Kalter Krieg um die Geschichte

Ohne Zorn und Voreingenommenheit

Mit dem Historiker Professor Wojciech Roszkowski spricht Piotr Mucharski

 

Wojciech Roszkowski ist Professor für Geschichte und Herausgeber mehrerer Bücher zur politischen Geschichte. Er war Mitglied der Gewerkschaft Solidarność (1980-1993) und Vorsitzender des Solidarnoœæ-Kreises an der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft der Hochschule für Handel (1980-1981). Heute ist er parteilos, seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments über die Liste von PiS.

 

Piotr Mucharski: Prof. Roszkowski, Sie sagten in der Zeitung "życie Warszawy" in Bezug auf die in den IPN-Akten gefundene Notiz [aus den späten 1980er Jahren-w.s.] vom polnischen Geheimdienst (SB), die das Gespräch mit Jacek Kuroń betrifft, dass "es wichtig war, dass der Geheimdienst solche Verhandlungspartner auswählte und nicht andere". Bedeutete es, dass sich der Geheimdienst Herrn Kuroń als zukünftigen Verhandlungspartner am Runden Tisch auswählte?

Wojciech Roszkowski: Das ist absurd. Niemals wäre mir eine solche Meinungsäußerung in den Sinn gekommen.(...)

Daten und Mythen

 

Was bedeutet nun tatsächlich für Sie diese Notiz?

(...) Ein Historiker muss in diesem Fall einige Fragen beantworten können: Ob diese Notiz die Wahrheit über jene "Verhandlungen" widerspiegelte und ob Kuroñ das Richtige tat, indem er einen Monolog führte, der - wie es Prof. Andrzej Paczkowski formulierte - zu einem Dialog führen sollte. Bei der zweiten Frage kann ein Historiker so seine Zweifel haben. Sogar angesichts der Autorität von Jacek Kuroń wäre ein solcher Monolog nicht wirksam gewesen. Die ihn verhörenden Geheimdienstmitarbeiter führten doch nur den Willen der Parteiführung aus. Hätte das Gespräch General Kiszczak geführt, dann wäre das etwas anderes. Aber der verhörende Geheimdienstmitarbeiter war nur das Ohr des Machtsystems. Der Standpunkt Kurońs war im Übrigen bekannt; es handelte sich also vielmehr um das Sondieren seiner Bereitschaft zum Kompromiss. Unter anderem deswegen hielt sich ein Teil der Opposition dezent zurück und sagte nichts. Natürlich nicht, weil sie größere Helden als Kuroń waren. Es war einfach taktisch besser, diese Kompromissbereitschaft nicht zu offenbaren.

 

Hätte Kuroń die Geheimdienstmitarbeiter nicht  als Ohr der Partei gesehen, hätte er denen sicherlich nichts gesagt. Wenn jedoch dort Kompromissbereitschaft gezeigt wurde, so ist es deutlich ein grenznaher Bereich. Ebenso an unserer Auseinandersetzung sieht man, dass es tatsächlich um politische Kontroversen geht, das heißt es geht um den Anfang der III. Republik Polens…

Das ist richtig. Eine Kontroverse - obwohl nicht unbedingt eine politische - betrifft die Notiz aus dem Jahre 1988, in der Kuroń angeblich die Ausschließung des radikalen Teiles der Opposition aus den Gesprächen mit den Führungsorganen suggeriert haben soll. Natürlich bleibt die Frage, ob diese Notiz wirklich den Willen von Kuroń widerspiegelt. Ein Historiker sollte das untersuchen. Wir sollten uns nicht gekränkt fühlen - es ich doch keine harmlose Information. Der Teil der Opposition, der bis zum Runden Tisch die Führung inne hatte, behauptete bis jetzt nämlich, dass es keine geheimen Verständigungen gab und dass die Wałęsa-Gruppe aus sich selbst heraus entstand.

Meine Frage als Historiker ist die: Wer wählte die Verhandlungsrepräsentanten aus und warum gerade diese? Der Runde Tisch war die Verständigung der Eliten. Die Frage des Historikers gilt jedoch nur der Art und Weise wie diese entsteht. Piłsudski schloss die Nationale Demokratie [d.h. die Endecja - w.s.] aus der Gründung der II. Republik Polens nicht aus.

 

Wie es scheint, konnten die Radikalen an den Gesprächen nicht teilnehmen, weil ihr Radikalismus darauf beruhte, dass sie nicht mit der kommunistischen Obrigkeit sprechen wollten.

Nicht wir, sondern sie sollten darüber entscheiden.

 

Antoni Dudek führt ein weiteres Argument ein. Er behauptet, dass die radikalsten Kreise am stärksten durch die Geheimdienstmitarbeiter unterwandert waren …

Trotzalledem, wenn wir eine Mannschaft zusammenstellen, die im Namen der Solidarność-Mitglieder verhandeln soll, also im Namen des Teiles der Gesellschaft, der nach Unabhängigkeit und Demokratie strebt, dann sollten ihre Mitglieder deren Zusammensetzung widerspiegeln. Schon 1980 war bei der Zusammenkunft der Solidarność zu sehen, wie tief sie gespalten war. Die Bürgergesellschaft entstand erst und ihre Repräsentation war für die Rolle des Organisators eines neuen Staates noch nicht vorbereitet. (...)

 

Die Aggressiven in dieser Frage sind jedoch nicht die Kaczyński-Brüder. Vielleicht deshalb, weil die Brüder selbst mit am Runden Tisch saßen.

Am Lautesten ist die LPR, die es damals noch nicht gab. Möglicherweise waren "die echten Polen" bei der Zusammenkunft der Solidarność 1981 schon am Keimen. Eine andere Sache ist, dass die Familie Giertych sich nicht sonderlich eignet für das Beispiel einer demokratischen Opposition.

 

Es scheint, dass damals diese Auseinandersetzung offen und direkt geführt wurde (insofern vor Juni 1989 die Öffentlichkeit überhaupt möglich war). Wer also kann Ihrer Meinung nach, Herr Professor, einen Groll empfinden, dass er am Runden Tisch fehlte?

Die katholisch-konservative Elite war damals sehr schwach, aber man kann nicht  leugnen, dass so ein Teil des Elektorats in Polen existierte und noch existiert. Zweifellos fehlten die Nachfolger der Endecja. (...)

Aber ich stimme der These nicht zu, dass wir es heute mit der zweiten Revolutionswelle zu tun haben, weil diejenigen, die am Runden Tisch nicht teilgenommen haben, plötzlich wieder einen guten Platz in der Geschichte besetzen wollen. Das wäre eine Überinterpretation.

 

Wir streiten uns um Motivation und Intention derjenigen, die den Sinn des Runden Tisches beanstanden. Am Wichtigsten ist jedoch, dass in diesem Zusammenhang das Wort "Verrat" fällt, und nicht die Vorwürfe, dass man übergangen wurde. Für die andere Seite war es der einzige vernünftige Ausgang und ein Sieg des politischen Realismus in der polnischen Geschichte, der selten vorkommt.

Bei den Auseinandersetzungen am Runden Tisch geht es um etwas mehr. Es geht um den Gründungsmythos der III. Republik Polens. Für die einen ist es der Mythos um den Runden Tisch, also die Verständigung der Eliten. Ich lasse mich auf die Frage ein: Warum wurde nicht der 4. Juni zu diesem Mythos? Die ersten freien Wahlen waren doch ein Beweis für die Ablehnung des Kommunismus durch die Gesellschaft. Zur Senatswahl, die absolut frei war, erreichte die Opposition 99% der Mandate, die PZPR erhält keine Plätze. Am 4.Juni sprach das Volk.

Wenn wir über die III. Republik Polens reden wie über einen Demokratischen Staat, so würde ich bevorzugen, dass der Gründungsmythos auf den 4.Juni gelegt wird und die Tatsache, dass das Volk den Kommunismus abgeleht hatte. Am Runden Tisch bestimmten die Eliten nur die Kompromissbedingungen.

 

Man weiß doch, dass die Kommunisten am Runden Tisch Jacek Kuroń und Adam Michnik nicht treffen wollten. Für die Macht waren sie besessene Radikale…

Ich würde mich dieser Deutung nicht anschließen. Ich weiß nicht, ob die Losung, dass man mit Kuroń und Michnik nie sprechen könne, nicht nur eine Luftblase war. Indem ich das sage, beschuldige ich weder Kuroń noch Michnik, dass ihr Handeln Polen geschadet habe. Das wäre absurd. Es scheint einfach nur so, dass von den Oppositionsführern diese beiden nach 1986 tatsächlich der Ansicht waren, dass man einen Kompromiss suchen sollte. Das ist keine  Bewertung, sondern nur Tatsachenfeststellung.

 

Umkämpfte Geschichte

 

Man muss aufpassen, dass die gerade stattfindende Geschichtsdebatte nicht auf subtile Weise die Geschichte und die aktuelle Politik voneinander trennt. Die Geschichte wird heute eher dazu genutzt, politisches Kapital aus ihr zu schlagen.

(...) Fundamental ist die Frage der Redlichkeit - sowohl gegenüber der Geschichte als auch in der Politik.

Wenn man sich der Notizen über Jacek Kuroń instrumentell bedient, um auf einen Teil des heutigen politischen Spektrums einzuschlagen, oder auch umgekehrt, wenn man meint, dass die Forderung nach einer Analyse bereits intellektueller Verrat bedeutet, so haben wir es mit einem Missbrauch zu tun. Dass die Emotionen hier hochgehen, ist wohl nicht zufällig. Geht es doch um - wie wir sagen - den grundsätzlichen Streit über die Ursprünge der III. Republik. Die einen Gruppen verteidigen die Szenerie so wie sie ablief als alternativlos. Dagegen meinen andere, dass die schrittweise, sehr behutsame Übergabe der Macht ein unnötiges Zögern und Zaudern bedeutete. Und auch sie haben ein Recht auf ihre Meinung, solange sie nicht die Wörter wie "Verrat" oder ähnliche Beschimpfungen gebrauchen.

Ich gebe zu, dass ich mich als Historiker unter denen befinde, die meinen, das Jahr 1990 sei bezüglich des Umbaus des Systems ein verlorenes Jahr gewesen. Nach 16 Jahren Geschichte der III. Republik scheint es mir, dass die politische Chance, die die Auflösung der PVAP bedeutete, nicht genutzt wurde. Im Januar dieses Jahres verschwand der Partner der Opposition am Runden Tisch von der politischen Szene. Unter den Mitgliedern der PVAP herrschte Panik. Und ich denke, wenn die Politik unserer Regierung zielstrebiger gewesen wäre, so wäre die Transformation schneller geschehen und wir hätten es heute nicht mit dem allgemein verbreiteten moralischen Katzenjammer zu tun. Es hätte sich zügiger eine normale politische Szene herausgebildet: die Linke - ein Zentrum - die Rechte. (...) Es ist gut möglich, dass sich dann die Wirtschaftsoligarchie, die sich aus alten Seilschaften gebildet hat, nicht so stark hätte festsetzen können und Personen aus den ehemaligen Geheimdiensten eine geringere Rolle spielen würden.(...)

 

(...) Das Problem liegt darin, dass man so eine Sprache in der Öffentlichkeit nicht hört. Ich höre Targowica und Radziwiłł….[symbolhaft für den Verrat der polnischen staatlichen Eigenständigkeit - w.s.]

So eine Sprache würde ich nie gebrauchen. Hier liegt der Fehler unseres Diskurses. Anstatt zu sagen, dass diejenigen, die den Kompromiss am Runden Tisch eingingen, so und so kalkulierten, diese und jene Berechnung dabei hatten, bestimmte Erfolge, aber auch Misserfolge vorzuweisen haben, beginnen wir den Runden Tisch als heilige Sache der historischen Vorsehung zu behandeln, ohne die es eine Katastrophe gegeben hätte.

 

Oder als Gipfel des Verrats.

Einverstanden. So eine Geschichte ist nicht so sehr politisiert, sondern umkämpft. Man gebraucht nicht das Wort "Kosten" oder auch "Fehler", sondern nur Worte wie "Verrat". Aber genau spiegelbildlich gebraucht die andere Seite "alternativlose Entwicklung" oder "Besessenheit". (...). Wir müssen darüber nachdenken, ob die Zeit nach 1989 zu Gunsten der Gesellschaft oder zu Gunsten der vorher Herrschenden gearbeitet hat. Hierauf habe ich keine abschließende Antwort, aber man darf die Grenze nicht verwischen.

Bis vor kurzem schien es mir, dass die Zeit zu Gunsten der Gesellschaft gearbeitet hätte. (...) Aber - ich wiederhole - die Erhebung des Runden Tisches zu einem quasi sakralen Symbol oder aber zum Symbol des Verrats erstickt die Debatte und schüchtert die Diskussionsteilnehmer ein. In solch einer Atmosphäre ist man entweder eine Schwarze Hundertschaft oder ein Verräter an der Nation.

Lustration - wie sie wirklich durchgeführt wurde

 

Die Rhetorik für die IV. Republik erzwingt diese Radikalisierung des Streites. Wenn wir annehmen, dass eine IV. Republik notwendig ist, oder auch sonst ein irgend wie gearteter "Neuanfang", so heißt das, dass die III. Republik von Grund auf verdorben war…

Für eine solch drastische Schlussfolgerung besteht keine Notwendigkeit. Man schreibt den Kaczyński-Brüdern einen radikalen Umgang mit der III. Republik zu, ich habe jedoch den Eindruck, dass, wenn man alles zusammen betrachtet, was sie zu dem Thema gesagt haben, eher ein sehr gemäßigtes Bild entsteht. Man kann ihnen ja auch nicht vorwerfen, dass sie Kuroń nicht verteidigt hätten.

Die III. Republik stützte sich auf die stillschweigende Übereinkunft, dass die Kommunisten ihre Mitschöpfer seien. Deshalb haben wir keine wirkliche Zäsur zu Beginn der III. Republik, deshalb vergaßen wir den Streit über den Charakter der Volksrepublik, ob sie ein vollständig eigenständiger Staat war oder nicht. Die staatliche Kontinuität hat seine Rechtsfolgen auch international, aber mir geht es dabei eher um die Herausbildung eines nationalen polnischen Bewusstseins. Was für einen Staat hatten wir zu Beginn der III. Republik? Das sollte ein souveräner, demokratischer Staat sein. Aber trotz unzweifelhafter Erfolge haben wir zu viele Missstände, über die übrigens auch die Anhänger des Runden Tisches schreiben.

Der Kapitalismus im Westen entstand in Folge von Innovation, Erfindungsgeist, Energie, guter Organisation und Konkurrenzkampf, und nicht ausschließlich durch Privatisierung auf der Basis von staatlichem Eigentum, d.h. durch den sprichwörtlichen Raub von Millionen. Natürlich ist das eine starke Vereinfachung und beleidigt alle, die durch ehrliche Arbeit reich wurden, aber dass diese Vorstellung weitgehend allgemein verbreitet ist, würde ich nicht dem polnischen Egalitarismus oder als Pendant dazu dem "homo sovieticus" zuschreiben, sondern sie stützt sich auf spektakuläre Tatsachen, die auch durch die Medien verbreitet wurden. Diese sprichwörtlichen "Nomenklatur-Unternehmen" [d.h. Unternehmen, deren Besitzer aus der alten Nomenklatur stammen und durch ihre Position Ende der 1980er Jahre den besten Zugriff auf das Staatseigentum hatten - w.s.] sind schließlich keine Einbildung. Diese sichtbaren Fakten prägen dermaßen das Gerechtigkeitsgefühl der Polen, dass sie verallgemeinernd auf den gesamten polnischen Kapitalismus übertragen werden. (...)

Ich denke, dass die IV. Republik als Losung notwendig war, weil zu Beginn des 21. Jahrhunderts das öffentliche Leben bis zum Hals im Sumpf steckte.

 

Herr Professor, sie benutzen diese Rhetorik möglicherweise zu leichtfertig. Was kann man nach Meinung von PiS von der III. Republik retten? Nur die Zeit, als Jan Olszewski regierte - sagt man dort.

Ich verteidige die Art und Weise nicht, wie Premier Olszewski die Lustration durchführen wollte, denn sie geschah in einem chaotischen Kampf um die Macht. Aber es ist schade, dass damals keine Lustration durchgeführt wurde und der Staatsapparat nicht von den Leuten gesäubert wurde, die während der folgenden 13 Jahre mit Haken und Ösen arbeiteten, d.h. die [Geheimdienst-]Akten benutzen, nur um zu verschleiern und abzulenken. Denn die Lustration fand ja statt, aber nur selektiv. Die Geheimdienste regierten auf ihre Art Polen. Gerüchte an die Presse, Druck auf Geschäftsleute… (...)

 

Aber wir haben immer noch keine belastbaren Beweise.

Könnte es daran liegen, dass die Geheimdienste geheim sind? Geheimdienste sind in jedem Staat notwendig, sie müssen effektiv sein, aber sie müssen Werkzeug des Staates sein, und nicht ein Körper, der den Staat an der Nase herumführt.

(...) Gleichgültig, welche Nummer uns für die Republik näher liegt, aber damit dürfen wir uns nicht abfinden.

Anders ausgedrückt: Als Kritiker der III. Republik muss man nicht gleich ein Besessener sein, der eine Revolution und Lustration sowie die Menschen ohne Urteil ins Gefängnis werfen will. Wichtig ist, ob er aus Sorge um die Gestalt des Staates so handelt oder ob er nur Losungen verteidigt und dem anderen die schlimmsten Absichten zuschreibt.

 

Herr Professor, sie sind Politiker und Historiker. Es drängt sich nun die Frage nach einer Geschichtspolitik auf. Darf es so etwas im Rahmen unseres innerstaatlichen Handelns überhaupt geben?

Ich verstehe die Kontroverse hierüber überhaupt nicht. Bewertungen der Geschichte, v.a. der jüngsten Geschichte, sind unterschiedlich. Ich bin Autor eines Lehrbuches für Geschichte, das ich zusammen mit Anna Radziwi³³ geschrieben habe, von der ich mich in vielen historischen Bewertungen unterscheide. Trotzdem gelang es uns, unsere Meinungen in einem Buch zu platzieren. In einem Lehrbuch darf man die Schüler nicht zur Annahme einer einzigen Geschichtsversion zwingen, sondern man muss sie zum Nachdenken anregen. Das war der gemeinsame Ausgangspunkt von Frau Radziwi³³ und mir.

Geschichtspolitik muss - wie ein gutes Lehrbuch - historisches Verständnis lehren. Aber sie muss auch Kriterien für die Bewertung lehren und bewusst machen, dass es allgemeine Kriterien gibt. Sie sind vor allem moralischer Natur - ich meine das, auch wenn es fundamentalistisch klingt. Bewerten wir Hitler negativ, nur weil er verloren hat? Damit wären wohl nur wenige einverstanden.

 

Ich verstehe das, was Sie, Herr Professor, sagen, als Ausgangspunkt für eine Geschichtspolitik…

Schon allein als Autor eines Lehrbuches betreibe ich Geschichtspolitik. Ob sie gut oder schlecht ist, ist zu beurteilen nicht meine Sache. Ich bemühe mich, dass sie gut wird und junge Menschen befähigt, wertbezogen zu urteilen. Jeder von uns wächst mit einem bestimmten Geschichtsverständnis auf. Wenn er die Geschichte nicht versteht und sie nicht bewerten kann, ist er ein schlechter Bürger. Aber das hat überhaupt nichts mit einem Zwang zu einer einheitlichen, einzig richtigen Vorstellung zu tun, denn hier kommt man in die Sphäre der Wahrheit. Es gibt nur eine Wahrheit - manchmal ist sie offensichtlich, manchmal weniger, aber es gibt viele Ausgangspunkte sie zu sehen. Die Aussage, es gäbe keine historische Wahrheit oder jeder hat seine eigene, beendet jede Diskussion. Das Gespräch wird sinnlos oder man ordnet es einer aktuellen Taktik unter.

Wunderbar. Aber unser Erziehungsminister hat als Person die historische Vorstellung, dass der Runde Tisch mit Targowica gleichzusetzen ist und man Kuroń den Orden des Weißen-Adlers aberkennen müsse. Wie gefällt ihnen diese Vorstellung von Geschichtspolitik?

Wenn Herr Minister Giertych anordnen würde, den Geschichtsunterricht im Sinne dieser Geschichtsvorstellung zu verändern, wäre ich der erste, der das zwischen uns liegende Tischtuch zerreißen würde. Er darf als Minister solch eine Meinung nicht in Lehrbüchern durchsetzen.

 

Der Dschinn der Akten

 

Der Terminus "Geschichtspolitik" bedeutet eine Politisierung. Wir haben in Polen nur eine Parteipolitik.

Aber diese Politik existiert! Ich meine, so wie es eine Staatsräson gibt, so gibt es ebenfalls ein reales nationales Interesse an der Unterrichtung der Geschichte Polens. Mit welchem Ziel das geschehen soll, ist eine offene Frage. Zur Herausbildung einer Bürgergesellschaft? Zur Redlichkeit im öffentlichen Leben? Bestimmt. Ist das eine parteigesteuerte Ausbildung? Ich denke nicht. Ich kann mir kein Lehrbuch vorstellen, das beweist, dass der Runde Tisch Verrat bedeutete, aber ich kann mir auch keins vorstellen, in dem der damalige Kompromiss nicht hinterfragt wird. In jedem anderen Falle wäre das ein dummes Lehrbuch.

 

Stimmen Sie der Meinung des Leiters des IPN, Janusz Kurtyka, zu, dass die Akten des SB eine Neuschreibung der jüngsten Geschichte Polens erfordern?

Ich kenne die Archive nicht gut, denn ich habe im IPN nicht gearbeitet. Aber selbst wenn man annimmt, dass dort sehr viele Informationen vorhanden sind, die etliche bisherige Vorstellungen von uns erschüttern werden, denke ich, dass das Urteil von Präses Kurtyka übertrieben ist. Sicherlich werden Lücken ergänzt, einige Personen können vom Sockel gestoßen werden, einzelne Prozesse können etwas anders erklärt werden, aber die Geschichte wird sich, so wie wir sie kennen, bestätigen.

Meiner Meinung nach hätte das IPN zu Beginn der 90er Jahre gebildet werden müssen. Wenn es damals gegründet worden wäre, hätten wir möglicherweise viele unangenehme Ereignisse vermieden. Das Wissen, das sich in diesen Akten befindet, verhält sich wie ein Dschinn, der früher oder später der Flasche entkommt. Ein Rechtsstaat darf nicht auf solch einem Pulverfass sitzen. (...)

Aber durch die Akten wird man die komplexe Welt nicht verstehen. Ein übertriebener Glaube in die Wirklichkeit aus den Akten ist typisch für die junge Generation und für radikale Menschen. Ich möchte an sie appellieren, das Handwerkzeug der Historiker anzuwenden. (...) Man kann nicht blind einer Quelle folgen.

 

Bez gniewu i uprzedzenia, Zimna wojna historyczna. Z profesorem Wojciechem Roszkowskim, historykiem, rozmawia Piotr Mucharski, aus: Tygodnik Powszechny vom 1.10.2006; wir danken für das Nachdrucksrecht in eigener Übersetzung. Das Interview wurde leicht gekürzt. Übersetzung: Christiane Thoms, Berlin und Wulf Schade, Bochum.