Walking with a Zombie

Polens Politik diskutiert die Beziehungen zu Deutschland nach 16 Jahren guter Nachbarschaft

und freundschaftlicher Zusammenarbeit

 

Von Friedrich Leidinger

 

„Polens Weg nach Europa führt über Deutschland.“ Jahrelang konnte man diese schräge geographische Metapher aus dem Munde fast aller polnischer Politiker hören, die nach der Wende über Konzepte für eine neue polnische Außenpolitik nachdachten. Den Weg in eine Zukunft marktwirtschaftlichen Wohlstands konnten sich die damals handelnden Politiker Polens nur an der Seite Deutschlands vorstellen, eines Deutschlands, das nach der Vereinigung von BRD und DDR Polen auch klimatisch und emotional näher gerückt und mit dem Christdemokraten Kohl einen pragmatischen, berechenbaren und europäisch orientierten Regierungschef zu haben schien.

 

Erinnern wir uns: Im Sommer 1990 während der „4+2-Verhandlungen“ über eine „abschließende Regelung“ mit Bezug auf Deutschland signalisierte Polen gegenüber Frankreich, das - im Unterschied zu Polen - am Tisch der Siegermächte saß, man wolle sich in bilateralen Verhandlungen mit Deutschland einigen. Es ging um die von allen deutschen Bundesregierungen seit Konrad Adenauer vertretene Doktrin, nach der die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens keine neue völkerrechtliche Lage in Bezug auf die territoriale Ausdehnung des Deutschen Reiches geschaffen hätten und die polnischen West- und Nordgebiete völkerrechtlich weiterhin zu Deutschland gehörten, die, solange die Truppen der Siegermächte in Deutschland stationiert waren, keine größere praktische Relevanz hatte, die aber nun, da sich diese Truppen anschickten, Deutschland zu verlassen, ihre Wirksamkeit entwickeln könnte.

Die weiteren Tatsachen sind bekannt: Am 14.11.1990 unterzeichneten Polen und das inzwischen vereinigte Deutschland den Grenzvertrag, am 17. Juni 1991 den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zusammen mit dem Briefwechsel der Minister Genscher und Skubiszewski über das, was nicht vertraglich zwischen den beiden Ländern geregelt ist, nämlich Eigentums- und Staatsangehörigkeitsfragen. Somit hatte Polen die „Deutschlanddoktrin“ zur Kenntnis genommen.

Indessen machte sich Polen an der Seite des deutschen Partners auf den Weg. Der Marsch führte 1999 in das militärische Bündnis der NATO und 2004 in die Europäische Union. Und so lange dieser Marsch andauerte, sah man offenbar an der Weichsel bereitwillig über so manchen Makel beim deutschen Weggenossen und in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit hinweg. Das fiel umso leichter, als diese Zusammenarbeit ja durchaus fruchtbar war und auch zum Vorteil Polens geriet. Der deutsche Partner wurde zu einem bedeutenden Investor, half bei der Entwicklung wichtiger Wirtschaftszweige, unterstützte die militärische Integration der polnischen Streitkräfte in die NATO, vermittelte polnische Interessen bei den Verhandlungen über die Mitgliedschaft in der EU; förderte die Zusammenarbeit und den Austausch Jugendlicher und Schüler; ja selbst die Frage der Entschädigung ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter konnte geregelt werden.

Die Entwicklung, die seit 1990 eingeleitet wurde, war aus polnischer Sicht bemerkenswert. Im kollektiven Bewusstsein der Polen war die Erinnerung an die deutschen Verbrechen während des Krieges frisch. Die Bereitschaft zur Überwindung von Feindbildern verlangte der polnischen Bevölkerung ein hohes Maß an Offenheit ab, das in jeder Gesellschaft eine besondere Herausforderung darstellen würde, umso mehr, als sie in die Phase eines tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Umbruchs fiel. Dennoch haben sich zahlreiche engagierte Menschen in Polen für den deutsch-polnischen Dialog eingesetzt. Und sie haben in Deutschland zahlreiche engagierte Ansprechpartner gefunden.

Das ehrliche Bemühen und der Enthusiasmus der Protagonisten der Verständigung und der starke Wunsch nach Überwindung trennender Gräben legten der polnischen und deutschen Öffentlichkeit nahe, den unerledigten Fragen der Vergangenheit keine Beachtung mehr zu schenken. Sie schienen sich von selbst zu erledigen.

Spätestens als die inzwischen rot-grün geführte Bundesregierung mit der NATO in den Krieg gegen Jugoslawien eintrat, schien auch nach Meinung polnischer Kommentatoren die Vergangenheit überwunden. Die Angst vor einem Deutschen Reich schien genauso erledigt, wie dieses Reich selbst und seine letzten noch lebenden Herolde, die Vertriebenenverbände. Vergangen, erledigt, tot. Waren damit die Mängel der Verträge von 1990 und 1991 (und auch der vorangegangenen Verträge) überwunden und gegenstandslos?

In dieser Zeit bekam der gepflegte Anzug des deutschen Weggefährten, an dessen Seite Polen seiner europäischen Zukunft entgegen schritt, Risse, durch die der Schatten eines Untoten hervor scheint.

Die Vergangenheit tauchte wieder auf. Kein Gedächtnis ist dauerhafter als ein Kataster. Verschiedene Bundesbürger, die als „Spätaussiedler“ seit den 70er Jahren aus Polen emigriert waren und aus diesem Anlass auf ihren Immobilienbesitz verzichten mussten, stellten gestützt auf die polnische Gesetzgebung Anträge auf Entschädigung bzw. Rückgabe. Die Bereitschaft der Bundesrepublik zur Aufnahme dieser ehemaligen polnischen Staatsbürger gründete sich im wesentlichen auf die genannte Deutschland - Doktrin. Allein zwischen 1980 und 1992 sind 800.000 solcher Aussiedler nach Deutschland gekommen; diese Zahl gibt eine Vorstellung von der Dimension des Problems, das auf den polnischen Staat und die betroffenen Kommunen zukommt.

Heftige Unruhe erzeugten die Aktivitäten der Preußischen Treuhand, die die Enteignungen infolge der Potsdamer Beschlüsse rückgängig machen lassen will, und die provozierenden Äußerungen der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach, die es 2003 sogar auf die Titelseite der Zeitschrift Wprost schaffte, in Gestalt einer reichlich geschmacklosen Karikatur.

Seitdem reißen die Diskussionen über ein ‘Zentrum gegen Vertreibungen’, Entschädigung von Alt-Eigentümern, Geschichtsrevisionismus etc. nicht mehr ab und erreichen mitunter absurde Qualität. Die unausgegorene Zote eines Zeitungsvolontärs musste für die Absage eines Staatsbesuchs herhalten, eine Gaspipeline wurde zum Gleichnis des Hitler-Stalin-Paktes.

Die Klage einer Gruppe ehemaliger deutscher Grundbesitzer aus den vormaligen deutschen Ostgebieten, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - unterstützt von der ‘Treuhand’ - feststellen lassen wollen, die erlittene Enteignung und das erzwungene Verlassen ihrer Heimat sei „völkerrechtswidrig“ gewesen und stelle einen Verstoß gegen ihre individuellen Menschenrechte, war im Januar 2007 der Anlass für das polnische Parlament, den Sejm, zu einer außenpolitischen Debatte über die Beziehungen zu Deutschland.

Eingeleitet wurde die Diskussion durch eine Regierungserklärung der Außenministerin Anna Fotyga, die sich ausführlich dem Verfahren widmete. Ein "Damokles-Schwert" seien die Entschädigungsforderungen deutscher Alteigentümer, das nun herniedergefahren sei. Man sei in intensiven Verhandlungen mit der deutschen Regierung, um vor dem Gerichtshof eine gemeinsame Position zu vertreten.

Mehrere Sejm-Abgeordnete diskutierten die Bestimmungen des Artikels 116 Grundgesetz, in denen ihnen ein „Deutsches Reich nach dem Stande vom 31. Dezember 1937“ begegnet. Sie verlangten nach Gerechtigkeit, wo doch der polnische Staat seinerseits die Entschädigung aller seiner Bürger, die nach den Beschlüssen der Konferenz von Jalta ihr Eigentum in den ehemaligen polnischen Ostgebieten verloren hatten, übernommen hatte.

Vor allem aber drückte die Debatte die tiefe Enttäuschung über die deutsche Haltung aus, in der sie einen eklatanten Widerspruch zu Geist und Inhalt des vor 16 Jahren abgeschlossenen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit sehen. Der PiS-Abgeordnete Karol Karski stellte den Vertrag schließlich gänzlich in Frage: „Warum, wozu soll er nützlich sein?“

Bereits im vergangenen Jahr haben Parteigänger der Kaczyński-Regierung die Außenpolitik gegenüber Deutschland grundsätzlich kritisiert. Der Streit um die richtige Westpolitik hat auch die Sejm-Debatte geprägt: Symbolische Akte ohne Wirkung, ja Hysterie sah die bürgerliche und linke Opposition in dem Bemühen der Regierung, der deutschen Haltung etwas entgegen zu setzen. Der Blick, den Außenministerin Fotyga und Karol Karski auf den deutschen Nachbarn warfen, enthüllte durchaus Abgründiges. Während Bronisław Komorowski von der PO der Regierung seine Unterstützung zusagte, um gemeinsam gegenüber den Deutschen auf eine Änderung der deutschen Rechtsdoktrin hinzuwirken, beließ es die Sprecherin der Linken, Jolanta Szymanek-Deresz beim Beklagen der Konfliktfelder im deutsch-polnischen Verhältnis.

So stehen die eigentlichen Kontrahenten im jeweils rechten Lager symmetrisch zueinander, wogegen konservative, liberale und linke (sozialdemokratische) Kräfte in Polen wie in Deutschland beschwichtigend oder mahnend dabei stehen.

In Deutschland operieren Pawelkas ‘Treuhand’ und Steinbachs BdV mit plakativen Vergleichen und nehmen listig die Deutschland-Rhetorik und die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung beim Wort: Wenn Politik die ‘Vertreibungen’ auf dem Balkan als völkerrechtswidrigen, einen militärischen Angriff rechtfertigenden Notstand definiert, sind die ‘Vertreibungen’ nach 1945 etwa anders zu qualifizieren? Und wenn die deutsche Seite den Potsdamer Beschlüssen eine politische und völkerrechtliche Bindung abspricht, wieso sollen die Vertriebenen dann auf das verlorene Eigentum „verzichten“?

In Polen verspüren nicht allein die „Wendeverlierer“ sondern auch Kreise, die eigentlich vom Ausbau der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen mit Deutschland profitiert haben, oft tiefes Unbehagen und wachsendes Misstrauen gegenüber der deutschen Seite. Sie verweisen mit nachvollziehbaren Argumenten darauf, dass die Deutschen den von Großmut und dem Willen nach Überwindung alter Feindbilder getragenen Dialogbemühungen nichts Vergleichbares entgegen gesetzt haben. Stattdessen nehmen sie in der deutschen Öffentlichkeit ein allgemeines Desinteresses am polnischen Schicksal einerseits und die bräsige Beschäftigung mit den deutschen Opfern des Krieges - Dresden, Fluchtdramen, Vertreibung - andererseits wahr, gelegentlich auch wohlgemeinten Rat an die Polen, sich doch endlich mit ihrer eigenen Schuld gegenüber Deutschen und Juden zu beschäftigen.

Es kann nicht länger übersehen werden, dass sich in der deutschen Öffentlichkeit ein Bewusstseinswandel vollzogen hat, der für die europäischen Nachbarn, vor allem aber für Polen eine inakzeptable Zumutung darstellt: Die Erinnerung an individuelle Schicksale wird in den Rang einer historischen Wahrheit erhoben, aus welcher die Frage nach den Schuldigen destilliert wird. Solchermaßen "vervollständigte" Sichtweisen führen politische Gesinnungen zusammen, die noch vor wenigen Jahren unvereinbar schienen. So erklärte der liberale Helmut Karasek nicht etwa Hitlers Politik sondern den Versailler Vertrag zum Urheber der Vertreibungen und wurde damit zum Fürsprecher der NS-Propaganda gegen eben diesen Vertrag (Sabine Christiansen vom 4.3.07).

Das Auftreten der Vertriebenenfunktionäre, die Uneindeutigkeit der Bundesregierung, welche einerseits den Aktionen von BdV und ‘Treuhand’ eine Absage erteilt, sie gleichzeitig aber als Privatangelegenheit und außerhalb der Regierungsverantwortung liegend qualifiziert, und die offenkundige Verschiebung des Diskussionsrahmens bezüglich der deutschen Vergangenheit lasten wie ein dunkler Schatten (siehe Erklärung der Kopernikus-Gruppe, POLEN und wir 4/2006) über den offiziellen Beziehungen. Ein Zustand, für dessen Ursache der polnische Botschafter in Berlin, Dr. Marek Prawda das Bild eines „Tumors“ benutzt hat (siehe Interview mit dem polnischen Botschafter in ‚POLEN und wir 1/2007).

Diese Malaise hat den Wahlkampf der rechten Parteien Polens vor zwei Jahren mit einer Mischung von antisemitischen und xenophoben, insbesondere germanophoben Aussagen angefeuert und zu ihrem Wahlsieg beigetragen.

Indessen nutzt die deutsche Rechte das Oberwasser, das der Lauf der Ereignisse auf ihre Mühlen spült: "Die Parteien, die in Polen regieren sind mit den deutschen Parteien Republikaner, DVU und NPD vergleichbar. Da kann man nicht allzu viel erwarten" erklärte Erika Steinbach in der "Passauer Neuen Presse" am 6.03.07.

Am selben Tag kommen die Parlamentspräsidenten beider Länder, Sejm-Marschall Marek Jurek und Bundestagspräsident Norbert Lammert in Warschau mit Abgeordneten des Sejm und des Bundestages zu gemeinsamen Beratungen zusammen. Angesichts der Stimmung ist das Zustandekommen des Treffens schon ein positives Signal. Es ist nicht zu erwarten, dass es über den Austausch konträrer Standpunkte und die Abgabe einer unverbindlichen Erklärung hinaus zu irgendeinem Ergebnis kommt. Erst vor einem Vierteljahr hat sich die deutsch-polnische Parlamentariergruppe getroffen. Immerhin konnte man in der Abschlusserklärung vom 7.12.2006 von einer Einigung in einer wichtigen Sachfrage lesen: „Die deutsch-polnische Parlamentariergruppe besuchte die Brennerei Sobieski und wurde dort mit dem Plan der Europäischen Kommission konfrontiert, die Herstellung von Wodka europäisch zu vereinheitlichen. Sie sagte zu, sich bei den Kollegen im Europäischen Parlament dafür einzusetzen, solchen Plänen eine klare Absage zu erteilen.“