen
bevölkert. Ironisch und witzig führt Sapkowski seine Strategie der Schablonenhaftigkeit sowie
der Rezeption des Märchenuniversums fort und schafft somit die Grundlage zur
Neudefinition der Fantasy-Literatur. Während Lem durch die Interpretation des Wirklichen in seinen
literarischen Darstellungen einen mimetischen Bezug zur Realität aufweist,
bevorzugt Sapkowski eine metatextuelle
Herangehensweise, die ernüchternd seinen leicht zynischen Humor hervortreten
lässt und der sogenannten Heroic-Fantasy-Literatur
in der europäischen und polnischen Gattungsgeschichte einen Meilenstein setzt.
Die Popularität der heroischen Fantasyerzählungen ist
unter Anderem auf die auftretenden Heldenkonzeptionen zurückzuführen: ein
kämpfender fantastischer Held mit einer attraktiven Heldin an der Seite. Beide
suggerieren, dass jeder Mensch alle Widerstände überwinden kann. An genau diese
Vorstellungsinhalte knüpft die polnische Popularkultur-Forschung
an. Die Fantasy bringt im Unterschied zur
Science-Fiction eine alternative Weltsicht hervor, die in eine bestimmte
historische Chronologie eingeordnet ist. Die Entwicklung der Technik und
entsprechender Neologismen wird in der Gattung der Fantasy
oft durch Magie ersetzt.
In dem Fantasy
Roman "Narrenturm" in dem manch phantastische Gestalten auftauchen,
versteht es Andrzej Sapkowski auf unnachahmliche
Weise, Geschichte, Historie, Fantasy und Humor zu
vereinigen:
Die düsteren Prophezeiungen der Chiliasten,
die den Weltuntergang ziemlich präzise – nämlich für das Jahr 1420, den Monat
Februar und den Montag, der auf den Festtag der heiligen Scholastica
folgte – angekündigt hatten, erfüllten sich nicht. Die Tage der Strafe und der
Rache, die dem Herannahen des Königreiches Gottes vorangehen sollten, kamen
nicht. (...) Der Weltuntergang kam also 1420 nicht, auch nicht ein Jahr später,
nicht zwei, nicht drei, und auch nicht vier Jahre später. Die Dinge nahmen,
wenn ich so sagen darf, ihren gewohnten Verlauf. Die Kriege dauerten an. Die
Seuchen mehrten sich, die mors nigra wütete, Hunger
breitete sich aus. Der Nächste erschlug und beraubte seinen Nächsten, begehrte
dessen Weib und war überhaupt des Menschen Wolf. Den Juden bescherte man von
Zeit zu Zeit ein kleines Pogrom und den Ketzern ein Scheiterhäufchen. An
Neuheiten hingegen war dieses zu vermelden: Skelette hüpften mit lustigen
Sprüngen über die Friedhöfe, der Tod schritt mit seiner Sense über die Erde,
der Inkubus stahl sich des Nachts zwischen die zitternden Schenkel der
Jungfrauen, und dem einsamen Reiter sprang in der Einöde eine Striege in den Nacken. Der Teufel mischte sich sichtbar in
die Alltagsangelegenheiten ein und strich unter den
Leuten umher, tamquam leo rugiens, brüllend wie ein Löwe, und Ausschau haltend, wen
er verschlingen könnte.
Viele berühmte Leute starben in jener Zeit. (...) Im Jahre 1421, am
Montag nach dem Mittfastensonntag Oculi,
verstarb in Oppeln nach sechsundsechzig verdienstvollen Jahren Johann, appellatus der Weihwedel, ein Herzog aus dem Geschlecht der
Piasten und episcopus Wloclaviensis. Vor seinem Tode hatte er der Stadt Oppeln
eine Schenkung von sechshundert Mark gemacht. Es heißt, ein Teil dieser Summe
sei, dem letzten Willen des Sterbenden gemäß, an das berühmte Oppelner
Hurenhaus »Zur Roten Gundel« gegangen. Die Dienste dieses Liebestempels, der
sich hinter dem Kloster der Minderbrüder befand, hatte der Bischof, der ein
Lebemann war, bis zu seinem Tode in Anspruch genommen – wenn auch gegen Ende
seines Lebens nur mehr als Beobachter. (...) Auch Jakob PÍczak,
genannt Fisch, der Müller von Beuthen, starb. Ha, ich
muss zugeben, der ist etwas weniger bekannt und berühmt als die oben Genannten,
aber er hat ihnen gegenüber den Vorteil, dass ich ihn persönlich kannte und
manchmal mit ihm gebechert habe. Mit den früher Erwähnten ist das irgendwie nie
zustande gekommen. (...)
Ihr wisst doch, werte Herren, woran man
erkennt, ob eine Zeit historisch ist? Daran, dass vieles schnell geschieht. Damals
ereignete sich sehr vieles sehr schnell. (...) Manchmal war es so schlimm, dass
einem, ich bitte um Vergebung, edle Herren, der Arsch auf Grundeis ging.
Das war eine bedrohliche Zeit. Eine böse. Und wenn es Euer Wille ist,
so werde ich davon erzählen. Um die Langeweile zu vertreiben, solange der
Regen, der uns hier in der Schenke festhält, nicht aufhört.
Phantastisches Polen
Nach 1989 toste durch Polen eine
Flutwelle der bisher raren Übersetzungen westeuropäischer
Science-Fiction-Literatur. Die polnische Fantastik
wurde in ihrer Bedeutung stark zurückgedrängt und polnische Talente klopften
vergeblich an die Türen der Verlage. Schmerzhaft erkannte man die mindere
Qualität der importierten Fantastik, so dass die
Nachfrage seit ein paar Jahren anhaltend wieder steigt. "Nach dem Tod von
Stanislaw Lem leuchten innerhalb der polnischen Phantastik vor allem zwei Sterne auf.", so titelte die
Polityka vom 29.4.2006: gemeint sind Jacek Dukaj (geb. 1974) und Marek S. Huberath
(geb. 1954). Sowohl auf dem diesjährigen 2. Polnischen Festival der
Popliteratur als auch auf der Leipziger Buchmesse galt die besondere
Aufmerksamkeit der polnischen Fantastik.
Die Romane und Erzählungen von J.
Dukaj sind von einer Totalität ausgezeichnet, die
sich an die Grenze des Verständlichen vorbeiwagt. Der Roman "Andere Lieder"
ist, genau betrachtet, ein Werk, das Elemente des Fantasyromans
und der political fiction
in einem tiefgründigen philosophischen Traktat verbindet. Dukaj
wird allgemein als das Talent gehandelt, das würdig ist, Lems
Nachfolge anzutreten.
Der Krakauer Schriftsteller und
Physiker Marek S. Huberath hat das außergewöhnliche
Wagnis einer Modifizierung des herkömmlichen Modells fantastischer Prosa
unternommen. Für gewöhnlich orientieren sich die Werke dieses Genres an Stoffen
aus dem keltischen oder germanischen Sagenkreis und Motiven aus der Geschichte
des Mittelalters. Huberath hingegen verbindet in
seinem Werk "Die Städte unter dem Fels" die typischen Motive der
Prosa Tolkiens und seiner Nachfolger mit biblischen und apokryphen
Legenden und schafft so eine Art biblische Fantasy.
"Die Städte unter dem Fels" bietet eine spannende Handlung mit
überraschenden Verwicklungen und stellt ein intertextuelles
Spiel mit der christlichen Tradition dar. Uns wird eine ebenso mitreißende wie
erschreckende Vision des Jenseits geboten, die in großem Maße von den
Bilderwelten eines Hieronymus Bosch inspiriert wurde und eine delikate
Geschichte nach der verzweifelten Suche zur Liebe erzählt.
In der polnischen Science-Fiction-Fantasy-Branche schriftstellern zunehmend
Frauen. Am polnischen Bücherstand der Leipziger Buchmesse war eine der bekanntesten
und interessantesten Frauen der polnischen Fantastik
Anna Brzeziñska (geb. 1971), von ihrer Ausbildung her
Mediävistin, zu sehen und zu hören. Ihre preisgekrönten Arbeiten überschreiten
oft die Grenzen des Fantasy-Fan-Milieus. Die
Tatsache, dass sie den wichtigsten polnischen Fantasy-Preis
erhielt (Janusz-Zajdel-Preis), rief einen langen
Streit um die Form und die Definiton der polnischen
fantastischen Literatur hervor, denn Brzeziñska lässt
in ihren Texten die Figuren so denken, dass sich keine Abgründe zwischen dem
Handlungshintergrund und der Mentalität der Agierenden auftun. Im Ergebnis kam
es zu einem eindeutigen Generationswechsel. Ihrem Debüt folgte ein
außergewöhnlicher Erzählzyklus über Oma Jagódka, eine
sture und bösartige Hexe. Die Autorin erschuf in weiteren Erzählungen eine
große Auswahl an spannenden und farbigen
Figuren, die das weltvergessene Wi³¿yñska-Tal
bewohnen und deren Schicksale sich mit ihren Wünschen verändern. Durch die mit
Humor stilisierte, leicht archaische Sprache grenzen die Erzählungen an eine
Märchenparodie und Groteske.
Eine neue Generation der
polnischen Science-Fiction-AutorInnen nach dem
Zweiten Weltkrieg rechnet heute mit der Gegenwart ab. Zu Beginn des
21.Jahrhunderts ist eine neue Thematik zu bemerken: die Stellung Polens in
Europa. Die jungen AutorInnen vertreten, ideologisch
unterschiedlich positioniert, eher EU-feindliche
Weltbildparolen. Die Idee eines geeinten Europa lässt sich nur partiell und
gleich glorifiziert abgehoben in einigen jungen Science-Fiction-Texten finden.
"Eine fiktionale Darstellung enthält immer eine Wirklichkeit"
Das Fantastische ist somit eine
Kategorie, die zum Wesen der modernen Literatur seit der Romantik gehört und
sogar konstitutiv für sie zu sein scheint. Die Fantasie, Schwester des Traums,
der Vision und der Haluzination fördert Unbewusstes
in die Form symbolischer Bilder zutage, in denen sich das Drama der Psyche darstellt.
Indem die Fantasie Traumbildern einen bewussten, benennbaren und erkenntnisfördernden Umriss verleiht, nähert sich die
Fantasie wieder der Ratio an. Der Germanist und Philosoph Reiner Matzker behauptet, dass jede noch so fiktionale Darstellung
immer eine Wirklichkeit enthält: "Phantasie überschreitet die Grenzen der
empirischen Sphäre, schöpft aus den Bereichen der Phänomenalität. Und doch,
(...) ist Phantasie (...) zurückzuführen auf die konkrete Leistung eines
kompilierenden Verstandes (...)."
Und genau diese Freiheit im Gestalten eines geistigen Experiments im Science-Fiction-Roman oder in der Fantasy-Literatur ermöglicht den AutorInnen als große Entfaltungsmöglichkeit des Unterbewusstseins, die Grenzen des Irdischen zu überschreiten und eine spekulative Zukunft für Polen zu träumen.