Oder-Warthe-Unterwelt

Fledermäuse, Subkultur und dunkle Geschichte als Spaßfaktor

 

Von Daniela Fuchs

 

Felder der polnischen Wojewodschaft Lubuskie (Lebuser Land) - gleich jenseits der Oder - werden von Panzersperren durchschnitten. Wie riesige Drachenzähne sehen sie aus. Reste des "Ostwalls", der zwischen 1934 und 1938 errichtet wurde. Hier ließ Hitler ein Ensemble von Wällen, das letztendlich unvollendet blieb, als eine imposante Befestigungsanlage, die Festungsfront Oder-Warthe Bogen bauen. Dieser Wall nur 120 km von der damaligen Reichshauptstadt Berlin entfernt, hatte die Aufgabe, vermeintliche Feinde aus dem Osten aufzuhalten. Auf der ganzen mehr als 100 km langen Ostwall-Strecke wurden 106 ober- und unterirdische Bunker zwischen den Flüssen Warthe und Oder gebaut. Davon sind 21 durch ein über 30 km langes Tunnelsystem miteinander verbunden. Die tiefste Stelle liegt 40 m unter der Erdoberfläche.

 

Hinweisschilder in der Nähe der Orte Kalawa und Pniewo eröffnen dem Besucher die Möglichkeit, sich einen Teil der unterirdischen Anlage und ein dazugehöriges Museum anzusehen. Doch die Präsentation hat nichts mit seriöser lebendiger Geschichtsdarstellung zu tun. Sie verkommt zu einem zweifelhaften Happening, der dem Spaßfaktor oberste Priorität einräumt. Martialisch aussehende junge polnische Männer in Wehrmachtsoutfit mit Eisernem Kreuz und nachempfundenen Nazi-Symbolen begrüßen die Besucher auf einem altem BMW-Motorrad und Lkw und laden zu einer kleinen gemeinsamen Rundfahrt in die Umgebung ein. Sie stehen auch gern für ein Foto zur Verfügung. Zum Gaudi einer Schulklasse wurde schon mal die Pistole gezogen und kreischenden Mädchen an den Rücken gehalten. Ein großes Standbild zeigt einen Wehrmachtssoldaten und einen Rotarmisten Arm in Arm. Soll hier auf den Hitler-Stalin-Pakt angespielt werden, der für Polen verhängnisvolle Folgen hatte? Eine Erklärung gibt es nicht. Die Gesichter der beiden Soldaten sind Löcher und dem eigenen Antlitz für ein Foto vorbehalten. Das Museum beherbergt ein Sammelsurium von Exponaten. Das sind u. a. Gewehre, Pistolen, Handgranaten, Panzerfäuste, Stahlhelme, Karten und nachgedruckte Plakate der Alliierten, aber auch der Waffen-SS und der Division Hermann Göring. Eine Kommentierung fehlt. Ein von der Gemeinde bestellter Touristenführer geleitet die Besuchergruppe bei Pniewo in das sogenannte Panzerwerk 717 drei Stockwerke hinab in den Tunnel. Panzerwerke sind artillerieschießbeständige Bunker mit mindestens einem Panzerturm. Die Eintrittskarten sind in polnisch und deutsch beschriftet und als Passierschein mit Stempel und Unterschrift des damaligen deutschen Festungskommandanten gestaltet. Mit Taschenlampen ausgerüstet versuchen die Neugierigen, Licht in das Dunkel des Tunnels zu bringen. Sie können nur erahnen, was sich hier unter der Erde in diesen schier endlosen kahlen Gängen, die einmal mit technisch ausgeklügelten Objekten der Militärtechnik gefüllt waren, ereignete und sie erfahren von einem Schmalspurbahnnetz mit Bahnhöfen und Gleisschleifen, von Dämmen, Schleusen, taktischen - und Rollbrücken. Ab Herbst 1943 wurden hier Motorteile für Flugzeuge der Firma Daimler - Benz hergestellt. Die Produktion der Firma wurde unter die Erde verlegt, denn der Luftraum über Deutschland war längst in der Hand alliierter Piloten. Rund 1500 Zwangsarbeiter aus ganz Europa schufteten hier unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Festungsfront Oder - Warthe - Bogen hat im Zweiten Weltkrieg jedoch keine größere Rolle gespielt. Ende Januar/Anfang Februar 1945 gelang es der Roten Armee innerhalb von drei Tagen die Festungsfront zu erobern. Das letzte Aufgebot des Volkssturms hatte nach und nach die Flucht ergriffen. Ein Gedenkstein aus Mauerresten eines Bunkers, noch zu Zeiten Volkspolens aufgestellt, erinnert an die 44. Panzerbrigade der Roten Armee unter Führung von Oberst Gussakowski, der am 30. Januar 1945 der Durchbruch gelang.

Nach dem Krieg nahm zunächst die Rote Armee die Anlage in Besitz. Das Inventar wurde demontiert, die Panzerwerke als Übungsplätze genutzt und panzer- und betonbrechende Munition erprobt. Nachnutzer wurde dann die Polnische Armee. Pläne, hier Atombunker einzurichten wurden letztlich verworfen. 1957 verließen die letzten Militärs die Anlage. Die Unterwelt übte in den folgenden Jahren immer wieder auf vermeintliche Schatzsucher und Hobbyforscher eine magische Anziehungskraft aus. In den achtziger Jahren bildete sich eine Jugendsubkultur heraus, die sich Bunkrowcy nannte. Bevor die Gemeinde erkannte, dass die Objekte für touristische Zwecke nutzbar zu machen sind, hatten diese Jugendlichen von ihnen Besitz ergriffen. Im Verborgenen suchten sie neue Erfahrungen, die den Adrenalinspiegel  in die Höhe schnellen ließen. Getrieben von Abenteuerlust und Aussteigermentalität soll es dabei Verletzte und sogar Tote gegeben haben.

Die touristische Führung ist nach 2 Stunden zu Ende. Als die Besucher beim Panzerwerk 716 wieder das Tageslicht erblickten, erfahren sie, dass das unterirdische Mikroklima mit konstanten Temperaturen von 8 - 10 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit sowie absoluter Ruhe und Dunkelheit bewirkt, dass sich im Tunnellabyrinth eine der größten Fledermauskolonien Europas eingenistet hat und dort jährlich 30 000 Exemplare verschiedener Arten überwintern. Das war zweifellos eine wirklich sympathische Nachricht.