Vom Junker zum
Bürger
Wissenschaftliche
Tagung über Hellmut von Gerlach und seine Zeit
Von
In der Geschichtswissenschaft nicht allein der Bundesrepublik
Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten, ausgehend von der Erforschung der
gesellschaftlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus, eine
Forschungsrichtung an Boden gewonnen, die sich das Studium der gescheiterten
oder versäumten demokratischen Alternativen der aufkommenden Diktatur in der
ersten deutschen Republik zum Ziele setzt, die es nicht vermochte, sich aus der
Vormundschaft der feudalen und bürgerlichen Träger des Kaiserreiches zu emanzipieren
und an ihre Stelle eine den zivilisatorischen Standards jenseits der
Reichsgrenzen entsprechende bürgerliche Demokratie zu setzen. Diesem Thema ist
eine wissenschaftliche Tagung unter Beteiligung von Historikern,
Kulturwissenschaftlern und Publizisten aus Deutschland, Polen und Italien
gewidmet, die im kommenden Sommer an der Freien Universität Berlin stattfindet
(siehe Ankündigung auf der letzten Umschlagseite).
Im Mittelpunkt der Tagung steht
die politische und publizistische Tätigkeit Hellmut von Gerlachs (1866-1935),
des wortmächtigen Anwalts von Demokratie und Frieden sowie der Verständigung
mit Polen und Frankreich in der Weimarer Republik, und die Aktualität seiner
Einsichten in der Republik unserer Tage.
Mitveranstalter der Tagung sind
die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e. V., die
1948 in Berlin als gesamtdeutsche "Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft"
ins Leben gerufen wurde, die Deutsche Friedensgesellschaft und die
Internationale Liga für Menschenrechte, an deren Gründung Hellmut von Gerlach
beteiligt war und zu deren namhaftesten Vorkämpfern er lange Jahre gehörte,
endlich die Zweiwochenschrift "Ossietzky",
die in der Nachfolge der "Weltbühne" steht, deren politische Leitung
Hellmut von Gerlach für den wegen Landesverrats inhaftierten Carl von Ossietzky wahrnahm.
Der gedankliche Lebenslauf von
Gerlachs berührt alle denkbaren Verfassungen der deutschen Gesellschaft von der
Monarchie bis zu einer Demokratie westeuropäischen Zuschnitts und führt auf
diese Weise das ganze Spektrum der politischen und gesellschaftlichen Lager der
Jahrzehnte zwischen der Reichsgründung und dem Ende der Weimarer Republik,
darunter die vereitelten und vertanen Möglichkeiten
einer Verhinderung des Abgleitens in die nationalsozialistische
Gewaltherrschaft nach innen und außen, vor Augen. Wie ein roter Faden zieht
sich durch Hellmut von Gerlachs geistigen Werdegang die Einsicht, dass ein auf
gegenseitige Achtung und Aufrichtigkeit gegründetes gutnachbarschaftliches
Verhältnis zwischen Deutschland und Polen den Schlüssel für das friedliche
Zusammenleben der Völker des Kontinents darstellt. Den Anstoß zu dieser
Einsicht gaben die Anschauung der Lebensbedingungen der polnischen Untertanen
des väterlichen Gutes in Schlesien und erste Erfahrungen mit der preußischen
Polenpolitik. Ihre Bewährung erfuhr sie, als Hellmut von Gerlach unmittelbar
nach dem Ersten Weltkrieg von Rudolf Breitscheid zum Unterstaatssekretär des
preußischen Innenministeriums berufen wurde, in dessen Zuständigkeit die
Provinz Posen fiel, die im Begriff war, sich von Preußen zu lösen. Es gelang
ihm, in Verhandlungen mit den polnischen revolutionären Organen einerseits die
Versorgung des Reiches mit polnischen Lebensmitteln sicherzustellen und
andererseits die Rechte der polnischen Reichsangehörigen gegenüber
nationalistischen Forderungen nach einer militärischen Bereinigung der
Polenfrage zu wahren. Eine Broschüre über den "Zusammenbruch der deutschen
Polenpolitik" verlieh den dabei gewonnenen Erkenntnissen publizistischen
Ausdruck. Bis in die Tage Pi³sudskis hat Hellmut von Gerlach sich im
Zusammenwirken mit der polnischen Friedensbewegung für die Normalisierung des
deutsch-polnischen Verhältnisses eingesetzt. 1925 gehört er zu den Initiatoren
einer Konferenz deutscher und polnischer Pazifisten in Danzig, aus der ein aus
pazifistischen Kräften bestehender parlamentarischer Verständigungsausschuss
hervorging, der sich insbesondere die Beendigung der deutschen
Wirtschaftssanktionen gegenüber Polen zum Ziel setzte. Die Reaktion des
nationalistischen Lagers, das sich über seinen "feigen Pazifismus"
empörte und ihm die "Quittung für Posen" versprach, gipfelte bereits
1920 in einem Mordversuch.
Das Wirken Hellmut von Gerlachs und seiner Weggefährten gehört nicht zum geistigen Besitz der heutigen deutschen Republik, die die nicht eben breite konsequent demokratische Bewegung der ersten Republik nicht zu ihren Fundamenten zählt und deren Selbstverständnis den Einsichten von Gerlachs in entscheidenden Punkten gerade entgegengesetzt ist. In den anerkannten Darstellungen der Geschichte von Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittem Reich bleibt ihre Berücksichtigung allenfalls marginal. Erst in jüngster Zeit tut sich, nicht zuletzt durch das Verdienst auf der Tagung vertretener Referenten, die Möglichkeit auf, dass sich die Republik in den Besitz der von den Nationalsozialisten abgeschnittenen Traditionen setzt, die ihr die Vollendung der bürgerlichen Demokratie zur Aufgabe machen. Da dies dem äußeren Anschein nach nicht zu ihren ersten Sorgen zählt, möchte die Tagung ihr bei der Nutzung dieser Chance zur Seite stehen.