Offener Brief an den Minister für Kultur und Nationales Erbe

Sehr geehrter Herr Minister Ujazdowski,

ich bedanke mich herzlich für die Einladung zur Konferenz "Geschichte entdecken - Freiheit verstehen", die am 11. Mai 2006 im Königlichen Schloss in Warschau stattfindet. (...) Obwohl ich kein Anhänger der Geschichtspolitik der Schöpfer der "4. Republik" bin, habe ich mich in der Hoffnung auf einen Meinungsaustausch auf die Konferenz gefreut.

Leider kann ich Ihre Einladung nicht annehmen, nachdem ich in der neuesten Nummer des Wochenmagazins "Focus" die Äußerung des Herrn Vizepremiers Andrzej Lepper gelesen habe, wonach Hitler "die deutsche Wirtschaft auf die Beine" gebracht habe. Zwar hören wir diese These von Herrn Lepper nicht zum ersten Mal, aber früher repräsentierte er nicht die Regierung der Republik Polen. (...) Herr Minister Ujazdowski,

ich bin mir darüber im Klaren, dass sowohl Ihre Ansichten als auch die des Herrn Premierministers von solchen Unsäglichkeiten, wie sie einer der heutigen Vizepremiers vertritt, weit entfernt sind. Nichtsdestoweniger legitimieren Sie beide diese dadurch, dass sie gemeinsam in einer Regierung sind. Das ist schlimmer als der Rückfall in den Sozialismus, von dem Donald Tusk unlängst im Zusammenhang mit der Partei "Samoobrona" sprach. Denn hier handelt es sich eher um einen Rückfall in den Nationalsozialismus.

Ich befasse mich unter anderem mit der Rolle von Intellektuellen in diktatorischen Systemen. Und immer wieder stelle ich fest, dass der Widerstand meistens allzu spät begonnen hat. Zwar mache ich mir heute um Polen keine Sorgen, aber ich muss ehrlich sagen: ich hätte nie erwartet, dass ich mir von einem polnischen Vizepremier jemals neonazistische Propaganda anhören muss. (...) Einem Historiker im demokratischen Polen bleibt angesichts dessen nichts anderes übrig, als die Einladung für die von der Regierung organisierte Veranstaltung nicht anzunehmen.

Wenn das "Entdecken der Geschichte und das Verständnis der Freiheit" so aussehen soll, dann will ich mit dieser Interpretation nichts zu tun haben. (...)

Hochachtungsvoll: Jan M. Piskorski

(Prof. Dr. hab., Historiker an der Universität Stettin, stellvertretender Ko-Vorsitzender der deutsch-polnischen Schulbuchkommission der UNESCO u.a.)