Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies

 

Ryszard Kapuściński hinterlässt die Welt im Notizblock

 

Von Christiane Thoms

 

Die ganze Welt interessierte ihn. Er lebte oft so wie die Menschen, über die er schrieb. Er schlief unter freiem Himmel oder in Bambushütten, in verlausten Betten und aß, was es eben an dem Ort zu der Zeit gab. Ryszard Kapuściński gehörte zu den glaubwürdigsten Journalisten, Reportern und Schriftstellern der Nachkriegszeit. In Polen nannte man ihn „Reporter des Jahrhunderts“, weil er mehr als 50 Jahre seiner Heimat Polen von der Welt berichtete. Man sagte über den am 23. Januar 2007 verstorbene polnische Schriftsteller auch, er hinterlasse „die Welt im Notizblock“.

 

Die ersten Auslandsreisen unternahm der 1932 im ostpolnischen Pinsk geborene  Kapuściński in den fünfziger Jahren, wo ihn seine erste Reise nach Asien führte. Nachdem er als Reporter bei der Konferenz der blockfreien Staaten auf Java berichtete, beendete er 1956 in Warschau sein Studium der Geschichte, um dann weiter nach China zu reisen. Bereits ein Jahr später wurde er Mitarbeiter der polnischen Nachrichtenagentur PAP und berichtete in deren Auftrag als erster Korrespondent aus Afrika, Indien, Südamerika und aus der Sowjetunion: er war 1957 in Accra, als Ghana  als erster Staat Westafrikas unabhängig wurde, er sezierte das Sowjetimperium und erkundete die unterschiedlichen Lebens- und Erlebniswelten der einzelnen Völker dort, er war in Äthiopien und schrieb über den Kaiser Haile Selassie sein bestes Werk „König der Könige“ (1984), das sich vor allem als Parabel über totale Herrschaft liest.

„Es war ein kleiner Hund, eine japanische Rasse. Er hieß Lulu. Er durfte im Bett des Kaisers schlafen. Während der verschiedenen Zeremonien sprang er vom Schoß des Kaisers herunter und pisste den Würdenträgern auf die Schuhe. Die Herren Würdenträger durften nicht zucken oder nur die kleinste Bewegung machen, wenn sie spürten, dass es in ihren Schuhen feucht wurde. Meine Aufgabe war es, zwischen den Würdenträgern herumzugehen und ihnen die Pisse von den Schuhen zu wischen. Dazu hatte ich ein Tuch aus Atlas. Das war zehn Jahre lang meine Beschäftigung. (...) Der Kaiser begann seinen Tag damit, dass er sich die Berichte seiner Informanten anhörte. Die Nacht ist die gefährliche Stunde der Verschwörung, und Haile Selassie wusste, dass die Ereignisse der Nacht wichtiger sind als das, was tagsüber geschieht. Am Tag hatte er alle im Auge, aber in der Nacht war das nicht möglich. (...) Unser weiser Herr war nicht gewohnt zu lesen. Für den Kaiser existierte das geschriebene und gedruckte Wort nicht, alles musste ihm mündlich vorgetragen werden. (...) Der mündliche Vortrag hatte den Vorteil, daß der Kaiser gegebenenfalls behaupten konnte, dieser oder jener Würdenträger habe etwas ganz anderes berichtet, als es der Wirklichkeit entsprach, und der Betroffene konnte sich nicht rechtfertigen, da er ja keinen schriftlichen Beweis in der Hand hatte. (...) Der Kaiser denkt nach. Das ist die Stunde, in der er sich Strategie und Taktik zurechtlegt, die personellen Kreuzworträtsel löst und die nächsten Züge auf dem Schachbrett der Macht vorbereitet. Er denkt über die Meldungen nach, die ihm seine Informanten gebracht haben. Es ist kaum etwas Wichtiges darunter, meistens denunziert nur einer den anderen. (...) Der Kaiser hatte alles im Kopf, die ganze geheime Kartothek der Machtelite.“

Details unter die Lupe genommen

Kapuściński war ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft, Journalismus und Literatur. Sein besonderes Interesse galt dabei den Entwicklungsländern, und so zog es ihn immer wieder an Krisenherde, wo er das Verhältnis der Menschen zum Staat und, wie er selbst einmal formulierte, die „Berührung von Mentalität und Politik“ zu beobachten versuchte. Von Krankheitsqualen blieb er nicht verschont und einem Erschießungskommando entkam er nur durch einen glücklichen Umstand. Dennoch vermochte ihn die Gefahr nicht davon abzubringen, im Detail Beobachtetes weiter unter die Lupe zu nehmen. Als unbestechlicher Augenzeuge von Revolutionen wurde er Held des Beobachtens, jedoch nicht Held der Revolution. Die Psychologie und Anatomie der Tyrannei war Kapuściński bereits aus der Heimat bekannt. Das Moment der Angst, das Unterdrücker und Unterdrückte miteinander verbindet, kannte er durch eigenes Erleben. Diese in der Nähe von Tätern und Opfern beobachteten symbiotischen Funktionsmechanismen von Willkür und Servilismus sind Werkzeug für sein zu entwerfendes Panorama der Geschichte und ihrer Winkelzüge.

Sowjetische Streifzüge in einem Riesenreich

Kapuściński hat sich nie dem Diktat der Aktualität unterworfen. In den Band „Imperium“ (1993) sind Erfahrungen und Erlebnisse aus rund fünfzig Jahren eingeflossen. Er reiste nach Stalins Tod als junger Journalist durch die ganze Sowjetunion und sah genau, woran sie gescheitert ist:

„Es sollte Workuta sein und Nacht, doch wir landeten bei Tag, im Sonnenschein. Folglich muß es ein anderer Flughafen sein. Welcher? Ich rutsche unruhig im Sessel hin und her, doch ich sehe bald, dass nur ich unruhig bin, die anderen zucken mit keiner Wimper. Ich habe in diesem Land vielleicht hunderttausend Kilometer mit dem Flugzeug zurückgelegt. Zwei Beobachtungen von diesen Reisen: Die Flüge sind immer ausgebucht - auf jedem Flughafen warten auf jeden Flug Scharen von Menschen, oft wochenlang, es ist also völlig undenkbar, daß irgendwann ein Sitz frei bleibt. Zweitens: Den ganzen Flug über herrscht in der Kabine Totenstille. Die Passagiere hocken reglos und schweigend in ihren Sesseln. Wenn man Lärmen, Lachen und Gläserklirren hört, heißt das, daß eine Gruppe Polen im Flugzeug sitzt: Aus unerfindlichen Gründen versetzt sie jede Reise in einen Zustand grenzenloser Euphorie, beinahe des Amoks. Ja, es ist nicht Workuta, es ist Syktywkar.

Ich weiß nicht, wo Syktywkar liegt, und habe vergessen, eine Karte mitzunehmen. Durch tiefen Schnee stapfen wir zum Flughafengebäude. (...) Sie stehen da und starren stur vor sich hin. Genau das: Sie stehen da und starren vor sich hin. Ihnen ist keine Ungeduld anzumerken, keine Beunruhigung, Verärgerung, Wut. Vor allem aber stellen sie keine Fragen. Vielleicht fragen sie nicht, weil sie alles wissen?

(...) Nach ein paar Stunden fliegen wir von Syktywkar nach Workuta (bis heute weiß ich nicht, was hinter diesem Zwischenstopp und dem sinnlosen, ermüdenden Warten steckte). Wenn man diese Strecke am Abend fliegt, erlebt man einen großartigen Kunstgenuß. Nachdem das Flugzeug eine Höhe von ein paar tausend Metern erreicht hat, gleitet es plötzlich hinter die Kulissen eines gigantischen kosmischen Theaters. (...) Ein leichter, pastellfarbener Vorhang, ein paar hundert Kilometer hoch, in gelben und grünen Farbtönen. (...) Wir sind schon über dem Flughafen, als das Polarlichttheater plötzlich verlöscht, von der Dämmerung verschluckt. Eine Temperatur von minus 35 Grad. Ich verspüre sofort die Kälte, die wütenden Bisse des Frostes, bekomme Probleme mit dem Atmen, Schüttelfrost. (...) Ich habe die Telefonnummer eines Menschen dabei, den ich treffen will. (...) Gennadi Nikolajewitsch, Bergarbeiter, ist eben fünfzig geworden und in die Pension gegangen. Diese frühe Pension ist das einzige Privileg, das einem für die Arbeit unter diesen schrecklichen polaren Bedingungen zusteht. Im übrigen ein eher zweifelhaftes Privileg, denn nur rund zwanzig Prozent der Bergarbeiter erreichen das fünfzigste Lebensjahr.“

Von den gemäßigten autoritären Regimes bis hin zu den paranoiden Willkürherrschaften ist Kapuściński im Verlauf seines Reisens einer großen Vielfalt von Systemen begegnet. Der unbestechliche Reporter Kapuściński interessierte sich jedoch für die Opfer und die Welt, in der Kriegserlebnisse die „normale Ordnung“ des Lebens einfach wegblasen. In seinen Texten sehen wir die dünne Kruste der Zivilisation in ihrer Zerbrechlichkeit. Das Böse lauert überall und kann urplötzlich in Erscheinung treten. Gerade deshalb ist es verwunderlich, dass dramatische Gesinnungswechsel und Metamorphosen den Reiseführer Kapuściński dennoch lächeln lassen. Er weist in seinen Texten immer wieder die unbeständige Beschaffenheit nach, begleitet den Revolutionär auf dem Weg zum Sieg und weiter in die Diktatur, an deren Spitze jener dem gestürzten Vorgänger mehr denn je ähnelt.

Irgendwo zwischen Reportage und Erzählung

Alles Streben des Autors galt der Entstehung von historischen Büchern und Texten über gestürzte und nicht gestürzte Zeitgenossen. Als Korrespondent und Beobachter ist er in die Figuren seiner Protagonisten hineingekrochen und hat diese aus dem Blickwinkel ihres Endes betrachtet. Da die Grenze zwischen Reportage und Erzählung in seinen Texten immer wieder und immer mehr verschwand, geriet er deswegen oft in Konflikt mit der offiziellen Informationspolitik Warschaus.

Die metaphorische Essayprosa von Ryszard Kapuściński ist ungekünstelt und im Detail ausgefeilt, jedoch leere Verweilpausen existieren in seinen Dokumenten nicht. Obwohl  Analyse und Deskription voneinander nicht trennbar sind, kann man selbst in den nachdenklichen Beschreibungsmomenten die Ironie des Autors ganz genießen. Kapuściński versucht vergebens, sich hinter den Tatsachen zu verbergen. Auch wenn er damit anzudeuten versucht, dass nicht er es  ist, der da spricht, sondern jener andere, ist die Prosa nicht frei von der Verantwortung, die dem Schreibenden auferlegt wird. Die Disziplin des Korrespondenten ist ihm dabei im Weg.

Der Reporter bleibt ein Einsamer

Ein Emigrant ist Ryszard Kapuściński nie geworden. Obwohl sein Weg ein einsamer gewesen ist, stand er mit beiden Füßen auf dem Boden seiner Heimat und beobachtete mit Augen und Verstand als subversives Material den Kampf von vier Fünfteln der Menschheit. Es reizte Kapuściński immer wieder, den aufgestöberten Stoff aus seinen Notizblöcken aufzuarbeiten.

Dennoch sieht Kapuscinsi den Reporter als einen, der zwischen den Kulturen schwebt, die er übersetzt. Er stellt sich immer wieder die Frage, „wie weit kann ich in eine andere Kultur eindringen, diese kennen lernen, da sie doch aus internen, geheimen Codes besteht, die wir, die Ankömmlinge aus einer anderen Welt, nicht entziffern und begreifen können“.

Vielleicht hat sich Kapuściński  mit seinem letzten Buch „Meine Reisen mit Herodot“ (2005) als Hommage an sein großes Vorbild, den antiken Reporter Herodot, diese Frage selbst beantwortet. Da gab es einen von Neugier und Wissensdurst Getriebenen, der aufbrach, die Grenzen der bekannten Welt auszuloten, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören. Kapuściński war wie Herodot kein Händler, Spion, Diplomat oder Tourist, sondern Reporter, Ethnograph und Schriftsteller, der stets ein treuer Begleiter seiner selbst war und die Erde als ein gewalttätiges Paradies erfahren hat.