Beziehungen zu Polen endlich normalisieren!

Deutschland-Doktrin aufgeben!

 

Die Beziehungen zwischen Deutschland und unserem Nachbarland Polen sind in eine tiefe Krise geraten. Die 1950 in Düsseldorf als "Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft" gegründete Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland wandte sich daher am 30. Oktober dieses Jahres mit einem Appell an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Mit dem Appell forderte sie die Bundestagsabgeordneten als Vertreter des Volkes, des höchsten Souveräns in Deutschland auf, einen Beschluss des Deutschen Bundestages zu erwirken, in dem dieser die immer noch gültige Deutschland-Doktrin für ungültig erklärt und die auf der Berliner Konferenz der Siegermächte im Jahre 1945 festgelegte und im Vertrag vom 14. November 1990 lediglich bestätigte deutsch-polnische Grenze völkerrechtlich verbindlich anerkennt.

 

Appell der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V.

an den Deutschen Bundestag zur Normalisierung der Beziehungen

zwischen Deutschland und Polen

 

Die deutsch-polnischen Beziehungen - von den politischen Akteuren beider Seiten jahrelang als Modell der "Versöhnung" und als Ausdruck einer "deutsch-polnischen Interessengemeinschaft" gehandelt - sind im Sommer 2006 in eine tiefe Krise geraten. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e. V., die älteste gesellschaftliche Vereinigung, die sich seit 1950 ununterbrochen für eine Verständigung und Normalisierung zwischen Deutschen und Polen einsetzt, nimmt die besorgniserregende Entwicklung zum Anlass, festzustellen, dass die aktuellen Verwerfungen im Verhältnis beider Länder keine zufällige und vorübergehende Irritation darstellen. Sie resultieren vielmehr aus der fortdauernden Weigerung der deutschen Seite, die im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs für Deutschland und seine Beziehungen zu seinen europäischen Nachbarn eingetretenen Realitäten anzuerkennen, und der von vordergründigen Interessen geleiteten Duldung dieser Haltung durch die postsozialistischen Regierungen Polens. Die Realitäten sind durch die Verweigerung ihrer Anerkennung nicht tangiert. Solange man ihnen nicht Rechnung trägt, werden auch die hoffnungsvollsten Ansätze einer deutsch-polnischen Verständigung wieder und wieder an ihnen scheitern.

Die Realitäten der deutsch-polnischen Beziehungen nehmen ihren Ausgang von einem Datum, dessen die Menschen in Europa und in vielen Ländern der Welt noch vor eineinhalb Jahren feierlich gedachten, nämlich dem 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches und der Befreiung Europas vom Faschismus, an dem das deutsche Volk nach zwei gescheiterten Revolutionen - 1848 und 1918 - und einem in der Geschichte beispiellosen Zivilisationsbruch die Chance erhielt, in die Gemeinschaft der europäischen Zivilgesellschaften zurückzukehren und Staat und Gesellschaft nach den Normen eines zivilisierten, auf den Prinzipien des Völkerrechts, der inneren und äußeren Freiheit und des Respekts vor den individuellen Menschenrechten aufbauenden Gemeinwesens zu gestalten. Der Ausgang des Zweiten Weltkriegs hatte unter anderem zur Folge, dass Teile des früheren Deutschen Reiches heute Bestandteil anderer europäischer Staaten sind. Der größte Teil der verlorenen Gebiete gehört zur Republik Polen. Die Anerkennung des Verlustes und die Schaffung eines gutnachbarlichen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen ist eine Grundvoraussetzung für das friedliche Zusammenleben der europäischen Völker.

Die territoriale Gestalt Deutschlands und Polens haben die Siegermächte auf der Berliner Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 festgelegt. Die Anerkennung dieser Festlegungen und insbesondere der neuen Grenzen war in der Folgezeit Gegenstand kontroverser politischer Auseinandersetzungen. In einer Reihe von Verträgen mit der Volksrepublik Polen bzw. der Republik Polen haben die Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik den Gegebenheiten in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen, und zwar mit

-          dem Vertrag von Zgorzelec ("Görlitzer Vertrag") zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vom 6. Juli 1950;

-          dem Warschauer Vertrag zwischen der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970;

-          dem Grenzbestätigungsvertrag zwischen der jetzigen Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen vom 14. November 1990.

Diese Verträge entstanden vor dem Hintergrund der Verantwortung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs für Deutschland als Ganzes seit dem 8. Mai 1945, die mit der Übertragung der vollen Souveränität an das vereinigte Deutschland durch die "Abschließende Regelung mit Bezug auf Deutschland" ("Vier-plus-zwei-Vertrag") vom 12. September 1990 endete. Während die Deutsche Demokratische Republik, die ausdrücklich allein im eigenen Namen handelte, im Vertrag von Zgorzelec die polnische Westgrenze vorbehaltlos und völkerrechtlich verbindlich anerkannte, verstand sich die ehemalige Bundesrepublik Deutschland, die stets den Anspruch erhob, für Deutschland als Ganzes zu sprechen, im Warschauer Vertrag von 1970 lediglich zu einem Verzicht auf die gewaltsame Änderung dieser Grenze. Entgegen den Bestimmungen der Abschließenden Regelung, die die Voraussetzung der Vereinigung der beiden deutschen Staaten waren, hat es die Bundesrepublik Deutschland verstanden, sich der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs intendierten abschließenden Regelung des Verhältnisses zwischen dem wiedervereinten Deutschland und Polen zu entziehen und insbesondere an die Stelle der völkerrechtlichen Anerkennung der polnischen Westgrenze einen zweiten Gewaltverzichtsvertrag zu setzen. Grundlage der Verweigerung ist die vom Bundesverfassungsgericht in mehrfachen Ansätzen* bekräftigte und ausformulierte Deutschlanddoktrin vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 hinaus, die es jeder deutschen Regierung untersagt, auf Teile des Reiches zu verzichten. Unmittelbarer Ausfluss dieser Vorbehalte ist der Briefwechsel der Außenminister Hans Dietrich Genscher und Professor Krzysztof Skubiszewski vom 17. Juni 1991 anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, in dem einvernehmlich die Regelung von Eigentums- und Staatsangehörigkeitsfragen aus dem Vertrag ausgeklammert wird.

Die polnische Hinnahme dieses Vorgehens hat weitreichende Folgen. Seit dem 1. Mai 2004 sind die Republik Polen und die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam Mitglieder der Europäischen Union. Ungeachtet dessen werden die politische Zusammenarbeit wie die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen weiterhin durch Fragen belastet, die in diesem auf die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs gerichteten und für alle Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Postulat ihren Ursprung haben.

Aktuellen Ausdruck finden diese Konflikte

-          in der Forderung nach der Anerkennung polnischer Schuld an dem, was die deutsche Zivilbevölkerung als Folge des mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 ausgelösten Zweiten Weltkrieges erlitten hat;

-          in der Forderung nach der Einrichtung eines "Zentrums gegen Vertreibungen", die vom Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland vorgetragen wird;

-          in den Forderungen nach Entschädigung von ehemaligen deutschen Grundeigentümern bzw. deren Erben, wie sie zur Zeit insbesondere durch die "Preußische Treuhand" in der Öffentlichkeit und vor nationalen und internationalen Gerichten erhoben werden.

Dass diese Forderungen auf polnischer Seite Unruhe und Gegenüberlegungen auslösten, konnte nicht ausbleiben. Sie finden ihren Niederschlag

-          in den Befürchtungen in der polnischen Öffentlichkeit anlässlich des Grunderwerbs deutscher Staatsangehöriger in Masuren, Pommern und Schlesien;

-          in den Reparationsforderungen polnischer Politiker gegen die Bundesrepublik Deutschland für Kriegsschäden;

-          in der polnischen Kritik an der deutsch-russischen Kooperation im Energie-Bereich.

Verwerfungen dieser Art verdeutlichen, wie weit die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen in ihren zwischenstaatlichen Beziehungen von einer Überwindung der Barrieren, die der Normalisierung des deutsch-polnischen Verhältnisses, der Schaffung eines Klimas der Verständigung und der Zusammenarbeit im Geiste guter Nachbarschaft entgegenstehen, entfernt sind.

Bundeskanzlerin Merkel hat anlässlich ihres Antrittsbesuchs in Warschau die Worte ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder in dessen Rede zum 1. August 2004, dem 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands, bekräftigt, dass die Bundesregierung keine Forderungen gegen Polen erhebt und auch keine solchen Forderungen einzelner vor deutschen oder internationalen Gerichten unterstützen wird.

Wir können diese Worte nur begrüßen. Nicht begrüßen können wir jedoch, was sie verschweigen. Es ist an der Zeit, die durch den Vier-plus-zwei-Vertrag zur Bedingung der deutschen Einheit gemachte abschließende Regelung mit Bezug auf Deutschland endlich auch im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu seinem polnischen Nachbarn vorzunehmen. Dazu ist die Frage der Gestaltung des Verhältnisses der Bundesrepublik Deutschland zu seinen Nachbarstaaten aus den Händen des Bundesverfassungsgerichts in die Hände des nach der Verfassung der Bundesrepublik einzig zuständigen Souveräns zurückzugeben. Dieser ist das vom Volk gewählte Parlament, der Deutsche Bundestag.

Wir fordern daher den Deutschen Bundestag auf, festzustellen:

-          dass die von den bisherigen Regierungen der ehemaligen und der jetzigen Bundesrepublik verfochtene und vom Bundesverfassungsgericht zur verbindlichen Rechtsnorm erhobene "Deutschland-Doktrin" vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 hinaus und sämtliche daraus abgeleiteten juristischen und politischen Folgerungen obsolet sind und nicht die Grundlage für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen bilden;

-          dass die Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich die auf der Berliner Konferenz der Siegermächte im Jahre 1945 festgelegte und zuletzt im Vertrag vom 14. November 1990 bestätigte Grenze zwischen den beiden Ländern vorbehaltlos und völkerrechtlich verbindlich anerkennt;

-          dass die Bundesrepublik Deutschland damit auf jedwede Ausdehnung deutscher Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung über das durch diese Grenze festgelegte Territorium der Bundesrepublik Deutschland hinaus verzichtet.

Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V.

 

Berlin / Köln, den 30.10.2006

 

Prof. Dr. phil. Christoph Koch                                                                                                       Dr. med. Friedrich Leidinger

Vorsitzender                                                                                                                                    Stellvertretender Vorsitzender

 

* Urteil vom 31.7.1973 zum Grundlagenvertrag vom 21.12.1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (BVerfGE 36,1ff.); Urteil vom 5.6.1992 zum deutsch -polnischen Grenzbestätigungsvertrag vom 14.11.1990 (2 BvR 1613/91)