Über allem Moral und ein Manichäer als Regierungschef

 

Ein Ende der jetzigen Machtkonstellation ist noch nicht abzusehen

 

Von Holger Politt

 

In Polen dürften Zwillingsbrüder auf absehbare Zeit kein zweites Mal die Chance bekommen, höchstes Staatsamt und höchstes Regierungsamt in Familiennutzung zu nehmen. Die erste Erfahrung mit solcher Regierungsvariante ist vielen ernüchternd genug. Die Stimmungskurve zur Regierungsarbeit ist schlechter als bei den Vorgängern AWS und SLD jeweils nach Ablauf der gleichen Zeit am Regierungshebel. Selbst wohlwollende Kritiker räumen mittlerweile ein, dass Jarosław Kaczyński an Orientierung verliert. Er nähere sich bereits auffällig den vielen Amtsvorgängern, die in der Regierungsarbeit ihren vormals so untrüglichen politischen Instinkt verloren hätten. Und doch ist es wie im Märchen - vorschnelle Entwarnung wird durch die Fabel bestraft. Denn Jarosław Kaczyński ist unter Polens Spitzenpolitikern nach wie vor jener Mann, der das beste Gespür für die Sorgen und Nöte des vielbeschworenen kleinen Mannes hat. Und das bedeutet in einem Land gravierender sozialer Probleme viel. In den Händen eines gewieften Taktikers ist dieser Fakt zudem eine nicht zu unterschätzende Waffe.

 

Die PiS-geführte Regierung hat außerdem großes Glück. Obwohl die kleinen Koalitionspartner LPR und Samoobrona in den Augen der Öffentlichkeit mächtig Federn ließen und bestenfalls einen Schatten ihrer selbst darstellen, ist die Opposition keinen Schritt weitergekommen. Die PO beruhigt sich mit der Aussicht, ohnehin der kommende Wahlsieger zu sein, und kuscht auffallend an der neuesten PiS-Front, der beabsichtigten Ausmerzung aller nur möglichen kommunistisch-postkommunistischen Hinterlassenschaften, ein Vorgang, der bei dem angesagten Husarenstil ja ein jedes liberale Herz - egal ob der Kopf nun mittig oder rechts denkt - bluten lassen müsste. Und die SLD ist eher mit sich selbst befasst, stehen der Partei oder besser gesagt ihrer Mitgliedschaft mit dem angekündigten Ausritt in freiheitlich-liberales Gelände doch genügend Prüfungen schwerster Art ins Haus. Vorsorglich und gut gemeint wurde inzwischen die Parlamentsfraktion, in Fraktion der Linken und der Demokraten (LiD) umgetauft, was freilich sofort den Vorwurf der Vereinnahmung einbrachte, denn natürlich sitzt dort nach wie vor kein einziger der "Demokraten" auf den Abgeordnetenbänken. Insgesamt beruhigen auch hier eher die Aussichten, denn man glaubt den kommenden Wahlsieger PO bereits in der Zwickmühle: Entweder Fortschreibung des Kaczyński-Programms mit anderen Mitteln oder die von Kaczyński für ausgeschlossen gehaltene Koalition eines sich breit verstehenden liberalen Lagers, denn der Ministerpräsident sieht seine rechtsliberalen Kollegen scheuend vor der Hürde, die da Antikommunismus heißt.

Alle wichtigen politischen Gruppierungen gehen bereits davon aus, dass eine Rückkehr zu den Vor-Kaczyński-Verhältnissen ausgeschlossen ist; sie versuchen dem Rechnung zu tragen. Dem PiS-Vorsitzenden wird dabei nicht entgangen sein, dass die virtuell in Vorhand sitzende PO den ältesten Rock trägt, einen Rock aus grauer Vor-Kaczyński-Zeit, als der Hauptgegner noch Leszek Miller hieß. Sie scheut sich vor Änderungen und leidet sehr unter dem so ungleichen Führungspaar. Jan Rokita und Donald Tusk, die noch immer den Eindruck vermitteln als warteten sie auf ihre großen Chancen, zermürben im Spagat zwischen dem Vorher und dem Nachher. Im Heute haben sie hingegen einen schweren Stand, dessen darf sich ihr großer Gegner sicher sein. Und sollte die Vision einer sich rechts und links von der Mitte befindlichen großen liberalen Verständigung wider alle Erwarten dennoch Wirklichkeit werden, hätte er einen unschätzbaren Sieg errungen.

Bevor die Umrisse eines künftigen konservativ-nationalen Blocks feststünden, gäbe es den so wichtigen Gegenpart. Kaczyńskis Gegner hätten dem Traum von den beiden das politische Leben dominierenden Blöcken neue Hoffnung eingehaucht. Er bräuchte dann die aufgegangene Saat selbst nur noch einbringen. Nach den Kommunalwahlen 2006 übrigens keine allzu schwere Übung, denn zumindest in den Kleinstädten und auf dem flachen Lande kann PiS von deutlich gestärkten Strukturen ausgehen. Sollten sich die politischen Gegner über ein liberales Programm einigen können, stünde der bereits leicht abgetragene Wahlschlager des "solidarischen Polen" in neuer, vielen Menschen einleuchtender Herrlichkeit.

Weniger Erfolg verheißt hingegen der platte Antikommunismus, mit dem Bruder Lech im Präsidentenamt die ersten Wochen des Jahres zu punkten versuchte. Vergeblich. Weder Jaruzelskis Generalsrang noch Ludwik-Waryski-Straßen sind wirklich von Interesse. Schon gar nicht ist es eine Roosevelt-Straße in Wrocław, die nun deshalb umbenannt werden soll, weil Roosevelt dem Stalin seinen Segen zu Jalta gegeben hatte. Stielblüten einer vollkommen verschrobenen Zeit, gewiss, doch das eine oder andere lässt sich an diesen Kuriositäten ablesen. Die gesellschaftliche Stimmung nämlich, die beide Kaczyńskis ins Amt brachte, flacht zusehends ab. Bereits bei den Kommunalwahlen wurde mit der Bauernpartei PSL eine Kraft überdurchschnittlich honoriert, die als Alleinstellungsmerkmal die eigene Normalität (PSL = normal) herausstellte. Die Lust jedenfalls, den Einfällen und Launen der berühmtesten Familie Polens zu folgen, ist den meisten Polen abhanden gekommen. Es hat sich auch an die Weichsel herumgesprochen, welch eigenartig-spöttisches Bild der politischen Elite im Ausland mittlerweile gezeichnet wird.

Und Jarosław Kaczyński, der noch wenige Wochen nach Amtsantritt siegessicher tönte, es gäbe für den Ministerpräsidenten im heutigen Polen Wichtigeres als die tagtägliche Kleinarbeit am Regierungstisch, verspricht nun dem Publikum, dann doch noch zu diesem Arbeitsstil überzugehen, allerdings erst, wenn zwei Dinge ihren Abschluss fänden. Erstens die Institutionalisierung der eingeleiteten moralischen Revolution und zweitens die überfällige Ablösung der Kräfte des Runden Tisches von den Schalthebeln der Macht im Lande. Letzteres zielt auch in Richtung PO, die so vor einem Schulterschluss mit den Veteranen des Runden Tisches (SLD und Freidemokraten, also LiD) gewarnt werden soll.

Welche wundervollen Blüten das zeitigen kann, verdeutlicht ein jüngst in Umlauf gebrachtes Pamphlet aus der Feder eines rechten Mannes, der nach Alter und Gesinnung jenen zuzurechnen ist, die womöglich einmal Kaczyńskis politische Erben genannt werden könnten, zur Zeit sich aber anschicken, die Meinungsführerschaft im Lande zu übernehmen. Rafał Ziemkiewicz nannte sein Buch "Das Michnikland" (Michnikowczyzna). Adam Michnik, so die zentrale Behauptung, habe ein großes gesellschaftliches Kapital gehabt und selbiges leichtfertig verspielt, da er den Geist der "Solidarność" am Runden Tisch erst aufgegeben bzw. verraten und danach die Postkommunisten hoffähig gemacht habe. Er ende als der Jerzy Urban der Dritten Republik, also als der Demagoge einer Ordnung, die verlogen und durch und durch im Korruptionssumpf gestrandet sei. Für den Aufbruch in einen moralischen Kapitalismus werde ein solcher Bankrotteur nicht mehr gebraucht. Dahinter steht die nicht unbegründete Hoffnung, um das im Mai 2006 etablierte konservativ ausgerichtete Springer-Blatt "Dziennik" ließe sich ein zweites Meinungszentrum etablieren, so wie es die liberal ausgerichtete und zu einer polnischen Kapitalgruppe gehörende "Gazeta Wyborcza" seit Jahren darstellt. Die langjährige praktische Monopolstellung des Michnik-Blattes ist aufgebrochen, auch wenn das Flaggschiff der polnischen Presse noch immer eine deutliche Spitzenposition einnimmt. Doch das schreibende Umfeld von "Dziennik" ist deutlich jünger, ist spritziger und zugleich aggressiver, versteht sein journalistisches Handwerk und kommt insbesondere bei den 30- bis 40-jährigen recht gut an. Michnik ist für diese Generation tatsächlich zu einem Symbol "voreiszeitlicher Vergangenheit" geworden.

Der Ministerpräsident aber hofft, dass alle diese Konstellationen ihm dabei helfen, ein anderes Demokratieverständnis zu etablieren. Ob man es dann institutionell als "Vierte Republik" bezeichnet oder nicht, ist ihm, der diese Formulierung einst siegessicher in den Umlauf brachte, inzwischen herzlich egal. Ein anderes System müsse her, ein System, in dem Verantwortung wieder Verantwortung, Moral wieder Moral und Wahrheit wieder Wahrheit genannt werden könnten. Recht und Gerechtigkeit eben. Diese Forderung bleibt solange aktuell, wie glaubhaft gemacht werden kann, dass Staat und Gesellschaft gefährlich angefressen seien. Die Zentrale Korruptionspolizei, die ohne jegliche parlamentarische Kontrolle agiert, hat dann vor kurzem auch in die Ärzteschaft hineingestochen und einen bekannten Herzspezialisten, der viele erfolgreiche Herztransplantationen auf seinem Konto hat, festsetzen können. Die Skala der Korruptionsdelikte, die ihm zur Last gelegt werden, wird von Kennern des polnischen Gesundheitswesens aber eher als eine normal übliche Größe bezeichnet. Das ist ein Armutszeugnis für den betreffenden Arzt und für das Gesundheitswesen, klare Sache. Hier interessiert jedoch die Frage, wie lange die PiS-Strategen solche Quellen, die es in Polen in Hülle und Fülle gibt, noch zur politischen Goldader ummünzen können?

Polen geht schwierigen Zeiten entgegen. Die Mixtur, die Jarosław Kaczyński seinen Landsleuten als heilendes Mittel anzudrehen versucht, wird ihre Wirkung verfehlen. Genauso wie einst die untauglichen Mixturen der Vorgänger - die Programme Jerzy Buzeks und Leszek Millers.