„Dark Wave – Im Flug der Libellen“
Streetfilming in den Partnerstädten
Danzig, Riga
und Bremen
Von Reiner Matzker
Kleines Equipment, zwei Kameras, Beleuchtung, Tonangel. Schnelle Arbeit
im Live-Geschehen, live vor Ort. „Dark Wave – Im Flug
der Libellen“ erzählt die Geschichte einer ungleichen Freundschaft. Mike kommt
aus der autonomen Punk-Szene und lebt als Musiker mit seiner Freundin in einer
Fabriketage. Detlev ist der Sohn eines Fabrikanten und hat erst vor kurzem
dessen Firma übernommen. Beide schätzen, ohne sich dessen bewusst zu werden, am
anderen das, was sie an sich selbst zu vermissen glauben. Beide versuchen
einander zu helfen. Detlev ist um die Karriere der Punk-Band von Mike bemüht,
Mike um Detlevs psychischen Zustand, der sich verschlechtert, als die soeben
bei Detlev eingezogene Freundin ihn verlässt.
Im August 2003 lag ein rohes
Konzept für den Film „Dark Wave – Im Flug der
Libellen“ vor. Als es kälter wurde, im November, begannen wir mit den Dreharbeiten.
Mike Rüschoff, ein Musiker aus der Bielefelder
Punkszene, übernahm eine der männlichen Hauptrollen, die andere Carsten Meeners, ein Darsteller aus dem „Theater der Versammlung“.
Die Kamera bedienten Jörn Brinkhus und Gerrit
Schröder. Bremen befand sich im Bewerbungsprozess um den Titel
„Kulturhauptstadt 2010“. Studierende der Bremer Universität entwickelten Ideen
und Vorschläge für das Kulturhauptstadt-Team. Zwei Studentinnen stellten ihre
Idee in Form eines Tanzes vor. Im Grunde löste dieser Tanz die Dreharbeiten
aus. Wir filmten die beiden Tänzerinnen an einem sonnigen, aber kalten Tag im
Spätherbst. Wir filmten mit der Steady Cam in den Ballettstudios der Universität, während die
Sonne durch die Oberlichter blinzelte. Es entstand die Idee, den gleichen Tanz
auch draußen, am Gröpelinger Hafenbecken zu filmen.
Die Tänzerinnen willigten ein. Wir fuhren bis zum Kai und machten die Aufnahmen
in schönstem Herbstlicht ...
Kein Drehort in Bremen war zu
ausgefallen. Es galt, Unterhaltungselemente und städtische Dokumentation
miteinander zu verbinden. Das Hallenschwimmbad in Walle war durch ein
Warmwasserbecken nach außen geöffnet worden. Bei Minusgraden lag Dunst über dem
Wasser. Das Becken war beleuchtet. Wir nahmen erste Dialoge der Freunde Mike
und Detlev in diesem Becken auf. Wir filmten in Fabriketagen, auf dem
Flughafen, in Geschäften, Cafés, auf Schiffen, im Botanischen Garten, in
Parkanlagen und Hotels, auf Sportplätzen, in Werkhallen etc. Und wir filmten
auf den Straßen. Ein kleines, innerstädtisches „Kammerspiel“ nahm Form an.
Doch zunächst entstand kein Film,
sondern eine Art Werkschau, ein „Trailer“ mit einer Länge von achtzehn Minuten.
Der Tanz der beiden Tänzerinnen, die Außen- und Innenaufnahmen miteinander
verschnitten, war das Kernstück dieses Trailers. Den Rahmen bildeten ein paar
Dialoge, in der Küche des Güterbahnhofs, vor dem Parkhotel, in der
Billardkneipe, im Maisfeld. Wir zeigten das Fragment im Rahmen der
Veranstaltung „Sinnessachen. Ästhetik der Wissenschaften“ im Januar 2004 im
Neuen Museum Weserburg. Im Saal wurde es still ...
Für das Filmprojekt jedoch ergab
sich eine Zwangspause. Jörn Brinkhus an der Kamera
und am Schneidetisch konnte seine Arbeit wegen beruflicher Veränderungen nicht
fortsetzen. Förderungsanträge blieben erfolglos. Das Bremer Filmbüro lehnte die
Arbeit kategorisch ab. Wir fanden schließlich Projekthilfe aus Mitteln des
Kulturhauptstadtfonds. Die Filmarbeit sollte in den Bremer Partnerstädten
Danzig und Riga fortgesetzt werden. Die Unternehmen Professional Media Service,
TheSign und Xperiafilm
sicherten ihre Unterstützung zu. Kathrin Ennen wurde
als Cutterin empfohlen, und Gerhard Molkenthin (Xperiafilm) übernahm nun seinerseits die Kameraarbeit. Ihn
begleiteten die Kameraassistentinnen Yvonne Wolzien
und Steffi Guddat. Wir schlossen die in sich reifende
Filmarbeit mit einem ruhigen, ausgeglichenen Team ab. „Dark
Wave – Im Flug der Libellen“ wurde im Juli 2005 voraufgeführt.
Premiere war im Dezember desselben Jahres im Bremer Kino Schauburg.
Im August und September 2005
wurden in jeweils kleinen Teams die Dreharbeiten in Danzig und Riga
fortgesetzt. Wichtig war es, den hanseatischen Geist, das hanseatische Flair
der Partnerstädte aufzuspüren. „Der Geist der Städte“ hießen die drei Teile der
Trilogie.
„Der Geist von Danzig – Duch Gdańska“. In Gdańsk
fand ein breit angelegtes Stadtgespräch statt. Schauspieler aus „Dark Wave – Im Flug der Libellen“ (Mirja Ehlers und Mike Rüschoff) begegneten unterschiedlichen Personen, teils an
besonderen, von den Einzelnen ausgesuchten Orten. Aber auch zufällige
Begegnungen fanden statt, mit einer Ordensschwester, dem Inhaber eines
Künstlercafés, Bauarbeitern, einer Servicekraft in einer Kantine und Passanten.
Man spricht über den Geist der Stadt, Partnerschaften und
Städtepartnerschaften. Es äußern sich der Künstler und Professor für Neue
Medien Grzegorz Klaman und Aneta
Szylak, die Direktorin der „Fundacja
Wyspa Progres“ auf dem
Werftgelände und in einem Park in Wrzeszcz (Gdańsk)
die bildende Künstlerin und Kuratorin Agnieszka Wołodzko.
Es tanzen vor der Kirche des hl. Jan (Kościól św.
Jana) in der Altstadt Joanna
Czajkowska und Jacek Krawczyk vom Teatr Okazjonalny. Die Jazzgruppe “Niebieski Lotnik” spielt im “Teatr Leśny” (Wald-Theater).
Ihr Bandleader Wojciech Mazolewski beschreibt den
Geist seiner Stadt.
Die Voraufführung des Films im
Juni 2006 löst im Foyer der Bremer Schwankhalle heftige Reaktionen aus. Der
Film sei ein Propagandawerk der achtziger Jahre: ungeheuerlich. Es wurde
übersehen, dass der Film nur Meinungen vermittelt, keine eigene politische
Aussage enthält. Selbst die Konstellation der Beiträge ergab sich eher
zufällig. Vermittelt werden Standpunkte jüngerer und auch älterer Menschen im
heutigen Gdańsk. Der in den neunziger Jahren sich vollziehende Bedeutungsverlust
der Solidarność wird nur am Rande und höchstens indirekt
thematisiert. Dennoch betrachtet man den „neoliberalen“ Wertewandel mit Unbehagen.
Das kritische Erbe der Werftarbeiter steckt in den neuerlichen Kulturbemühungen
auf dem Werftgelände. Grzegorz Klamann zeigt uns eine
leere, unbebaute Fläche auf dem Gelände. Dies sei seine Lieblingsstätte, ein Ort der Zukunft ... Städtepartnerschaften steht man eher
skeptisch gegenüber. Sie förderten zwar kulturelle Prozesse, dies allgemeiner
oder oft jedoch nach Vorstellungen der Kulturverwaltungen. Bremen habe sich
selten so stark für die Partnerstädte interessiert wie zu Zeiten der
Kulturstadtbewerbung. Und über Partnerschaften wollen einige schon gar nicht
sprechen.
„St. Peter – Riga“. “Sie herzte
sanft ihr Spielzeug, bevor sie es zerbrach. Und hatte eine Sehnsucht. Und
wusste nicht wonach.“ Der erste Eindruck in Riga war eine Schlägerei auf
offener Straße, am Sonntagnachmittag. Es war ein innerstädtisches Ballett mit
eigener Komposition geplant. Die Musik eines Komponisten aus Riga (Armands Strazds) und ein ebenso poetischer wie stadtmythologischer
Text (aus dem Off) sind Grundlage einer kleinen Choreographie für die Tänzerin
aus dem ersten Teil der Trilogie. In den Hallen des Dünamarktes
werden wir während der Dreharbeiten bewacht. Hier ist Filmen und
Photographieren strengstens verboten. Die Tänzerin (Evelyna
Braun) im lachsfarbenen Kleid zwischen den Marktständen wird mit Erstaunen oder
auch argwöhnisch betrachtet. Auf dem Rathausplatz begleiten sie Tänzerinnen und
Tänzer der Latvian Academy
of Culture (betreut von Ramona Galkina)
sowie aus dem Kreis der Olga Zitluhina Dance Company.
Topographische Bezüge innerhalb der Stadt werden ebenfalls durch einen Sprecher
hergestellt. Der Hauptdarsteller des ersten Teils der Trilogie (Carsten Meeners) paraphrasiert im On an charakteristischen Orten
die Stadtgeschichte Rigas.
Die Videoproduktionen sind als
Experiment der Vermittlung zwischen Kunst, Wissenschaft und Entertainment zu
verstehen. Für die an den Produktionen beteiligten Studierenden werden
paradigmatisch Lernprozesse im Zuge einer bildästhetisch,
inhaltlich, dramaturgisch und technisch angestrebten
Professionalisierung ausgelöst. Das Projekt „wagt“ eine neue Form der
inhaltlich-ästhetischen Auseinandersetzung mit Städten und ihrer
Lebensqualität. Das Bild der Städte wird nicht in reizlosen Dokumentationen
entworfen, sondern durch möglichst reizvolle, auch überraschende und spannende
narrative Verdichtungen.
Die Teile der Trilogie insgesamt
werden in geplanten Veranstaltungen der Partnerstädte Danzig, Riga und Bremen
vorgeführt. Premiere war am 29. Oktober 2006 im Kino Schauburg in Bremen.
http://underdogfilmfest.org/2007/filme/einreichungen/