Ein dunkler
Schatten
Von Friedrich Leidinger
Der Vorstand der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD e.V. hat am 2.
September 2006 eingehend den Appell der Kopernikus-Gruppe diskutiert. Der
folgende Kommentar erklärt, warum wir den Appell nicht unterschreiben, auch
wenn wir die Sorge der Initiatoren teilen.
Beunruhigt über "den
unbegründeten Ausbruch von Emotionen" ist die Kopernikus-Gruppe - ein
Diskussionsforum von Experten zu den deutsch-polnischen Beziehungen -, denn
"ein dunkler Schatten" habe sich über die "deutsch-polnische
Interessengemeinschaft in Europa" gelegt. Die Gruppe appelliert an
"die Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beider
Länder (…), schnellstens den Dialog in Sachfragen zu intensivieren".
Dialog in jeder Form und auf
allen Ebenen ist in der Tat das Gebot der Stunde, insofern kann man den
Initiatoren des Aufrufs nur beipflichten. Gleichwohl sehen wir uns nicht in der
Lage, dem Appell beizutreten. Denn die Begründung der Kopernikus-Gruppe ist
bemerkenswert dünn und in vielfacher Hinsicht unzulänglich.
Schon die Liste der als
Protagonisten des Verständigungsprozesses angeführten Personen mit Papst
Johannes Paul II an der Spitze lässt erkennen, dass den Autoren offenbar
weniger daran gelegen war, an dem historischen Prozess der Verständigung
zwischen Polen und Deutschland anzuknüpfen, einem Prozess, der von deutscher
Seite bis 1990 von zwei verschiedenen Staaten gestaltet worden ist. Vielmehr
scheint diese Liste eher unter dem Aspekt zusammengestellt worden zu sein, die
gegenwärtig in Warschau regierenden und in Berlin agierenden Gemüter zu
beeindrucken. So sucht man vergeblich zum Beispiel die Gräfin Dönhoff in der
illustren Reihe derer, die "die persönliche Erfahrung aus Krieg und
Terrorpolitik zur Gewissenspflicht gemacht" haben, und wundert sich, statt
ihrer ausgerechnet jenen Bundeskanzler dort zu finden, der durch sein Wort von
der "Gnade der späten Geburt" in die Geschichte eingegangen ist. Es
entsteht der Eindruck einer verzerrten und einseitigen Betrachtung, die als
Grundlage für eine tragfähige Analyse kaum ausreicht.
Zustimmen kann man der
Einschätzung der Kopernikus-Gruppe, dass das Netzwerk von Beziehungen zwischen
den Menschen, den Kommunen, Regionen und Institutionen aus den verschiedensten
gesellschaftlichen Bereichen inzwischen umfangreicher und dichter geworden ist,
als viele Medienberichte und politische Erklärungen der letzten Wochen erkennen
ließen. Doch das Bemerkenswerte an den neuerlichen Konflikten ist, dass sie
trotz aller Fortschritte in den Beziehungen mit unverminderter Heftigkeit und
in Gestalt von vielfach längst verdrängten Argumenten wieder auftreten. Ein
Auftritt des Bundespräsidenten vor dem Vertriebenenverband zum "Tag der
Heimat" - deutsche Normalität. Ein Regierungserlass zur Beflaggung der
KZ-Gedenkstätten aus gleichem Anlass - angeblich ein Versehen. Der Vortrag über
die Leiden der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen des für Gedenkkultur
zuständigen Regierungsbeamten vor Überlebenden des KZ Buchenwald in Weimar -
ein Missverständnis.
Die Konflikte sind nicht neu.
Zwar war das Wetter heiß in diesem Sommer deutsch-polnischen Missvergnügens.
Doch der Schatten, der da sichtbar wurde, war keineswegs der einer
Gewitterwolke, welche sich bekanntlich nach einem heftigen Regensturm auflöst.
Es war vielmehr der Schatten der Vergangenheit, der Schatten jener unerledigten
Konflikte, die seit Jahren unter dem Teppich gelegen haben, über den früher in
Bonn und nun in Berlin und Warschau die Emissäre der "Versöhnungspolitik"
beider Seiten schreiten. Die Klage der Kopernikus-Gruppe - darunter einige der
prominentesten Historiker beider Länder - die heutige Generation würde
"wieder auf historische Konfrontationen zurückgelenkt", ist in diesem
Zusammenhang bemerkenswert.
Es ist ja richtig, dass ein
"Verharren bei dem Leiden der eigenen Nation" einen Dialog, dessen
Voraussetzung nur Offenheit für sich und den Anderen sein kann, verhindert.
Aber ist die Ursache der jetzigen deutsch-polnischen Krise, denn um eine solche
handelt es sich zweifellos, wirklich nur in einer übersteigerten Empfindlichkeit
beim Umgang mit traumatisierenden historischen
Ereignissen zu sehen? Ist angesichts des Rückfalls in nationalistische
Deutungsmuster der jeweils eigenen Geschichte die Entwicklung der Beziehungen
in den letzten Jahren wirklich so erfolgreich gewesen, dass sie anderen als
Modell dienen kann, wie uns die Autoren des Appells glauben machen wollen? Ist
überhaupt eine "deutsch-polnische Interessengemeinschaft", wie die
mehrfach wiederholte Prämisse des Appells lautet, in der Realität der
europäischen Politik wieder zu finden?
Eine nüchterne Betrachtung zeigt,
dass auf den entscheidenden Feldern der europäischen und der globalen Außen-
und Sicherheitspolitik - und der Appell nennt zutreffend einige dieser Felder -
Warschauer und Berliner Interessen trotz gemeinsamer NATO- und
EU-Mitgliedschaft diametral zu einander stehen. Es ist z.B. die Politik
gegenüber Russland und den GUS-Ländern, wo Deutschland keine Rücksicht auf die
besonderen polnischen Probleme und Bedürfnisse nimmt, oder das Bündnis zu den
USA, wo sich die polnische Beteiligung am Irak-Krieg weder in politischer noch
in wirtschaftlicher Münze ausgezahlt hat. Und im bilateralen Verhältnis hat die
Nachgiebigkeit der polnischen Seite gegenüber der Volksgruppenpolitik der
Deutschen, die Willfährigkeit, mit der die Vertreter des Bundes der Vertriebenen
in Warschau in den 90er Jahren empfangen wurden, obwohl sie an ihren die
Substanz des polnischen Staates angreifenden Positionen kein Jota verändert
hatten, wesentlich zum Entstehen der jetzigen Malaise beigetragen.
Der Kern des Konflikts aber ist
die Tatsache, dass die deutsche Politik wissentlich und unwissentlich in allen
wesentlichen politischen und Rechtsakten die als
"Deutschland-Doktrin" verfassungsgerichtlich kodifizierte Chimäre vom
Fortbestand eines Deutschen Reiches fortleben lässt, eines Reiches, das nur
entstehen konnte, weil Polen als Staat von der europäischen Landkarte
verschwunden war, das nach der hartnäckig aufrechterhaltenen Staatsrechtslehre
trotz der bedingungslosen Kapitulation des 8. Mai 1945 und der vollständigen
Übernahme aller staatlichen Gewalt durch die Sieger der Anti-Hitler-Koalition
nicht untergegangen ist, das als schwärender Eiterherd im Zentrum Europas immer
wieder sein verderbliches Gift ausstreut. Zuletzt ergab sich in den Verhandlungen
des Vertrags über die "Abschließende
Regelung mit Bezug auf
Deutschland" ("Vier-plus-zwei-Vertrag")
vom 12. September 1990 eine Gelegenheit, das Territorium Deutschlands und damit
auch die deutsch-polnische Grenze endgültig und völkerrechtlich verbindlich
festzulegen. Allein die Bereitschaft Polens, diese Frage in einem separat
auszuhandelnden bilateralen Vertrag zu regeln, erlaubte der bundesdeutschen
Diplomatie, die Grenzfrage entgegen den Absichten der Siegermächte offen zu
halten. Es kam zum bemerkenswerten Vertrag vom 17. Juni 1991, in dem wegen der
unvereinbaren Positionen einvernehmlich die Regelung von Eigentums- und
Staatsangehörigkeitsfragen ausgeklammert wurde, genau die Fragen, die jetzt den
Brennstoff für den Streit um Eigentumsrestitutionen, Erinnerungspolitik und
vieles mehr liefern.
Zwar hat Angela Merkel unlängst
die Erklärung ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder vom 1. August 2004
anlässlich des Jahrstags des Warschauer Aufstands bekräftigt, dass ihre
Regierung die Klagen ehemaliger deutscher Grundeigentümer auf Restitution nicht
unterstützen werde. Dies ist so selbstverständlich wie erfreulich. Doch ändert
diese Erklärung nichts an der Grundlage der deutschen Polenpolitik, die sich um
ein eindeutiges Bekenntnis zu den politischen und völkerrechtlichen Realitäten
in Europa drückt. Eine solche verbindliche Erklärung kann in einer Demokratie
nicht die Regierung abgeben, sondern einzig der dafür von der Verfassung
vorgesehene Souverän - der Bundestag.
Die Deutsch-Polnische Gesellschaft
hat in der Vergangenheit mehrfach die Fraktionen des Deutschen Bundestags in
diesem Sinne angeschrieben, leider ohne die erhoffte Resonanz. Wir werden
diesen Appell wiederholen, und wir werden die Mitglieder der Kopernikusgruppe
einladen, sich diesem Appell anzuschließen.
Der Appell der Kopernikus-Gruppe
ruft leider nur dazu auf, zu dem zurück zu kehren, was das deutsch-polnische
Verständigungsprojekt in seine heutige, prekäre Lage gebracht hat. Eine
‚Verständigung durch Ausklammerung', wie sie das Handeln der Regierungen in den
letzten Jahren bestimmt hat, und der Beifall vieler engagierter Menschen, die
sich von der Idee einer Versöhnung ohne Wahrheitssuche leiten ließen, bieten
keine Lösung für die Konflikte zwischen Deutschland und Polen. Der Aufruf zum
Dialog ist richtig. Doch die Basis des Dialogs muss die vorbehaltlose und
völkerrechtlich verbindliche Integrität des polnischen Staatsgebiets sein.
Nachwort:
Nikolaus Kopernikus ist ein würdiger Namensgeber einer deutsch-polnischen Expertenrunde. Den Mitgliedern der Gruppe ist zu wünschen, dass sie in ihrer weiteren Arbeit noch bis zur tieferen Bedeutung dieses Patronats vordringen. Denn abgesehen von dem relativ belanglosen Umstand, dass Kopernikus als ethnischer Deutscher ein loyaler Untertan des polnischen Königs war, verbindet sich mit seinem Namen ein epochaler Einschnitt im europäischen Denken. Die "kopernikanische Wende" markiert den Übergang von einer auf Wunschdenken, Vorurteilen und Spekulation beruhenden Wissenschaft zum Rationalismus, Empirismus und kritischen Diskurs. Eine solche Wende täte auch den deutsch-polnischen Beziehungen gut.