So nah und doch so fern

Erste Eindrücke im Nachbarland

 

Von Sven Liese

 

Sven Liese (21) aus Frankfurt (Oder) absolviert zur Zeit ein Freiwilliges Soziales Jahr anstelle des Zivildienstes in Lublin, Polen. Von der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) wurde er von September 2006 bis August 2007 dorthin entsendet und ist sowohl im Staatlichen Museum Majdanek als auch im Kulturzentrum Oœrodek Brama Grodzka - Teatr NN tätig.

 

So nah und doch so fern

„Was willst du in Lublin?“ - diese Frage ist mir auf meinem Weg zum Freiwilligenjahr oft begegnet. Aber nicht nur meine Landsleute ließen sich zu einer solchen, fast schon erschreckend vorbehaltsbehafteten Äußerung hinreißen. In ihren Stimmen schwingen ein bisschen Abneigung und Unverständnis mit. Erstaunlicherweise lässt diese Frage aber auch in Polen nicht lange auf sich warten, wenn man Einheimischen begegnet. Lublin, die 350.000 Einwohner zählende Studentenstadt 165 km südöstlich von Warschau, zählt unter vielen Polen schon zur östlichen Provinz.

„Mein Freiwilligendienst führt mich hierher“, antworte ich kurz. Obwohl verschiedene Projekte in über 10 Ländern zur Auswahl standen, übte Polen allgemein eine ganz besondere Anziehung auf mich aus. Anfangs war die Erkundung des Nachbarlandes, ähnlich wie in jedem unbekannten Gebiet, lediglich „ein großes Abenteuer“. Es galt des „Neue“, das „Unbekannte“ zu entdecken. Mittlerweile lebe ich aber bereits seit dreieinhalb Monaten hier und trotzdem fühle es sich noch an wie zu Beginn - als befände ich mich in einer anderen Welt.

Diese Frage lässt sich wahrlich schwer pauschal beantworten. Ein besonderer Reiz ist die räumliche Nähe und gleichzeitig dieser riesige Unterschied in kulturellen und gesellschaftlichen Fragen. Für mich war und ist es faszinierend zu wissen, dass ich in ein Nachbarland reise, mich aber so fühle, als sei ich Tausende von Kilometern gefahren, um eine andere Kultur und seine Menschen kennen zu lernen.

Bevor ich die Reise gen Osten antrat, hatte ich arge Bedenken, ob es denn überhaupt möglich sei, die polnische Sprache, die sich für meine Begriffe eher nach „Zungenkrankheit“ als nach  Kommunikationsmittel anhörte, zu erlernen. Schließlich ist die Sprache eine Grundvoraussetzung, um sich in einem fremden Land gut zurecht zu finden. Inzwischen, mit ein wenig Kenntnis und Verständnis, empfinde ich Polnisch aber als sehr melodisch und weich. Manchmal bilde ich mir sogar ein, ein paar französische Klänge herauszuhören. Aber nicht nur an die Sprache musste ich mich gewöhnen. Ebenso erging es mir bei anderen alltäglichen Dingen, die ich anfangs als komisch empfand. Doch die Sichtweisen ändern sich, der Mensch ist schließlich ein „Gewohnheitstier“. Ängste und Vorbehalte wandeln sich oder verschwinden gar, dennoch treten immer wieder Kuriositäten zu Tage.

Polen - das ist Glaube, Tradition und Stolz. Polen - das ist aber im gleichen Atemzug auch Dynamik, es ist Ungezwungenheit und Leben. Hier ist der Geist des schnellen Wandels spürbar, hier treffen Vergangenheit und Zukunft für jeden sichtbar in kleinsten Dingen des Alltags zusammen.

Ich komme mir manchmal vor, als würde ich kleine Zeitreisen unternehmen. Soeben fuhr ich noch mit einem 30 Jahre alten Ikarus-Bus und jetzt stehe ich bereits in einem Hypermarché, der mit „westlichen Standards protzt“. Auch ist es erstaunlich, wie viele ausländische Einflüsse sich in Polen wieder finden, obwohl die Tradition einen sehr hohen Stellenwert besitzt. Wie weithin bekannt ist, ist Polen ein sehr katholisch geprägtes Land. Die Religion bildet eine der Grundfesten für die meisten der Menschen hier und das ist im Alltag sehr präsent. Das Stadtbild ist geprägt von den vielen Kirchen, Klöstern und der Kathedrale. Wohlgemerkt werden diese alle noch genutzt und sind zu den Messen gut besucht. Tagtäglich herrscht nach Arbeitsschluss auf dem Parkplatz vor der Kathedrale ein kleines Chaos, denn sehr viele Leute zieht es zum Gebet dorthin. In der Innenstadt findet man ganze Läden voll mit Ikonen und Marienstatuen, Papstabbildern (vor allem von Johannes Paul II., aber auch von Benedikt XVI.) und allen nur erdenklichen Artikeln. Hier in Lublin ist es auch ganz normal, Nonnen in der Fußgängerzone oder im Bus zu begegnen.

Die Bedeutung der katholischen Feste ist enorm; Allerheiligen und Weihnachten mitzufeiern, ist für Außenstehende schon ein Erlebnis. Dennoch sind auch in den „Tiefen der Tradition“ schon fremdländische Spuren erkennbar. Der Christbaum glitzert bunt und blinkt etwas kitschig vor sich her. Hier und da sind auch ‘Stockings’ an den heimischen Kaminen zu finden. Amerika scheint sehr nah. Gleiches trifft zu, sobald man die Tageszeitung aufschlägt oder einen Blick auf Fahrbahnmarkierungen wirft.

Sogar in Sachen Einkauf im Supermarkt ist eine Europareise möglich: ob im Leclerc (französisch), Tesco (englisch), Lidl (deutsch) oder dem einheimischen Biedronka, um nur Beispiele zu nennen. Wer die Wahl hat, hat die Qual.

Immer wieder faszinierend für mich ist die polnische Herzlichkeit und Lebensfreude. Es ist sehr angenehm, die Gastfreundschaft der Leute hier zu erfahren. Außerdem sind sie sehr geschickt darin, das Beste aus den jeweils herrschenden Umständen zu machen und das Leben „wirklich zu leben“. Es ist weniger wichtig, dass alles genau und korrekt nach Maß ist; Hauptsache ist eben, dass es funktioniert. Polen sind Künstler im Improvisieren und oft werden Improvisationen dann einfach zum Dauerzustand.

Es gibt viele Beispiele, die dieses Lebensverständnis widerspiegeln. Ob der Bus kommt oder nicht und wann er kommt, liegt oft in der Gunst des Fahrers. Fahrpläne sind manchmal wie Lotteriescheine, man weiß nie, welche Zahl denn richtig ist. „Des Deutschen liebstes Kind“, das Auto, wird hier vielmehr als Nutzgegenstand gesehen und dementsprechend nicht ganz so "sanft gestreichelt". Auf mich machen die Polen einen fröhlichen Eindruck, man kann ihnen vieles verwehren, aber der Frohsinn ist unantastbar. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Polen es mögen, zunächst stets über alles zu klagen, was sie finden, und ihr Leid darstellen müssen.

Es ist diese Art zu Leben, es sind die Leute, die mich hierher verschlagen haben. Dies alles selbst zu erfahren, das ist das Besondere. Und Lublin ist eine wunderbare Stadt für solche Erlebnisse, typisch polnisch ist's eben vor allem in der ‘Provinz’.

(Dezember '06)

Annäherung in der Ferne

Der zweite Blick auf die Geschehnisse

Für gewöhnlich begründet sich die Fremde in einem anderen als dem Heimatland auf der Tatsache, dass wir es einfach nicht gewohnt sind, gewisse Dinge anders zu tun oder zu betrachten, wie wir das eben von zu Hause aus kennen. Fahre ich also voreingenommen in ein anderes Land, um die Geschehnisse dort als merkwürdig, wenn auch interessant zu beschreiben oder lebe ich vielleicht selbst zu komisch für die Menschen dort? Möglicherweise aber reise ich mit der Einstellung in die Ferne, dem Neuen sehr offen entgegenzutreten, doch selbst dann braucht es wahrscheinlich dafür etwas Eingewöhnungszeit.

Letztere habe ich bereits hinter mir, und so habe ich für mich den Eindruck gewonnen, mittlerweile ein Teil der Gesellschaft zu sein und nicht umgekehrt. Zu Beginn meines Dienstes war ich ein „Außenstehender“, was nur normal ist, wenn man in einer komplett neuen Umgebung ankommt und sich zunächst einmal „integrieren“ muss. Es steht außer Frage, dass man mich hier sehr herzlich empfangen hat und im Folgenden versucht wurde, mir die Gewöhnung an die neue Lebenssituation so angenehm wie möglich zu machen. An beiden Arbeitsstellen, sowohl im Staatlichen Museum Majdanek als auch im Kulturzentrum Ośrodek Brama Grodzka wurde ich von meinen Betreuern sehr gut umsorgt. Wir konnten uns auf Deutsch oder Englisch verständigen und so lief alles problemlos und vertraut ab. Doch mit den meisten anderen Mitarbeitern, die überwiegend Polnisch sprachen, gab es Schwierigkeiten in der Kommunikation, was natürlich eine Barriere zwischen uns darstellte. Auch kam es so, dass ich mir in der Freizeit zunächst einen Kreis von anderen deutschsprachigen Freiwilligen und Studenten suchte. So entstand quasi eine „eigene kleine Gemeinde“, ein „Ersatz-Zuhause“ sozusagen, was aber nicht wirklich zur Integration beitrug.

Im Verlauf der nächsten Monate, als das „erste Abtasten“ durch „weiteres Vortasten abgelöst wurde, ließ sich fortan auch ein kontinuierlicher Prozess der Weiterentwicklung und Anpassung an die Gegebenheiten beobachten. Eine zentrale Rolle spielten in meinem Falle  die Vermieter, die, obwohl im besten Wissen, dass die Gespräche mit mir anstrengend werden würden, da sie, wenn überhaupt nur wortweise Deutsch mit einstreuen konnten, ich umgekehrt aber nur mit polnischen Brocken dienen konnte, nie Anzeichen gemacht haben, die Unterhaltungen zu beenden, sondern immer geduldig und entgegenkommend zur Stelle waren. Eine erste überwältigende Erfahrung dabei war, dass es durchaus möglich ist, sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Außerdem waren diese Treffen sehr hilfreich, die Hemmnisse abzubauen, welche oft vorhanden sind, wenn eine Sprache noch nicht richtig beherrscht wird. Ohne Bedenken, ob die Grammatik eventuell falsch ist oder andere womöglich belustigende Dinge wie merkwürdige Aussprache o.ä. zu Tage treten könnten, traute ich mich zu sprechen.

Das wachsende Wissen und vor allem Anwenden der Sprache eröffnete mir immer neue Möglichkeiten. Nicht nur der alltägliche Einkauf im Laden gegenüber wurde angenehmer, auch der Kontakt zu Polen kam einfacher zu Stande. Überhaupt ist es stets wieder erstaunlich, wie sehr verwundert und überrascht die Polen darüber sind, wenn jemand versucht ihre Sprache zu lernen oder sogar Polnisch spricht. Auf die Nachfrage hin, was daran so komisch sei, ist meist die Antwort, dass Polen relativ klein und unbedeutend sei und warum man deshalb nicht besser Spanisch oder Französisch lerne? Für viele Polen ist es absolut selbstverständlich Deutsch zu lernen und sich so auf die Zukunft vorzubereiten. Man orientiert sich in Richtung westliche Welt, im Gegenzug wird hingegen nichts dergleichen von uns Nachbarn erwartet. Umso größer ist dann die Freude darüber, dass es junge Menschen gibt, die sich für ihr Land sowie ihre Kultur interessieren und Polnisch lernen.

Die Bereitschaft dabei zu helfen ist sehr groß. Im privaten Kreise war es kein Problem, sich spontan am Nachmittag in einem der vielen Cafés und Kneipen der Altstadt auf einen Cappucino oder ein Bier zu verabreden. Weiterhin fand ich es sehr angenehm, mit deutschen und polnischen Freunden Koch- und Spieleabende zu veranstalten und somit gleichzeitig zwanglos meine Polnischkenntnisse anzuwenden und zu erweitern. Auf diese Weise entstanden tandemähnliche Situationen, ganz automatisch.

Auch auf der Arbeit war die Verständigung anfangs mehr als holprig. Dennoch erfuhr ich Unterstützung, als ich beispielsweise in der Zeitung stöberte, auch wenn uns allen bewusst war, dass ich (noch) keine Möglichkeit hatte, die Artikel auch nur zur Hälfte zu verstehen. Wörter, die mich interessierten, wurden mir aber geduldig erklärt, in welcher Form auch immer das möglich war - Sprache, Hände, Füße, Zeichnungen. Durch Äußerungen wie „Siehst du, soviel verstehst du schon!“ oder „Du sprichst schon sehr gut.“ wurde mir weiter Mut gemacht, auch wenn mir klar war, dass es sich das eine oder andere Mal um reine Höflichkeit handelte. Die lockere Atmosphäre und Bemerkungen der Sekretärin gegenüber den Mitarbeitern, wie „ich läse jeden Morgen die Zeitung und ich könne bereits nahezu perfekt Polnisch“ motivierten ungemein und machten Spaß. Außerdem förderten sie die Integration, da ich so auch mit vielen Mitarbeiter, die ich sonst kaum sah, ins Gespräch kam.

Inzwischen kann ich mich ganz gut auf Polnisch verständigen und wage den nächsten Schritt: Das Land selbst zu erkunden. Viele Facetten des Lebens „erfährt“ man im wahrsten Sinne des Wortes - unterwegs. Die spontane Begegnung mit Einheimischen aus jeglichen Regionen, das Entdecken anderer Städte und Dörfer, der Touristenstätten und abgelegenen Orte fördern Verständnis, Toleranz und Identifikation.

Ich verstehe die Zeitungsartikel zwar auch jetzt noch nicht vollständig und der Inhalt ist für mich oft noch ein Buch mit sieben Siegeln, aber immerhin kann ich doch ab und zu schon aus einigen Sätzen sinnvolle Informationen entnehmen. Und wenn ich nach einem halben Jahr fünfzig Prozent der Worte deuten kann, so macht das zumindest Mut, im kommenden halben Jahr die anderen fünfzig Prozent in Angriff zu nehmen! Ich denke ich habe meinen Platz in der Gesellschaft gefunden und fühle mich wohl hier!

(Februar 07)