Aus der
Fäulnis an Leben gewinnen
Die regional
verwurzelte Literatur von Olga Tokarczuk ist
angekommen im Zeitalter der Globalisierung
Von Christiane Thoms
Das Wappenzeichen der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk sind Pilze, jene Organismen, die weder zu den
Pflanzen noch zu den Tieren gehören und aus dem Verfall und der Fäulnis ihr
Leben gewinnen. Scheinbar beeindruckt von jener Kraft, mit der Leben und Tod
als zwei nicht miteinander kämpfende Wirklichkeiten ein Kontinuum begründen,
bietet uns Tokarczuk mit ihrem neuen Roman
"Letzte Geschichten" einen Todesartenroman, der vom Sterben handelt
und vom Leben erzählt.
Olga Tokarczuk,
Jahrgang 1962, gilt als Chronistin des polnisch-tschechischen Grenzlandes und
als die populärste polnische Romanautorin der jüngeren Generation. Bisher
erschienen außer in deutscher und französischer Sprache auch dänische,
holländische, tschechische, spanische und italienische Ausgaben ihrer Bücher.
Ihre bisher regional tief verwurzelte Literatur ist mit diesem wie ein Triptychon gebauten Frauen- und Generationenroman im
Zeitalter der Globalisierung angekommen und führt uns am Ende zu einer fernen,
heißen Südseeinsel.
Der dreiteilige Roman erzählt vom
Sterben und vom Tod und davon, wie die Lebenden damit umgehen. Dem Bedürfnis
der Menschen nach Transzendenz jenseits des Physischen spürt Tokarczuk in diesem Roman nach. Und genau diese Ahnung von
Transzendenz liegt in jenem irdischen Pragmatismus. So kommt es auch vor, dass
nüchterne und unsentimentale Gedanken zum Tod als unmittelbarer Rückblick der
alten Witwe Paraskewia einen liebenswerten
Pragmatismus zeichnen:
"Pedro ist am Sonntagabend gestorben.
Gut, dass es abends war, wenn er am Morgen gestorben wäre, hätte ich den ganzen
Sonntag allein sitzen müssen. So war es besser, am Abend, besser für ihn und
für mich. Er war gestorben, und ich ging schlafen, denn ich wusste, dass sich
nichts mehr machen ließ, weder konnte ich ihn wiederbeleben, noch konnte ich
selbst sterben. Der Schlaf jedoch vermag sanfte Grenzen zwischen den
Ereignissen zu ziehen. Nichts kann wirklich anfangen oder aufhören, solange
nicht der Schlaf den Punkt hinter den Tag setzt. (...) Er sah aus, als sei er
wütend, als habe sein eigener Tod ihn wütend gemacht. (...) Ich zog mich aus
wie immer und legte mich neben ihn. Wir lagen nebeneinander auf dem Rücken.
'Ich kann nicht einschlafen', sagte ich. Er gab keine Antwort. Daran war nichts
Besonderes, manchmal sagte er tagelang kein Wort."
Die Autorin zelebriert die
Nüchternheit des Verfalls mit der poetischen Schönheit der Sprache und lässt
den Menschen am Tier sehen, wie das Sterben funktioniert. Ida, eine Frau Mitte
fünfzig, landet durch einen Verkehrsunfall bei einem alten Ehepaar, das sie
aufnimmt. Diese Herberge enthüllt sich im Lauf der Erzählung als Ort des
Sterbens. Die alten Leute haben in einer Scheune ein Hospiz für todgeweihte
Tiere untergebracht. Die Protagonistin beobachtet das elendig lange Sterben
einer Hündin und resümiert: "Menschen sind ungeduldig, (...) Selbst wenn
sie sich mit dem Tod abfinden, das Sterben an sich gefällt ihnen nicht."
Tokarczuk
beschönigt nichts und zelebriert den Verfall, die Vergänglichkeit.
"Ida nimmt sie (die Hündin)
wieder auf den Arm und trägt sie in den wärmeren Flur und schließlich in die
Küche, dort legt sie sie auf das Lager, das scharf, süßlich und faulig riecht.
(...) Die Hündin blutet, (...) der Körper tut nicht mehr so, als sei er ein
perfekter geschlossener Mechanismus, eine genaue tickende Uhr. Er ist ein
löchriger Beutel, ein Klumpen Materie, verheddert in Labyrinthe von Gedärm, in
Knäuel roter Fäden, (...) Ida streichelt seinen Kopf, der Hund hebt den Blick
zu ihr, schaut ihr eine Zeitlang in die Augen, und sie meint, in seinem Blick
zu lesen: 'Da siehst du, da siehst du, wie es wirklich ist.'"
Auch die Anfangsszene einer
bedächtigen Kuhherde, die majestätisch an ihrem Gleichmut arbeitet, wirkt nicht
kitschig. Im Gegenteil: Esther Kinsky ist eine dem
Charakter der Geschichte entsprechende sachliche und nüchterne Übersetzung
gelungen, aus der der Originalton zu hören ist.
Etliche Motive des Todes und des
Zerfalls durchziehen die Erzählung: Der Tod der Gefühle, eine gestorbene Liebe,
der Tod des Blickes der Gruppenreisenden, die die Reiseführerin Ida durch
Europas Städte karrt.
Was suchen jene Millionen Reisende? "Ich glaube, das Reisen ist eine Suche",
so Tokarczuk in einem Interview. "Sie suchen
hoffnungslos nach etwas, was das Leben transzendiert."
Die Protagonistin des letzten Teils aus dem Buch "Letzte Geschichten"
zieht als Autorin von Reiseführern rastlos um die Welt. Dass diese Fülle die
Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung von Details und Einzelheiten eher lähmt,
korrespondiert mit dem Sprachstil von Tokarczuk, der
hier weitgehend auf Beschreibungen verzichtet.
Bisher fanden der Leser und die
Leserin in den überschaubaren literarischen Welten von Olga Tokarczuk
eine enorme Intensität, die die Ferne nicht suchte, sondern in den polnischen
Grenzregionen lebte. Doch genau diese in
den Grenzregionen so verwurzelte Literatur macht nun Bekanntschaft mit dem
Zeitalter der Globalisierung.
Maja, die Tochter von Ida,
schreibt Reiseführer für Yuppies und testet eine ferne Urlaubsinsel im
südchinesischen Meer. Fasziniert von der heißen Exotik und gleichzeitig mit der
wehmütigen Erinnerung an den Winter zu Hause, bemerkt sie die Logik der
Reisegruppen.
"Alle setzten sich an
Tische, die weit voneinander entfernt waren, keiner hatte Lust, Bekanntschaft
zu schließen. Ganz und gar durchleuchtet zu werden. (...) Was konnte es
Schlimmeres geben als dieses seßhafte träge Volk,
Leute, die sich ab und zu auf eine Ersatzreise aus dem Haus begeben, immer
touristisch, wobei sie ihr Haus mitschleppen, das mit ihrem Hirn und Körper
verwachsen ist, mit ihrem Gepäck verfilzt. (...) Solche Leute sind kaum je
zufällige Wanderer, die sich auf Geraden zwischen zwei Punkten bewegen. Sie
kleben an der Erde, jeder Aufenthalt ist die Inbesitznahme eines Fleckens Erde,
und sei es auch nur für kurze Zeit, sie beherrschen es, auch wenn diese
Herrschaft nur im Einräumen ihrer Kleidung in den Hotelschrank besteht
(...)."
Die drei kunstvoll verwobenen
Geschichten über die drei Frauen zeigen die inneren verschlüsselten Beziehungen
dreier Generationen und diese zeichnen das Porträt einer Gesellschaft. Die
Lebenswege von Ida, ihrer Mutter Paraskewia und Maja,
die nach Asien reisende Enkelin treffen sich nur punktuell, aber die Suche nach
sich selbst bewegt jede.
Die Welt der Romane von Olga Tokarczuk bildet eine Einheit zwischen der Ordnung des
Makro- und des Mikrokosmos, vereint lokale und kosmische Topographie, die
Wirklichkeit des Traums und des Wachens, Fakten und Phantasiegebilde,
Bewusstseinsformen und Archetypen des Unbewussten. Tokarczuks
Werk wird deshalb gelegentlich auch als polnischer magischer Realismus
bezeichnet. Gleichzeitig geben die Geschichten, dank ihrer Vielschichtigkeit
und der Vielzahl an Handlungsfäden, Anlass zu den unterschiedlichsten
Interpretationen.
Großstädte stellen für Tokarczuk das Primat der
Provinz in Frage
Auch in dem ebenfalls in diesem
Jahr erschienenen Erzählungsband "Spiel auf vielen Trommeln" versucht
die Protagonistin in der Titelgeschichte das flüchtige ‘Jetzt’ festzuhalten,
das wie ein nicht vergehender Trommelschlag wahrgenommen wird und die Ewigkeit
als Puls fühlen lässt. In einem kurzen Augenblick wurde der Ich-Erzählerin
klar, dass das 'Jetzt' nämlich 'nie wieder' heißt. 'Jetzt' heißt, dass das, was
ist, in genau demselben Moment aufhört zu existieren, zerbröckelt wie eine
morsche Treppenstufe".
Unter den eher blassen Texten
fällt die nicht pittoresk wirkende Titelgeschichte ins Auge. Die Protagonistin
mit Großstadterfahrung erzählt fasziniert vom Rausch
des Trommelns, das die Vergänglichkeit auszutricksen versucht.
"Allmählich lernte ich diese
Leute kennen, indem ich sie durchs Fenster beobachtete. Jede Stunde stand ich
von meinen Papieren auf, um die Glieder zu strecken. Ich trat ans Fenster und
schaute. Ich lernte sie kennen, während ich frische Radieschen kaute, dann
Erdbeeren und die ersten Mirabellen. Ich lernte sie mit Pflaumen kennen, mit
Äpfeln und schließlich mit Maiskolben, in Salzwasser gekocht und mit Butter
bestrichen."
Tokarczuk
selbst war als Stipendiatin ein Jahr in Berlin, kostete den Blick auf das
Treiben und die Bewohner einer ständig trommelnden Wagenburg und kam zu dem
Schluss, dass die deutsche Hauptstadt als Verlockung eine ebenso große Gefahr
des Identitätsverlustes birgt.
"Unterwegs betrachtete ich
die anderen Fahrgäste. Verwundert stellte ich fest, daß
keiner von ihnen homogen war, eine Ganzheit bildete. Sie hatten alle ein besonderes
Merkmal (wahrscheinlich damit ihre Mütter sie nie mit einem anderen
verwechselten), und das war alles - der Rest war verschwommen und vage. Der Schwarze-Haut-Mann. Der Schöne-Wimpern-Junge,
die Breites-Gesicht-Frau, der Wässrige-Augen-Greis.
Sind die Menschen mehr als eine Reihe von Eigenschaften? Ein Ort, durch den die
Zeit in verschiedenen leuchtenden Farben fließt? (...) Das Verschwimmen betraf
nämlich nicht nur Gesichter, nicht nur einzelne Menschen, sondern auch die
Geschlechter. Ich sah Männerballerinen, Männervampire, Männeroperndivas. Sie
hingen an den Wänden, hier und da verdeckten ihre Bilder ganze Baustellen.
(...) Vielleicht waren es Ballerinas, die weibliche Männer und männliche Frauen
darstellten. (...) die Stadt war ihrem tiefsten Wesen nach androgyn, mit
Leichtigkeit verwischte sie die vulgäre Unterscheidung in zwei paradiesisch
unschuldige Geschlechter, eine Unterscheidung, die nur noch von Emporkömmlingen
am Rande der Welt gehätschelt wird."
Tokarczuk
wurde in einem Interview gefragt, ob sie wirklich alle Grenzen ignorieren kann
und beispielsweise gleichzeitig Frau und Mann, Kind und Erwachsene, Polin und
Deutsche sein kann. Wäre eine solche Verschmelzung mit der Welt nicht eine Utopie?
"Das ist eines der wichtigsten Dinge in der menschlichen Entwicklung",
so Tokarczuk. "Der Mensch ist in ewiger
Bewegung. Die Psyche bewegt sich ständig wie eine Amöbe, die die Wirklichkeit
testet und überall dort eindringt, wo sie noch nicht gewesen ist. In diesem
Sinne verstehe ich jegliches Überschreiten von Grenzen."
Das literarische Verfahren von
Olga Tokarczuk ist die Transparenz des Realen, auf
deren Grundlage bizarre Einzelheiten wie hinter einer Frischhaltefolie
interpretiert werden. Dennoch bleibt Tokarczuk eine
anarchische Erzählerin, die Ereignisse, Orte und Handelnde vom Mief und vom
Rhythmus der Gewohnheit zu befreien versucht. Als Geschichtenerzählerin schöpft
sie dabei aus einem Repertoire von Fakten, Mythen, Träumen, Alltagsgeschichten
und genauen Beobachtungen und verkettet diese zu deutungsschweren Parabeln,
denn "weil meine Generation keine Geschichte hat, versuche ich, sie selbst
zu erschaffen", so Tokarczuk.
Großstädte scheinen für Tokarczuk das Primat der Provinz in Frage zu stellen. Die Autorin plädierte einst in Zusammenhang mit dem EU-Beitritt für ein "Europa der Provinzen".
Olga Tokarczuk: "Letzte Geschichten". Roman. Aus dem
Polnischen von Esther Kinsky. DVA, München 2006,
ISBN: 3-421-05902-0, 22,90 €
Olga Tokarczuk: "Spiel auf vielen Trommeln".
Erzählungen. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Matthes & Seitz, Berlin 2006. ISBN: 3-88221-107-5, 14,80 €