Vom Junker zum Bürger

 

Wissenschaftliche Tagung über Hellmut von Gerlach und seine Zeit

 

Von Christoph Koch

 

In der Geschichtswissenschaft nicht allein der Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten, ausgehend von der Erforschung der gesellschaftlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus, eine Forschungsrichtung an Boden gewonnen, die sich das Studium der gescheiterten oder versäumten demokratischen Alternativen der aufkommenden Diktatur in der ersten deutschen Republik zum Ziele setzt, die es nicht vermochte, sich aus der Vormundschaft der feudalen und bürgerlichen Träger des Kaiserreiches zu emanzipieren und an ihre Stelle eine den zivilisatorischen Standards jenseits der Reichsgrenzen entsprechende bürgerliche Demokratie zu setzen. Diesem Thema ist eine wissenschaftliche Tagung unter Beteiligung von Historikern, Kulturwissenschaftlern und Publizisten aus Deutschland, Polen und Italien gewidmet, die im kommenden Sommer an der Freien Universität Berlin stattfindet (siehe Ankündigung auf der letzten Umschlagseite).

 

Im Mittelpunkt der Tagung steht die politische und publizistische Tätigkeit Hellmut von Gerlachs (1866-1935), des wortmächtigen Anwalts von Demokratie und Frieden sowie der Verständigung mit Polen und Frankreich in der Weimarer Republik, und die Aktualität seiner Einsichten in der Republik unserer Tage.

Mitveranstalter der Tagung sind die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e. V., die 1948 in Berlin als gesamtdeutsche "Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft" ins Leben gerufen wurde, die Deutsche Friedensgesellschaft und die Internationale Liga für Menschenrechte, an deren Gründung Hellmut von Gerlach beteiligt war und zu deren namhaftesten Vorkämpfern er lange Jahre gehörte, endlich die Zweiwochenschrift "Ossietzky", die in der Nachfolge der "Weltbühne" steht, deren politische Leitung Hellmut von Gerlach für den wegen Landesverrats inhaftierten Carl von Ossietzky wahrnahm.

Der gedankliche Lebenslauf von Gerlachs berührt alle denkbaren Verfassungen der deutschen Gesellschaft von der Monarchie bis zu einer Demokratie westeuropäischen Zuschnitts und führt auf diese Weise das ganze Spektrum der politischen und gesellschaftlichen Lager der Jahrzehnte zwischen der Reichsgründung und dem Ende der Weimarer Republik, darunter die vereitelten und vertanen Möglichkeiten einer Verhinderung des Abgleitens in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nach innen und außen, vor Augen. Wie ein roter Faden zieht sich durch Hellmut von Gerlachs geistigen Werdegang die Einsicht, dass ein auf gegenseitige Achtung und Aufrichtigkeit gegründetes gutnachbarschaftliches Verhältnis zwischen Deutschland und Polen den Schlüssel für das friedliche Zusammenleben der Völker des Kontinents darstellt. Den Anstoß zu dieser Einsicht gaben die Anschauung der Lebensbedingungen der polnischen Untertanen des väterlichen Gutes in Schlesien und erste Erfahrungen mit der preußischen Polenpolitik. Ihre Bewährung erfuhr sie, als Hellmut von Gerlach unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg von Rudolf Breitscheid zum Unterstaatssekretär des preußischen Innenministeriums berufen wurde, in dessen Zuständigkeit die Provinz Posen fiel, die im Begriff war, sich von Preußen zu lösen. Es gelang ihm, in Verhandlungen mit den polnischen revolutionären Organen einerseits die Versorgung des Reiches mit polnischen Lebensmitteln sicherzustellen und andererseits die Rechte der polnischen Reichsangehörigen gegenüber nationalistischen Forderungen nach einer militärischen Bereinigung der Polenfrage zu wahren. Eine Broschüre über den "Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik" verlieh den dabei gewonnenen Erkenntnissen publizistischen Ausdruck. Bis in die Tage Pi³sudskis hat Hellmut von Gerlach sich im Zusammenwirken mit der polnischen Friedensbewegung für die Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses eingesetzt. 1925 gehört er zu den Initiatoren einer Konferenz deutscher und polnischer Pazifisten in Danzig, aus der ein aus pazifistischen Kräften bestehender parlamentarischer Verständigungsausschuss hervorging, der sich insbesondere die Beendigung der deutschen Wirtschaftssanktionen gegenüber Polen zum Ziel setzte. Die Reaktion des nationalistischen Lagers, das sich über seinen "feigen Pazifismus" empörte und ihm die "Quittung für Posen" versprach, gipfelte bereits 1920 in einem Mordversuch.

Das Wirken Hellmut von Gerlachs und seiner Weggefährten gehört nicht zum geistigen Besitz der heutigen deutschen Republik, die die nicht eben breite konsequent demokratische Bewegung der ersten Republik nicht zu ihren Fundamenten zählt und deren Selbstverständnis den Einsichten von Gerlachs in entscheidenden Punkten gerade entgegengesetzt ist. In den anerkannten Darstellungen der Geschichte von Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittem Reich bleibt ihre Berücksichtigung allenfalls marginal. Erst in jüngster Zeit tut sich, nicht zuletzt durch das Verdienst auf der Tagung vertretener Referenten, die Möglichkeit auf, dass sich die Republik in den Besitz der von den Nationalsozialisten abgeschnittenen Traditionen setzt, die ihr die Vollendung der bürgerlichen Demokratie zur Aufgabe machen. Da dies dem äußeren Anschein nach nicht zu ihren ersten Sorgen zählt, möchte die Tagung ihr bei der Nutzung dieser Chance zur Seite stehen.