Polen will Sicherheit durch Partnerschaft

 

Am 29.11.2006 hat der neue polnische Botschafter in Berlin, Dr. Marek Prawda die Vorsitzenden der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V., Prof. Dr. Christoph Koch und Dr. Friedrich Leidinger sowie den POLEN und wir Redakteur Karl Forster, zu einem Gespräch empfangen. Im Anschluss daran gab der Botschafter ein Interview, das im folgenden dokumentiert ist.

 

POLEN und wir: Herr Botschafter Dr. Prawda, Sie treten Ihr Amt in einer kritischen Situation an: Die Welt ist nicht in der besten Ordnung, die deutsch-polnischen Beziehungen sind es erst recht nicht. Wenn es nach Ihren Wünschen ginge, welche Ziele sähen Sie am Ende Ihrer Tätigkeit in Berlin gerne erreicht und welche Erwartungen gerne erfüllt?

 

Botschafter Dr. Prawda: Für das deutsch-polnische Verhältnis würde ich gerne sehen, dass wir die Phase der gereiften Partnerschaft erreichen, wo wir als Partner in der Europäischen Union einen Mehrwert für die Union schaffen und wo wir das auf sehr natürliche Weise mit bilateralen Beziehungen verbinden. Im Moment sind wir in einer Vertrauenskrise, die wir so schnell wie möglich überwinden sollten. Auf der anderen Seite lernen wir, unterschiedliche Meinungen zu haben; auch das hängt mit dem Beitritt zur EU zusammen. Für die erste Periode meiner Tätigkeit sehe ich die Notwendigkeit, intensiv ins Gespräch zu kommen über Sachthemen. Deshalb versuchen wir im Moment, uns auf die deutsche Präsidentschaft vorzubereiten und Konsultationen zu den Themen zu führen, die auch für uns von Bedeutung sind, damit es über die Sachthemen zu einer Verbesserung des Klimas in den bilateralen Beziehungen kommt. Nach dem Besuch des polnischen Ministerpräsidenten kann ich feststellen, dass wir bei den Problemen, die zu der Vertrauenskrise beigetragen haben - ich spreche zum Beispiel von der Energieversorgung - gemeinsam eine Lösung suchen; dass auch die Bundeskanzlerin hier auf die spezifischen Sorgen der polnischen Seite eingegangen ist und dass man über ein europäisches Versorgungssystem und über die Zusammenarbeit bei der Diversifizierung der Energieversorgung gesprochen hat. Dieses Problem hat das Potential, zur Verbesserung des Klimas beizutragen.

 

Wo sehen Sie die größten Hindernisse auf dem Weg zu einer Verbesserung der Beziehungen?

 

Also, wir haben ein Problem darin gesehen, dass man unser Anliegen nicht als sachlich verstanden hat, sondern als eine überzogene Reaktion auf die Entscheidung über den Verlauf der Pipeline durch die Ostsee. Für uns war das eine sehr problematische Entscheidung, weil wir dadurch unsere Interessen in der Frage der Energiesicherheit beeinträchtigt gesehen haben, und weil wir auf einmal in der Rolle eines "unzuverlässigen Transitlandes" dastanden.

Wir sind der NATO und der EU beigetreten, um ein zuverlässiger Partner zu sein. Deshalb konnten wir nicht ohne weiteres verstehen, dass man mit der Umgehung Polens eine Lösung findet, von der wir annehmen mussten, dass sie unsere Sicherheitslage beeinträchtigt. Es gab Probleme, unsere Haltung zu verstehen, denn es ging uns nicht primär darum, dass wir jetzt von Russland abhängig sind, sondern dass wir grundsätzlich keine einseitige Abhängigkeit von einem Lieferanten akzeptieren. Daher ist es so wichtig, dass Deutschland während der Präsidentschaft in der EU das Problem wieder aufgreift und es zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung kommt.

 

Es hat eine Zeit gegeben, da hörte man aus polnischem Munde - öfter als aus deutschem -, dass die deutsch-polnischen Beziehungen "nie so gut gewesen sind wie heute". War das damals ein Irrtum, oder haben sich die Verhältnisse inzwischen geändert?

 

Das war die romantische Phase in unseren Beziehungen, in der wir uns darüber freuten, dass wir schwierige Themen aus der Vergangenheit nicht länger vermeiden. Immerhin mussten wir, um uns anzunähern, einiges an Widerstand überwinden und Kraft aufwenden. Das war also eine logische Entwicklung des Prozesses für diejenigen, die schon seit den 60er Jahren für eine solche Begegnung eingetreten waren und in den unterschiedlichsten Milieus angefeindet wurden. Und in den 90er Jahren war es häufig in Deutschland so, dass die Politiker sich damit brüsteten, dass sie sich mit Polen versöhnt fühlen, und dann haben sie sich gewundert, dass man von ihnen noch etwas will. Das war vielleicht typisch für eine Phase der Annäherung. Mit der Zeit kamen wir in eine neue Situation, wo die Instrumente nicht ausreichten, die wir entwickelt haben, und heute sind wir in einer qualitativ anderen Phase, wo alles erarbeitet werden muss, wo wir als Mitglieder der EU zu vielen Partnern gleichzeitig Beziehungen pflegen und entwickeln müssen, und das bedeutet einen Lernprozess auf beiden Seiten. Aber es stimmt, es gab die Gewohnheit zu sagen, dass unsere Beziehungen so gut wie noch nie sind, doch da gab es auch die Tradition zu lamentieren, und ich kann mich erinnern, dass wir in beiden Ländern immer wieder Podiumsgespräche über das Schwierige in den Beziehungen veranstaltet haben.

 

Wie erklären Sie sich den Unterschied zwischen dem deutlichen und starken Interesse der Regierung Kohl an Polen und dem ebenso deutlich geringeren Interesse der Regierung Schröders und wie würden Sie das Interesse der heutigen Bundesregierung an Ihrem Lande einstufen?

 

Ich würde ungern die Regierungen vergleichen. Jede der deutschen Regierungen hat ihren Platz und hat in den Beziehungen eine Rolle gespielt. Die Regierung Kohl war sehr effektiv in der Verbreiterung der Basis für die deutsch-polnischen Beziehungen und für die Gewinnung der zunächst skeptisch eingestellten Gruppen in Deutschland. Das ist ein Verdienst Kohls, der persönlich sehr zu dieser Evolution beigetragen hat, und diese Regierung verbinden wir mit dem wichtigen Prozess nach der politischen Wende.

Für die Regierung von Bundeskanzler Schröder war typisch, dass in der deutschen Gesellschaft, in der internen Politik, eine andere Dynamik herrschte, dass Deutschland in einer Selbstfindungsphase war, in der die Beziehungen zu Polen vielleicht nicht so wichtig waren. Aber das war auch die Zeit, in der wir eine so wichtige Frage gelöst haben wie die Entschädigung der Zwangsarbeiter. Und mit Bundeskanzler Schröder verbinden wir die Fürsprache für die Aufnahme Polens in die EU. In dieser für uns wichtigen Frage hat uns Deutschland eine große Hilfe geleistet. Schließlich sehen wir auch positiv seine Feststellungen zur Vermögensfrage und den damit zusammenhängenden Problemen.

Und nun haben wir die Besonderheiten der Regierung von Frau Bundeskanzlerin Merkel, die es zu nutzen gilt. Da haben wir zunächst einmal eine Bundeskanzlerin, die aus den neuen Bundesländern stammt. Ich erinnere daran, dass Frau Merkel am 3. Oktober in Kiel zum Tag der Deutschen Einheit darüber gesprochen hat, dass sie ihre DDR-Identität nicht in der Garderobe abgeben möchte, sondern dass sie daraus Kraft schöpft. Das ist etwas, das auch neue Chancen für ein besseres Verstehen in den deutsch-polnischen Beziehungen bietet. Dasselbe wünsche ich mir für die deutsch-polnische Beziehung: dass wir an gemeinsamen Erfahrungen anknüpfen. Das sind die Freundschaften in den 70er Jahren, die Paketaktionen und die massive Hilfe, die wir aus Deutschland in den 80er Jahren bekamen, und das ist auch 1989, als die Flüchtlinge aus der DDR in Warschau ihre erste Erfahrung mit dem neuen Polen gemacht haben. Das sind Elemente, die uns verbinden, die wir auch zu konstitutiven Elementen in den Beziehungen machen können, die als integrierende Erfahrung betrachtet werden können. Und das ist nur ein Beispiel für die neuen Chancen, die wir jetzt haben. Ich würde mir wünschen, dass wir das mehr nutzen, gerade jetzt mit einer Regierung, die geführt wird von einer Kanzlerin aus der ehemaligen DDR.

 

Wenn Sie an das deutsche Interesse an Polen denken, wo würden Sie den Schwerpunkt setzen? Was ist der Inhalt des deutschen Interesses an Polen?

 

Ich würde mir wünschen, der Inhalt des deutschen Interesses an Polen läge in einer mehr partnerschaftlichen Beziehung und darin, ein gewisses Schema zu überwinden. Der Osten wird von Deutschland häufig als Quelle der Sorgen angesehen. Ich würde mir wünschen, dass der Osten auch als Quelle der politischen Energie und kultureller Ideen gesehen wird. Wenn man vom polnischen Nachbarn im Osten spricht, bleibt man doch oft einem solchen Schema verhaftet wie z.B. ‚Es ist besser, Stabilität zu exportieren, als Instabilität zu importieren', oder: ‚Hauptsache, dass wir die Flut der polnischen Arbeitnehmer stoppen'. Damit will ich sagen, dass ich die Inhalte des deutschen Interesses an Polen darin sehe, die Beziehungen zu einem Medium der Reformen der EU zu machen und keine Angstdebatte in Bezug auf die Öffnung des Arbeitsmarktes zu führen. Stattdessen sollte man in der neuen Situation Chancen für die Reform sehen, dass man auch die polnische Akzeptanz zur Mitgliedschaft in der EU zu einem positiven Faktor macht. Hier liegen für mich die Grundlagen für eine integrative Partnerschaft.

 

Täuscht der Eindruck, dass die derzeitige Atmosphäre zwischen Deutschland und Polen u.a. darauf beruht, dass sich Polen nach den Hoffnungen und den Perspektiven der politischen Veränderungen der vergangenen Jahre gleichsam im Alltag wieder findet, dem Alltag eines mittleren Landes zwischen zwei großen Nachbarn?

 

Wir sehen eine Errungenschaft des polnischen Beitritts zur EU darin, dass wir unsere periphere Lage überwinden konnten, dass wir nicht mehr eine Mittellage haben zwischen Deutschland und Russland, in der uns Deutschland und Russland jeweils als Puffer benutzen und in der wir von beiden Seiten eingeengt werden. Der Effekt der Mitgliedschaft in der EU bedeutet, dass wir unsere Lage neu verstehen können.

 

Ist das nicht lediglich ein Peripheriewechsel? Haben Sie nicht die eine Peripherie mit der anderen vertauscht?

 

Nein, wir haben jetzt einen bestimmten Platz erworben. Polen hat in der Vergangenheit daran gelitten, keinen klar definierten Platz zu haben. Die Ursachen für einige Schwierigkeiten unserer Politik früher lassen sich aus dem Mangel an einer klar definierten Position erklären; weil wir nicht ‚irgendwo' leben möchten, ‚zwischen Ost und West'. Und selbst die Tatsache, dass wir diesen Platz jetzt definieren konnten, setzte voraus, dass wir unsere Beziehung zu Russland verbessern - und da gibt es klare Tatsachen - und dass wir die Beziehungen zu Deutschland neu entwickeln. Gerade deshalb ist es so wichtig für uns, dass wir als ein EU-Land und nicht anders betrachtet und behandelt werden. Unsere neue Lage schafft eine kreative Veränderung, und theoretisch gesehen öffnen sich für uns neue Spielräume. Wir haben in der polnischen Außenpolitik jetzt bekräftigt, dass wir die Zusammenarbeit mit den Staaten in Nordeuropa ausbauen möchten, weil dies für uns eine natürliche, logische Ergänzung unserer bisherigen Außenpolitik ist. Auf diese Weise wollen wir einen eigenen Beitrag zur Integration in Europa leisten. Es hängt weitgehend von uns selbst ab, ob wir das schaffen.

 

Wie erklären Sie, dass Polen innerhalb der EU - neben Großbritannien - wohl das Land ist, das am stärksten neben der Einbindung in die Gemeinschaft auf die Anbindung an die USA, d. h. auf die transatlantischen Beziehungen setzt, wobei zum Teil der Eindruck entsteht, dass diese Bindung nicht neben, sondern in Gegensatz zu der europäischen Einbindung tritt.

 

Die Sicherheitsfrage spielt für uns eine fundamentale Rolle, und deshalb war der Beitritt zur Europäischen Union und zur Nato ein gemeinsames Konzept. Deshalb ist es für uns besonders unverständlich, wenn wir vor die Wahl gestellt werden, zwischen Europa und Amerika zu wählen. Das ist etwas Unlogisches für uns. Das zerstört auch unser Bild von der Anbindung an die wirkliche Struktur, die wir als Ganzes gesehen haben. Wir dachten einmal, wir treten einem homogenen Bündnis bei. Daher wollen wir uns damit nicht abfinden, dass wir vor die Wahl gestellt werden. Wir nehmen das vielleicht mit einer besonderen Schärfe wahr, wenn man uns aufzwingt, zwischen Alternativen zu wählen, die wir so nicht wollen, weil das in unseren Augen desaströse Folgen hat. Und deshalb achten wir immer darauf, dass die Ideen, die in Europa entwickelt werden, keinen Antiamerikanismus als ‚Zement', als gemeinsames Bindemittel enthalten, dass also die Ideen, die in der EU entstehen, nicht in eine Opposition zur NATO münden.

 

Ich mache eine Vorbemerkung zu der nächsten Frage. Ist es nicht so, dass der Fortfall des gemeinsamen Feindes die Gemeinsamkeit zerstört? Die eigentliche Frage aber lautet: Glauben Sie, dass die sich abzeichnende wirtschaftliche und militärische Ablösung Europas von den USA eine vorübergehende Erscheinung ist?

 

Ja, das ist richtig. Heute verändern sich die Bedrohungen und die Risiken in der Welt, und die Sicherheitsstruktur muss dem folgen. Wir leben hier in einer Phase der Evolution des Bündnisses. Wenn wir in diesen Tagen an der Neuausrichtung der NATO arbeiten müssen, so ist das eine sehr erfreuliche Veränderung, dass wir uns nicht länger über die Definition eines gemeinsamen Feindes zusammenschließen müssen. Aber das ist auch eine Situation, die zu Identitätskrisen geführt hat. Wir haben eben neue Probleme, denen wir uns stellen sollen.

 

Wie beurteilen Sie den Umstand, dass Polen im Irak und - wenn ich das richtig sehe - auch in Serbien an den Folgen von Kriegen beteiligt ist, die keine völkerrechtlichen Grundlage hatten?

 

Die Frage der Legitimität dieser Interventionen ist Gegenstand einer schwierigen Diskussion, die in Polen mit politisch-moralischen Kategorien geführt wurde. Es stand zur Debatte, ob Polen, ein mittelgroßes Land, das der Nato beigetreten ist, sich drücken soll oder im Rahmen der internationalen Aktion auch Hilfe anbieten wird. Wir haben uns damals an die Situation in Polen 1939 erinnert, als es für die internationale Gemeinschaft darauf ankam, sich woanders zu engagieren. Man wollte nicht "für Danzig sterben", und dann mussten sechs Millionen Juden sterben. Einige Konsequenzen dieser Ratlosigkeit haben wir dann ein halbes Jahrhundert hindurch erlebt. Es ist eine Frage der Definition dessen, was geschah. Wir haben unsere Entscheidung getroffen wie viele europäische Staaten. Jedes Land hat diese Frage aus den für das jeweilige Land wichtigen Motiven beantwortet - und das waren unsere polnischen Überlegungen, wobei auch die Frage der Solidarität mit der internationalen Gemeinschaft eine Rolle spielte.

 

Wie beurteilen Sie das Verhältnis Polens zu seinen östlichen Nachbarn, also zum Baltikum, zu Weißrussland, der Ukraine und natürlich zu Russland?

 

Eine der wichtigsten Erfahrungen nach dem politischen Umbruch 1989 war die Entdeckung der neuen Nachbarn. Die Tatsache, dass wir sie kennen und schätzen gelernt haben, hat vielleicht zu einer der interessantesten Debatten in den polnisch-litauischen und polnisch-ukrainischen Beziehungen geführt. Hier spielte Litauen am Anfang eine große Rolle bei der Hinwendung zur NATO und EU. Die Entwicklung in der Ukraine haben wir immer mit großem Interesse betrachtet, und die Rolle von Polen in der Zeit der orangenen Revolution ist in der Welt bekannt. Ich würde das als wichtiges Element unserer Politik bezeichnen, dass wir diese Nachbarn entdeckt haben und immer noch dabei sind, sie besser kennen zu lernen. Hier zeigt sich so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft mit der ukrainischen Gesellschaft, die um ihre Rolle als Subjekt kämpft. Polen hat sich bekanntlich mit Deutschland in einer Aktion engagiert, in der auch der Bundeskanzler Schröder eine wichtige Rolle spielte. Damals versuchten wir, die Erfahrungen mit dem Runden Tisch als Beitrag zu einer friedlichen Lösung nach Kiew zu vermitteln. Wir haben sie damals gefragt, was wir für sie machen können, und da sagten sie uns das. Das war ein Ruf nach Freiheit, und der kam von Leuten, die ganz unterschiedlicher politischer Meinung waren. Deshalb sehen wir die Interpretationen sehr kritisch, dass damals die Amerikaner in der Ukraine eine Revolution gemacht hätten. Wir betrachten das als eine wirkliche Reform der ukrainischen Gesellschaft, weil, ja weil die ukrainische Gesellschaft damals eine andere geworden ist, weil sie an Selbstbewusstsein gewonnen hat. Und es gibt viele irreversible Veränderungen - Pressefreiheit und Wahlen. Deshalb freuen wir uns über diese Entwicklung, weil sie uns gemeinsam die Chance bietet, die Kontakte auf allen Ebenen weiter zu verbessern. Auch für die EU liegt die Ukraine seitdem woanders - ‚the Ukraine matters'. Polen hat jetzt die Chance zu beweisen, dass dieses Interesse an der Ukraine kein konjunkturelles bleibt, indem wir mit der Ukraine eine stabile und fruchtbare Partnerschaft herstellen.

Was Russland anbetrifft, haben wir immer die Hoffnung, dass wir als EU-Mitglied wie jedes andere betrachtet werden. Nach den Ereignissen in den letzten Wochen wollen wir hoffen, dass die Mitgliedschaft in der EU erlaubt, die Instrumente für eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland zu schaffen, dass wir nicht gezwungen werden, die Mitgliedschaft in der EU als letzte Instanz anzusehen.

 

Wie beurteilen Sie die Rolle Polens als Grenzfestung der EU und als Bollwerk gegen eine unerwünschte Immigration?

 

Das ist gerade etwas, was wir vermeiden wollen. Ich sehe uns mehr als ein Tor.

 

Aber ein "Schengentor"?

 

Wir haben in Polen jeden Tag wahrscheinlich über 700.000 Menschen  aus dem Osten und das ist gewiss keine leichte Sache. Bislang sind wir mit einem liberalen Verständnis an die Regelung dieser Fragen herangegangen.

 

Liegt denn die Dichte der Grenze im polnischen Interesse?

 

Ein vernünftiger Umgang mit der Grenze ist in unserem Interesse. Aber wir sind jetzt dicht daran, die Schengen-Kriterien zu erfüllen. Im Moment haben alle Kontrolleure uns bescheinigt, dass das gut läuft. Die Verspätung der Einführung des Schengener Abkommens liegt nicht an uns, und das Nötige haben wir schon in den letzten Jahren gemacht. Unser Problem ist, dass wir durch die Sicherung der Grenze nicht das Kind mit dem Bade ausschütten wollen. Deshalb haben wir in Polen z. B. für die Ukraine kostenlose Visa eingeführt. Die Visa werden erteilt, weil wir dazu gezwungen werden, aber wir werden kein Geld dafür nehmen, weil wir nichts tun wollen, was aus der Grenze ein Bollwerk machen kann. Wir wissen wie das ist, hinter einer Grenze zu leben. Und deshalb haben wir darauf geachtet, bei der Umstrukturierung auch pragmatische Lösungen zu finden, die das für die Betroffenen hinter der Grenze billiger machen.

 

 

Das ist die Debatte, die wir in Verbindung mit Schengen führen, weil wir hier Kompromisse suchen, damit die Einführung von Schengen nicht zu einer erneuten Abschottung der Menschen hinter der Grenze führt.

 

Welche Möglichkeiten und welche Grenzen sehen Sie für eine Erweiterung der EU?

 

Wir sind dagegen, geografische Grenzen  zu setzen. Wir sind daran interessiert, dass die Nachbarn der EU die Option auf eine Mitgliedschaft bewahren. Natürlich sehen wir das realistisch, daher kann in vielen Fällen gegenwärtig keine Rede von einer Mitgliedschaft sein, aber erstens kann man jenseits der Mitgliedschaft sehr viel tun, um den Prozess offen zu halten und eine Perspektive anzubieten, und zweitens werden wir Deklarationen meiden, welche die Mitgliedschaft eines Landes, z. B. der Ukraine, von vornherein ausschließen. Wir wissen auch, auch aus unserer Erfahrung, wie wichtig eine solche Perspektive ist, und welch wichtige Funktion sie für die Weiterentwicklung einer Gesellschaft haben kann.

 

Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, also der sogenannte 2 + 4 Vertrag, hat Deutschland als Voraussetzung für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine ebenso abschließende Regelung - insbesondere der Grenzfrage - mit Polen auferlegt. Sehen Sie diese Verpflichtung durch die Verträge von 1990/91 als erfüllt an?

 

Wir sehen in der deutschen Rechtsauffassung eine Haltung, die zu Zweideutigkeit, zu einer politischen Zweideutigkeit in einer Reihe von Fragen geführt hat, und mittlerweile betrachten wir diese Lücke, die sich dort auftut, als eine Belastung für unsere Beziehungen. Wir würden gerne einen Zustand anstreben, in dem keine Zweideutigkeit mehr existiert. Wir haben einen Tumor in den Beziehungen, den wir immer nur mit Antibiotika behandeln. Unter dieser Behandlung mit Antibiotika kommt es natürlich zu einer Linderung, aber es wäre besser den Tumor zu beseitigen.

 

Brauchen wir ein Zentrum der Vertreibung und ein Denkmal des polnischen Martyriums in Berlin?

 

Wir brauchen Gedenkstätten, die der Erinnerung dienen, die der wichtigen Tatsache Rechnung tragen, dass der Völkermord die zentrale Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist. Auch die Zwangsaussiedlung sollte in diesem Zusammenhang gesehen werden. Und wir würden uns davor hüten, Konzepte zu verfolgen, die sich dem Verdacht aussetzen, Instrument von Geschichtsklitterung oder politischer Operationen zu sein.

Ich glaube auch, dass wir in den 90er Jahren sehr viel gemacht haben, um die Geschichte aufzuarbeiten auch die Geschichte der deutsch-polnischen und polnisch-jüdischen Beziehungen.

So sind unsere Reaktionen heute in diesem Kontext nicht dadurch zu erklären, dass wir Probleme damit haben, dass man in Deutschland der Nachkriegsgeschichte gedenkt, sondern dass wir manchmal darin eine politische Instrumentalisierung sehen. Wir haben auch damit Probleme, dass man uns vorhält, dass wir an einer Opferrolle festhielten und nicht fähig seien, Mitgefühl mit den deutschen Opfern zu zeigen. Das ist aber nicht wahr. Es ist vielmehr so, dass wir sehr empfindlich darauf reagieren, weil wir das angemessene Verhältnis der verschiedenen historischen Ereignisse bewahren wollen.

 

Noch ein Wort zu dem Denkmal des polnischen Martyriums?

 

Es gibt Ideen, auch die polnische Perspektive in Berlin sichtbar zu machen, z.B. im Rahmen des Projektes "Topographie des Terrors". Es ist auch im Gespräch, die Ausstellung "Zwei Totalitarismen" aus Warschau nach Berlin zu holen.

 

Sehen Sie die Bestimmungen der deutsch-polnischen Verträge über die Rechte der in der Bundesrepublik lebenden Bürger polnischer Herkunft als ausreichend an?

 

Wir sehen Defizite in der Ausführung dieser Verträge, und ich glaube, dass die Verträge viel mehr Möglichkeiten schaffen, als wir zur Zeit nutzen. Deshalb führe ich zum Beispiel Gespräche über die Erweiterung des Polnischunterrichts in Deutschland und eine  größere Unterstützung für die Pflege der eigenen Kultur. Diese Rechte sind verankert, aber aus unseren Erfahrungen wissen wir, dass es manchmal Probleme gibt mit der Koordination zwischen den verschiedenen Stellen in einem föderalen System wie der Bundesrepublik.

 

Wie beurteilen Sie die nach dem EU-Beitritt Polens in der BRD geltenden Arbeitsbeschränkungen für polnische Staatsbürger und welche Schritte halten Sie für möglich und für erforderlich, um das Missverhältnis zwischen Aufenthaltsrecht und fehlender Arbeitserlaubnis zu beseitigen, das in der Praxis zu durchaus phantasievollen Notlösungen führt?

 

Ich würde mir eine Öffnung des Arbeitsmarktes in Deutschland wünschen, wie das z. B. in Großbritannien geschehen ist. Ein Effekt dieser Öffnung war auch der Zufluss einer halben Milliarde Pfund zum Budget. Ein weiterer Effekt der Öffnung war, dass viele - vielleicht die Hälfte - ihren Aufenthalt im Lande endlich legalisiert hat. Und die Reaktion der englischen Regierung war sehr positiv.

 

Auch die Reaktion der englischen Bevölkerung ....

 

Ja, und das zeigt auch, dass das weniger ein wirtschaftliches Problem ist, als eine Angstdebatte, die da leider geführt wird. Da wo wir unsere Chancen sehen - z.B. in der Freizügigkeit der Arbeitskräfte - gibt es leider immer noch Einschränkungen. Und da, wo unsere westlichen Partner mehr Nutzen haben können - z.B. im freien Kapitalverkehr -, gibt es kaum Hindernisse. Die EU soll für alle ein Gewinn sein.

 

Welche Wünsche und Erwartungen haben Sie an die Arbeit der vielen deutsch-polnischen Gesellschaften überhaupt und an die Arbeit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im Besonderen?

 

Ich freue mich, dass wir so viele Gesellschaften und auch Partnerschaften in Polen wie auch in Deutschland haben. Darin kommt die natürliche Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften zum Ausdruck, und das alles ist gesunde Substanz, die wir haben, und das hat sich trotz der aktuellen Missstimmungen nicht verändert. Ich meine, dass wir uns bewusst machen sollten, welch einen gemeinsamen Reichtum an Kontakten und Projekten wir inzwischen haben, und das sollten wir zur Grundlage des gegenseitigen Verstehens machen, wenn wir so wie jetzt in einer schwierigen Situation sind. Wenn es schwierig wird, müssen wir alle guten Kräfte mobilisieren. Ich würde mir wünschen, dass die Aktivitäten Ihrer Gesellschaft eine Chance bekommen, diese gute Energie weiterhin einzusetzen, damit wir besser verstehen, was wir gemeinsam haben, was wir schon erreicht haben. Dass wir uns nicht selbst einreden, dass wir wieder bei Null anfangen müssen oder dass wir alles verloren hätten. Wir haben unsere Zusammenarbeit, unsere Kontakte seit vielen Jahren, und das hilft uns jetzt, die Phase der Verstimmung zu überwinden.

 

Wir möchten Ihnen, Herr Botschafter, für dieses Gespräch sehr herzlich danken und  wünschen Ihnen für Ihre Arbeit, für die durch Ihren Vorgänger nicht die schlechtesten Grundlagen gelegt wurden, von ganzem Herzen Erfolg.