Dokumentation

 

"Ich war in der SS"

 

Ähnlich wie bei uns in Deutschland schlug das Eingeständnis von Günther Grass, als 17-jähriger gegen Kriegsende in die SS eingezogen worden zu sein, auch in Polen hohe Wellen. Selbst gute Bekannte von Grass in Polen waren irritiert. Waren die ersten Reaktionen noch weitgehend unabhängig von politischen Lagern, so entwickelte sich in der Folge schnell eine Frontstellung. Die nationalistisch orientierten Kreise um die PiS und LPR verurteilten Grass weiterhin, was u.a. in der Forderung gipfelte, er solle die Ehrenbürgerschaft von Gdańsk zurückgeben. Wenn er das nicht tue, würde man den Stadtrat auffordern, sie ihm wieder abzuerkennen. Der von der PO geführte Stadtrat folgte diesem Bestreben aber nicht. Andere wiederum, wie Lech Wa³êsa, waren anfangs ebenfalls sehr empört, zeigten sich dann aber versöhnlich, nachdem Grass sein spätes Eingeständnis in einem Brief an den Bürgermeister von Gdańsk, Paweł Adamowicz, erklärte. Auffällig bei der Debatte in Polen ist, dass in den Stellungnahmen rechter Kommentatoren verschwiegen wird, dass Grass in der Vergangenheit aus seiner Unterstützung und teilweise Begeisterung für das Nazi-Regime als Heranwachsender keinen Hehl gemacht hatte.

Laut FAZ vom 1.9.2006 war das Ergebnis einer Umfrage, die Adamowicz in Polen zum Bekenntnis von Günther Grass machen ließ, eindeutig: Landesweit hielten es nur 25 Prozent tatsächlich für angemessen, Grass die Ehrenbürgerwürde zu entziehen. 58 Prozent aber waren dagegen und in Danzig sogar 72 Prozent. Wir dokumentieren im Folgenden zwei Stimmen aus Polen.

 

 

Schuldbekenntnis von Grass Zeichen des Mutes?

Von Grzegorz Sadowski

(...) Die deutschen Intellektuellen sind noch weiter gesunken. Das Schuldbekenntnis von Grass haben sie als großen Mut anerkannt, der ihn zum Künstler macht, der vor den größten Herausforderungen nicht zurückschreckt. Die Frage, warum Günter Grass so lange sein Geheimnis verbarg und es wirksam verschwieg, sei fehl am Platze. (...) Vor uns befinde sich ein mutiger Schriftsteller, der voll und ganz berechtigt sei zu interpretieren, zu erläutern, zu belehren. Grass sei "unser" und das reiche für die Erlösung aus.

"Unser" zu sein, heißt, immer auf der richtigen Seite zu stehen. Für die richtige Politik einzutreten. Dort, wo Kapitalismus gehasst wird und über moralische und intellektuelle Wirtschaft geredet wird. Dort, wo man zur Freude des Publikums sagen darf, "uns fehlen politische Institutionen", weshalb wir in einer "Freiheit unter dem Diktat der Börsen" leben. Wenn auf der anderen Seite die Fakten nicht zur Ideologie passen, dann umso schlimmer für die Fakten. (...)

Der Grass-Standpunkt und der Beifall ihm verwandter Intellektueller zeigen, wie eng Kommunismus und Faschismus miteinander verwandt sind und dass es sich eigentlich um die gleiche, so stark mit Blut befleckte Ideologie handelt. Es ist aber gelungen, uns das Gegenteil einzureden: Faschismus ist Quelle des Bösen, Kommunismus war dem Wesen nach gut, es gab nur Abweichungen aufgrund der "kapitalistischen Umzingelung". (...)

Erst wenn man mit vollen Händen aus dem Kapitalismus schöpft, eine sichere Stellung, den Nobelpreis und eine Schar von Anhängern hat, kann man sich auf das Niveau der wahren Kritik erheben. Dieser Kritik kann so eine Kleinigkeit wie die Waffen-SS nicht schaden.

Wprost, 15. August 2006; Übersetzung: Wulf Schade, Bochum

 

Grass und das Geheimnis

Von Stefan Chwin

(…) Sein öffentliches Bekenntnis, er habe der Waffen-SS angehört, hat in Polen einen Schock ausgelöst. Das Wort "SS-Mann" bedeutet in polnischer Sprache so viel wie "reine Verkörperung des Bösen", "Teufels Sohn".

(…) Durch das Bekenntnis von Grass fühlen sich natürlich viele Polen verletzt, und das ist kaum verwunderlich. Lech Walesa hat - bevor er sich zum Verzeihen entschloß - gesagt, die Erinnerung an seinen Vater, der von den Deutschen umgebracht wurde, erlaube ihm nicht, mit einem "ehemaligen SS-Mann" befreundet zu sein. Meine Mutter, die Sanitäterin im Warschauer Aufstand 1944 war und während der Bombardierung der Stadt fast ihre ganze Familie verlor, spricht von Grass ebenfalls mit tiefer Abneigung. Auf Distanz gehen aber auch Menschen, die Grass bisher besonders wohlgesinnt waren. Der ehemalige Außenminister Bartoszewski etwa fragt immer wieder, warum Grass so lange geschwiegen habe.

Vergangenheit soll nicht verborgen werden

Es ist in Polen gang und gebe geworden, dunkle Kapitel der Lebensläufe moralischer Autoritäten ans Tageslicht zu holen. Die Menschen haben sich mittlerweile daran gewöhnt. Es überwiegt allerdings die Meinung, daß eine negative Episode im vergangenen Leben nicht den ganzen Menschen disqualifizieren sollte, wenn er sich später anständig benahm - und diese Art zu denken macht sich auch in der Grass-Affäre bemerkbar. (…)

"Verzeihung hat er aber nicht gesagt"

Trotzdem brodelt es auf den Straßen von Danzig weiter. Nach Erika Steinbachs Appell, Grass solle auf sein Honorar für "Beim Häuten der Zwiebel" zugunsten der polnischen Opfer des Nazismus verzichten, kam der polnische Bildungsvizeminister nach Danzig (...) und forderte den Schriftsteller auf, er solle seine Einnahmen für den Druck von Geschichtsbüchern für polnische Kinder stiften. (…)

Ich selbst bin der Meinung, daß man hier zu leicht vergißt, daß es sich bei Grass um einen großen Künstler und nicht um einen publizistischen Moralisten oder Politiker mit Jugendsünden auf dem Gewissen handelt. Wer den Vorwurf der Heuchelei erhebt, spricht die Stimme der Trivialität, die nicht wissen will, was Literatur ist. Ein Schriftsteller mit Flecken auf dem Lebenslauf hat durchaus das Recht, anderen ihre Lebenslaufflecken vorzuhalten. Dazu berechtigt ihn die Tatsache, daß er das Böse gut kennt, und zwar nicht nur vom Hörensagen.             

FAZ vom 25. August 2006