Das erste Jahr

 

Von Holger Politt

 

Polen wird seit nunmehr einem Jahr von einer politischen Wirklichkeit beherrscht, deren wichtigsten Akteure sich selbst gerne als Vorreiter einer neuen Souveränität des Landes sehen. Innerhalb der Strukturen der Europäischen Union soll ein an konservativ-nationalen Werten sich ausrichtendes Gemeinwesen als funktionstüchtiges Modell errichtet werden. Funktionstüchtig durchaus im Sinne eines leistungs- und konkurrenzfähigen, also attraktiven Wirtschaftspartners, doch zugleich mit dem erklärten Anspruch, die in Vorbereitung auf den EU-Beitritt eingeschlagenen Wege in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung im bestimmten Maße verlassen zu dürfen. Plakativ wird das als Vierte Republik ausgegeben, die zum Synonym für die nun anbrechende Zeit geworden ist.

Die meisten Beobachter gehen indes davon aus, dass eine solche neue Republik bereits existiert. Sie meinen damit den Elitewechsel, der sich tatsächlich recht radikal vollzogen hat. Die Eliten, die Polens politische Landschaft bis zum Herbst 2005 entscheidend bestimmten, sind von den Machthebeln weitgehend verdrängt. Der oberste Geldwächter des Landes, Leszek Balcerowicz, über dessen berufliches Schicksal die Regierung bald befinden darf, ist nahezu der letzte Mohikaner der einst so stolzen "Solidarność"-Mannen, die 1989 auszogen, dem Land moderne Demokratie zu lehren. Sie werden heute gerne die zweite "Solidarność"-Generation genannt. Überbleibsel einstiger Herrlichkeit sind einige Abgeordnetenposten in Brüssel und in den lokalen bzw. regionalen Strukturen. Der ungeliebte Partner aus der Zeit des Runden Tisches, die als "Postkommunisten" titulierten politischen Erben der PVAP, haben im Dezember 2005 mit dem Präsidentenpalast ihre letzte Machtposition räumen müssen. Zum Schluss gab es zwischen ihnen und der zweiten "Solidarność"-Generation kaum noch Unterschiede im Denken und Handeln. Oberster gemeinsamer Bezugspunkt war die Verfassungswirklichkeit der so bezeichneten Dritten Republik, als deren wichtigsten politischen Garanten man sich gerne verstand.

Wer also das Personal in den Vordergrund der Betrachtung schiebt, könnte tatsächlich meinen, die Vierte Republik stehe in erster Blüte. Zumindest seit Präsidentenbruder Jaros³aw im Juli diesen Jahres selbst das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hat. Doch der Schein trügt. Noch ist nichts an der verfassungsmäßigen Ordnung der Vorgängerin zurückgenommen. Glaubt man des neuen Ministerpräsidenten markigen Worten, dann kann das zurückliegende Jahr durchaus als verloren gelten, verloren für die Baumeister der Vierten Republik. Das schnell zu ändern, sei der oberste Anspruch seiner Regierung. Daran wolle sie sich messen lassen. Übersetzt in verständliche Sprache bedeutet dieses Versprechen zweierlei: Drei weitere Jahre "bloßen Regierens", nach denen man sich dann brav dem Wählervotum nach heutigen Spielregeln stellen wird, werde es nicht geben. Und das jetzige Aufgebot mit dem PiS-Chef an der Spitze ist zugleich ein endgültiges. Reserven gibt es keine mehr und die Spielräume sind ein Jahr nach der Regierungsübernahme bereits viel kleiner als angenommen. Auch deshalb meinte Jaros³aw Kaczyński in einem Zeitungsinterview recht trotzig, dass er (also PiS) auch alleine bereits stehe, die verfassungsmäßige Ordnung zu ändern. Die Macht müsse so gesichert werden, dass sie in den Händen der nunmehr dritten "Solidarność"-Generation verbleibt, als die sich das PiS-Umfeld immer auffälliger auszugeben versucht. Ein zwiespältiges Angebot an die liberal-konservative PO, der augenblicklich wichtigsten Konkurrenz im politischen Geschäft.

Dort wird man sich freuen, dass Jarosław Kaczyński schneller als erwartet aus sicherer Deckung hervorkommen und Schwächen zugeben musste. Das Konzept des starken Mannes vom Herbst 2005 ist weitgehend gescheitert. Zuerst musste er im Frühjahr den unberechenbaren Partnern im Machtspiel mit der PO den Eintritt in die Regierung gewähren, sodann folgte er nur wenige Wochen später den Parteivorsitzenden von "Samoobrona" und LPR und stieg selbst in die Regierungsarbeit ein. Zwar darf er hoffen, im Zusammenhang mit den demnächst anstehenden Lokal- und Regionalwahlen gezähmte oder gebändigte Partner am Regierungstisch zu haben, doch ändert das wenig an der Grundsituation. In Vorhand sitzt mittlerweile die PO, denn von ihr wird im Falle eines Koalitionsbruchs das Schicksal des jetzigen Parlaments abhängen. Sollten Rokita und Tusk in einem solchen Fall dem Zwillingsbruder des Staatspräsidenten die Hand ausstrecken, wird dieser es schwer haben, gegen den Stimmungstrend das Parlament aufzulösen. Noch immer ist eine Koalition zwischen den beiden etwa gleichstarken konservativen Parteien die bei den Wählern mit Abstand beliebteste Regierungsoption. Laut Umfragen könnten sie zudem jeweils mit einem höheren Stimmenanteil als bei den Parlamentswahlen rechnen. Um es deutlich zu sagen: Im Augenblick wäre eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die vor Jahresfrist noch deutlich verfehlt wurde, für PiS und PO zusammengerechnet in Reichweite. An Attraktivität hat dieses Ziel bei den Führungen beider Parteien zwar nichts verloren, doch ist man abwartender geworden und riskiert augenscheinlich keine vorzeitigen Neuwahlen.

Einer der wichtigsten Ideengeber der Vierten Republik, Innenminister Dorn, meinte unlängst ganz direkt, dass es eine solche Republik noch nicht gäbe. Zugleich versuchte er sich, anders als sein Chef, an einer positiven Zwischenabrechnung. Die Vierte Republik - so der nominelle Hüter der bestehenden Ordnung - entstünde nicht durch Wahlergebnisse oder Koalitionsbildungen. Es sei ein längeres Projekt, welches sich noch ganz am Anfang befinde. Aber er fühle bereits den Wind der Veränderungen im gesellschaftlichen System. Die Geschichte sei wieder in Bewegung gekommen. Ein komplizierter Prozess freilich, denn die in den zurückliegenden 16 Jahren erfolgte Desintegration des Gemeinwesens müsse zurückgenommen werden. Ein Prozess, den eine politische Formation alleine nicht verantworten könne, auch wenn PiS aus der Konstellation des Herbstes 2005 heraus zunächst einmal mutig und entschlossen die Initiative ergreifen musste. Im Ergebnis gibt es heute eine zunehmende und nachhaltige Bindung bei jenen sich traditionell empfindenden Wählerschichten, die noch vor kurzer Zeit im Zusammenhang mit dem EU-euphorischen Hochmut einer einflussreichen Minderheit aus den Großstädten ins Abseits gestoßen zu werden drohten. Die in den zurückliegenden 16 Jahren vielfach als hinterwäldlerisch gedemütigte Provinz habe wieder politische Stimme und Profil bekommen. Jetzt sei es an der PO, einen vergleichbaren Integrationsakt mit konservativen Vorzeichen bei den sich eher liberal verstehenden Wählerschichten hinzubekommen. Sich nur auf die bequeme Oppositionsrolle zu besinnen, sei da allerdings zu wenig. Er hätte auch sagen können: Die Herausbildung zweier großer, volksparteiähnlicher politischer Blöcke unter jeweiliger Federführung von PiS und PO sei kein parlamentarisches Kinderspiel, sondern ein schöpferischer Prozess, der die Änderung des bestehenden gesellschaftlich-politischen Systems mit einrechnen müsse. Erst dann könne aus der Wunschvorstellung der Vierten Republik so etwas wie vollendete Wirklichkeit werden. PiS alleine - auch mit einem Ministerpräsidenten Jarosław Kaczyński - werde es nicht richten.

Die PO-Führung steht vor einer im Grunde einfachen Wahl. Entweder wird man sich nach über einem Jahr Bedenkzeit auf die Oppositionsrolle besinnen und Kraft der vorhandenen parlamentarischen Stärke und der probaten parlamentarischen Mittel Rechenschaft über die Vorhaben des gesellschaftlichen Umbaus bei den Bauherren der Vierten Republik einfordern, oder aber man wird sich zum gleichberechtigten Teil der durch die PiS-Strategen in den politischen Himmel gezeichneten dritten "Solidarność"-Generation aufschwingen wollen. Die blinde Antikommunismuskeule wäre der Steigbügelhalter in der zweiten Variante, die Anerkennung der Tatsache, dass eine Mehrheit der Polen noch dem Bau der Vierten Republik skeptisch oder ablehnend gegenübersteht, die Voraussetzung für die erste. Wie weit der Entscheidungsprozess bei der PO-Führung aber bereits gediehen ist, verdeutlicht einmal mehr Rokita, der beim Präsidentenbruder in Sachen Antikommunismus Schwächen auszumachen glaubt. Die Zusammensetzung des Sejms erlaube da jedenfalls mehr, als sich die Regierung augenblicklich zutraue. Wenn die Abrechnung mit dem Kommunismus jetzt vergeigt werde, gehe es allein auf das PiS-Konto. Der Ministerpräsident kontert in einem Nebensatz: Die "Seuche des Kommunismus" beweise doch, wie dringend der Aufbau einer neuen Republik geraten sei.

Der parlamentarischen Linken darf beschieden werden, dass sie dem herrschenden Spiel der Großen brav eigene Akzente aufzudrücken versucht. Ganz ohne alle Not erklärte die aktuelle SLD-Führung kurz vor der Sommerpause die Gruppierung zu einer antikommunistischen Kraft. Die nachgeschobene Begründung, richtige Sozialdemokraten müssten zugleich antikommunistisch sein, könnte bei freundlicher Betrachtung Hinweis auf ein taktisches Spiel geben. Die geplante Öffnung weit in die politische Mitte hinein (und unter Umständen sogar darüber hinaus) solle am Antikommunismus nicht scheitern. Nüchtern gesehen ist es jedoch eher ein Indiz für die markanten Schwächen, mit denen sich die Partei seit mehreren Jahren herumplagt. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet gibt es kaum alternative Ansätze gegenüber dem herrschenden neoliberalen Zeitgeist, bürgerlich-demokratische Freiheiten werden so verstanden, dass sie die Empfindlichkeiten des Klerus nicht berühren, und auf sozialem Gebiet weiß man kein besseres Argument, als jenes, wonach die Versprechungen der jetzt Herrschenden sich an rauer Wirklichkeit blamieren werden. Die drohende Vierte Republik wird fast schon entwarnend als Hirngespinst von Ideologen charakterisiert, die sich in der Geschichte mit ihren Vorstellungen sowieso noch ein jedes Mal blamiert hätten.