Ein Europäer aus Łódź

Der Übersetzer Karl Dedecius hat seine Erinnerungen veröffentlicht

Von Natasza Stelmaszyk

 

"Theo wir fahren nach Łódź"... An diesen Schlager noch aus dem Ersten Weltkrieg erinnert der Übersetzer Karl Dedecius in seinem neuesten Buch, das diesmal nicht vorrangig der Literatur, sondern ihm selbst gewidmet ist: Die Erinnerungen eines "Europäers aus Łódź". Der Schlager mit seiner bewegten Geschichte symbolisiert für Dedecius die Geschichte Mitteleuropas, vor allem Deutschlands und Polens - zwei Drehpunkten seines Lebens. Der 1921 geborene Karl Dedecius ist einer der herausragendsten Übersetzer polnischer Lyrik aller Zeiten und Vermittler polnischer Kultur im deutschsprachigen Raum. Er ist Gründer des bekannten Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, dass er viele Jahre lang geleitet hatte. In S³ubice, der Zwillingsstadt von Frankfurt/Oder befindet sich im Collegium Polonicum das umfangreiche Karl-Dedecius-Archiv und mit dem von der Robert Bosch Stiftung geförderten Karl-Dedecius-Übersetzerpreis werden deutsche Übersetzer polnischer Literatur und die polnischen Übersetzer deutscher Literatur ausgezeichnet.

 

Ginge es nach Karl Dedecius, so würde seine Autobiografie nie entstehen. "Ich halte mein Leben für nicht interessant genug", sagt er. Doch seine Freunde und der Verleger (Suhrkamp ist seit vielen Jahren sein ‚Hausverlag') "waren einer anderen Meinung". Zu Recht. Doch einfach war es für den Übersetzer trotz aller Unterstützung nicht. Dedecius kann stundenlang über die Literatur und das Leben "seiner" Autoren sprechen, aber direkt von sich selbst zu erzählen, das Selbsterlebte nicht hinter den literarischen Texten anderer zu verstecken, war für ihn eine neue Erfahrung und verlangte viel Kraft: Die schmerzhaften Erfahrungen der Kriegsjahre und der Zeit direkt nach dem Kriegsende machten auch die Erinnerungen an die glückliche Kindheit und Jugend in der Vielvölkerstadt Łódź um so schwieriger. Wer Karl Dedecius kennt, der wird sich nicht wundern, dass es die Literatur ist, die ihm ermöglichte, seine Autobiografie trotzdem zu verfassen: Die Tagebücher Musils öffneten für ihn das Tor in die Vergangenheit, die "in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs" unwiederbringlich verloren gegangen ist: "Hier fällt mir das Buch aus der Hand", schreibt er am Anfang seiner Erinnerungen. Von hier an aber will der Leser das Buch bis zum letzten Wort in der Hand behalten.

Für diejenigen, die beim Stichwort ‚Botschafter polnischer Kultur' sofort an Dedecius denken, ist es die erste Möglichkeit, sein privates Leben so genau kennen zu lernen - ohne Zweifel ist es sein persönlichstes Werk - auch wenn der Autor hier aus verständlichen Gründen bei Weitem nicht alles beschreibt. Für alle, denen der Name Karl Dedecius noch nichts sagt gibt es wohl kaum eine bessere Einführung in sein Leben und Werk als dieses Buch. Doch handelt es nicht nur vom Leben eines der größten Übersetzer osteuropäischer Literatur ins Deutsche, es ist auch - bei Dedecius könnte es wohl kaum anders sein - ein kleines Kompendium der polnischen Literatur und wichtiger Episoden der polnischen und der deutsch-polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Am 20. Mai wurde Karl Dedecius 85. Sein ganzes Leben hat er in den Dienst der Völkerverständigung und Literaturvermittlung gestellt. Bereits in der russischen Gefangenschaft fing er an, den russischen Dichter Lermontov zu übersetzen und entdeckte die heilende Kraft der Literatur und der Sprache. Nach seiner späten Rückkehr aus dem Lager (1950) fing sein zweites Leben an, das ein viertel Jahrhundert lang eigentlich ein ‚Doppelleben' war: Zum Broterwerb übte Karl Dedecius einen bürgerlichen Job aus; jede freie Stunde nutzte er hingegen, um Gedichte zu übersetzen und neue Werkausgaben, Sammelbände und vor allem Anthologien für den deutschen Leser vorzubereiten. Das Übersetzen polnischer aber auch russischer Lyrik ist seit über 50. Jahren seine Leidenschaft - solche Dichter wie Szymborska, Herbert, Miłosz, Różewicz oder der Autor von Aphorismen Lec wurden in Deutschland erst dank ihm bekannt - in Polen wurden sie zum Teil dank seiner Übersetzungen wieder entdeckt. Gleichzeitig ist der Autodidakt Dedecius, der sich die gesamte umfangreiche Literaturgeschichte Polens im Selbststudium angeeignet hatte - seine Studienpläne hat der Krieg zerstört - ein renommierter  Literaturwissenschaftler, Publizist, Essayist und ein bedeutender Herausgeber polnischer Literatur in Deutschland. Sein voluminöses Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts und die 50-bändige Polnische Bibliothek gehören zu den breitesten literarischen Editionen überhaupt.

Eine ausreichende Würdigung seiner Verdienste auf diesen Gebieten ist kaum möglich. Der Träger zahlreicher Titel honoris causa, Staats- und Literaturpreise sowie Ehrenbürgschaften wäre noch vieler mehr würdig. Es entstanden bereits einige wissenschaftliche Arbeiten, die das Werk und die Wirkung von Karl Dedecius ausführlich untersuchen. Seine Autobiografie liest sich aber unvergleichlich besser - es ist ein im besten Sinne unterhaltendes Buch über eine überaus interessante und reiche Biografie auf dem Hintergrund der bewegten und bewegenden Geschichte Europas. Dem Leser offenbart sich hier ein Leben wie die polnische Literatur selbst: poetisch und politisch zugleich. Auch wenn sich der Übersetzer nie in die Politik eingemischt hat - in seiner Tätigkeit als Literat und Herausgeber ließ sich Karl Dedecius nie vereinnahmen. Für ihn war immer das literarische Talent "seiner" Autoren, die Tiefe der Aussage ihrer Texte entscheidend, nicht welcher Option sie angehörten oder welche Weltanschauung sie vertraten. Er übersetzte und verlegte sie alle: Verbotene und von der kommunistischen Regierung Polens anerkannte Schriftsteller, Exilautoren und die, die im Lande geblieben sind, die von den Nazis- und von den Sowjetischen Eingreifern im Zweiten Weltkrieg ermordeten Dichter, genauso wie diejenigen, die sich zuerst von der Idee des Marxismus und Leninismus anstecken ließen, um sich von ihm danach enttäuscht abzuwenden. "In diesem Sinne halte ich mich für einen politischen Menschen", sagt Dedecius. Sein unabhängiges Denken bereitete ihm viele Schwierigkeiten in Polen wie in Deutschland - die kommunistische Regierung Polens sah in ihm einen Spion des Westens, die deutschen Nazis beschimpften ihn wiederum für sein Interesse an Osteuropa. Doch die meisten schätzen ihn bis heute für seine unveränderte Haltung und sehen in ihm das Vorbild eines echtes Europäers.

Karl Dedecius ist einer der größten, wenn nicht der größte, zeitgenössische Vermittler polnischer Literatur im deutschen Sprachraum. Die Polen sind ihm dankbar für die Eröffnung der Grenzen für die Literatur ihres Landes. Die Deutschen können ihm  für die Erweiterung der Horizonte (nicht nur der literarischen)dankbar sein, für seinen Einsatz zur Verbesserung des Bildes Deutschlands in Polen. Selten wird eine Persönlichkeit von solchem Format geboren, selten darf man sie näher kennen lernen. Dieses Buch gibt dem Leser endlich die Möglichkeit, Karl Dedecius von der Nähe zu betrachten und mit ihm auf eine einmalige Reise durch das alte und neue Europa auf nur knapp 400 Seiten zu gehen. Ein überaus empfehlenswertes Buch.    

Karl Dedecius, Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen. Suhrkamp 2006