Zum
Volkstrauertag 2006
Die Geschichte
ist noch nicht zu Ende
Von Ralf Feldmann
Volkstrauertag ist ein heilloser Gedenktag. Unfassbar das
apokalyptische Gemetzel der beiden Weltkriege, so niederträchtig, roh und
grausam die millionenfache Erniedrigung, Verfolgung und Vernichtung der Opfer
der nationalsozialistischen Gewalt: da erstarrt Erinnerung in Entsetzen und Unfähigkeit
zur Trauer ist nicht immer die Folge davon, vergessen und verdrängen zu wollen.
10 Millionen Tote forderte der 1. Weltkrieg in Europa. Kamen im 1. Weltkrieg täglich 1.000 Soldaten
um, so waren es im 2. Weltkrieg allein im Osten während der ersten 3 Jahre
täglich 2.000, danach täglich 5.000. 55 Millionen Menschen starben in Europa,
mehr als 20 Millionen Opfer hatte die Sowjetunion zu beklagen. Mehr als 6
Millionen deutsche Soldaten kamen um, 1,5 Millionen blieben vermisst. 600.000
Zivilisten starben in den Bombennächten, 1,7 von 15 Millionen Vertriebenen auf
der Flucht. Nach dem Vernichtungskrieg deutscher Männer im Osten mussten
Hunderttausende vergewaltigte Frauen,
Mädchen, Kinder und Greisinnen dafür zutiefst gedemütigt einen oft tödlichen
Preis entrichten.
Wir kennen nicht nur die
schrecklichen Zahlen, auch die Bilder sind uns überliefert: die Menschenreste
auf den zerwühlten Schlachtfeldern, in den Beinhäusern, in den Trümmern der
ausgeglühten Städte, die Überlebenden mit abgetrennten Gliedmaßen, erblindet
mit weggeschossenen Gesichtsteilen. Wer könnte die Bilder des Grauens lange
ertragen und wer könnte es ohne Mitleid tun? Aber da gibt es auch die anderen
Bilder: kriegsbereit drohende Formationen in grandiosen Lichtdomen, hysterische
Massen in glückstrahlender Unterwerfung unter den erlösergleichen Führer:
bejubelt kündigt er Verbrechen an und setzt sie mit ihrer willigen und stolzen
Hilfe ins Werk. Ein Wehrmachtsgefreiter schrieb im August 1940 aus Ostpolen an
seine Familie: "Hier diese Stadt hat 40.000 Einwohner, davon sind 30.000
Juden.... Die Juden liegen wie Schweine auf der Straße herum, gerade eines
" auserwählten Volkes" würdig.... Überall, wo wir für unser
Großdeutsches Vaterland stehen, sind wir stolz, dem Führer helfen zu können.
Die Größe der Zeit werden erst Generationen nach uns begreifen können. Aber wir
alle wollen vor der Geschichte bestehen, voll Stolz, auch unsere Pflicht getan
zu haben." Es gibt Tausende solcher Briefe. Ein guter Kamerad? - Unsere
Erinnerung am Volkstrauertag sieht überall Menschen, die Opfer wurden, weil sie
Mittäter waren oder die Mörder gewähren ließen. Volkstrauertag ist ein
heilloser Gedenktag.
Für uns vor allem der Tag der
Erinnerung an die Erniedrigten, Gehetzten und Vernichteten: 6 Millionen Juden,
Hunderttausende Sinti und Roma, Zwangsarbeiter, Behinderte, Homosexuelle, die
dem Rassenwahn ihrer Mörder zum Opfer fielen. Hier an ihren Ehrengräbern
gedenken wir der Menschen des Widerstandes und der politisch Verfolgten, die
uns in heilloser Erinnerung Hoffnung hinterlassen: Die besonders Mutigen,
Tapferen und Weitsichtigen kämpften weiter, als der Terror begann. Andere
brauchten einen langen Weg in die Ausweglosigkeit, manche bis nach Stalingrad,
um nach Anpassung und Mitmachen ihr Leben im Widerstand zu opfern. Zu den
besonders Mutigen und Entschlossenen des Bochumer Widerstands gehörten
Friedrich Hömberg, Josef Langner,
Bernhard Nast, Moritz Pöppe,
Johann Schmittfranz, Wilhelm Schpenk,
Wilhelm Thiesbürger und Erich Schröder. Ein
Gedenkstein wird hier künftig an die hingerichteten und in Konzentrationslagern
und Kerkern ermordeten Widerstandskämpfer erinnern: gegen das Vergessen, vor
allem aber als Zeichen unauslöschlicher Hochachtung und Dankbarkeit. Mit
besonderer Zuneigung denken wir in diesem Jahr an den kommunistischen
Widerstandskämpfer Karl Springer. Vor 60 Jahren wurde er im Polizeipräsidium an
der Uhlandstraße umgebracht. Karl Springer war Redakteur des kommunistischen
"Ruhr-Echo", Mitglied des Stadtrats und engagierter Gewerkschafter im
Alten Verband unter Fritz Husemann. Dort wurde er
nach einem Einsatz für oppositionelle Kandidaten ausgeschlossen. Während der
Überfälle von SA-Trupps auf aktive KPD- und SPD-Mitglieder im März 1933 ließen
ihn die Schläger in aller Öffentlichkeit blutüberströmt liegen. Nach einem
halben Jahr im Konzentrationslager Esterwegen setzte er seine Untergrundarbeit
fort. Bei seiner erneuten Verhaftung wurde er so misshandelt, dass er am 18.
Oktober 1936 im Polizeigefängnis starb. - Fritz Husemann,
der Sozialdemokrat, war bereits 1935 in Esterwegen ermordet worden. Beider Schicksal bezeugt die Tragödie der entzweiten Linken.
Die Menschen des
Arbeiterwiderstandes, der den größten Blutzoll zahlte, erinnern uns daran:
Terror, Vernichtungskrieg und Judenmord sind nicht wie ein unaufhaltsames Unwetter
über unser Land gekommen, sondern weil vor allen anderen die Eliten versagten.
Vielfach knüpften Nationalsozialisten an das an, was lange vor 1933 gedacht und
in Ansätzen praktiziert worden war. Auch die Vernichtung der Juden ist nicht
das einzigartige Verbrechen einer kleinen Clique um Hitler und Himmler, sondern
ein Verbrechen, an dem Hunderttausende Deutsche, darunter viele aus den
bürgerlich-akademischen Eliten aktiv mitgewirkt haben, die das humanistische
Erbe der Aufklärung verschmähten. Wäre ich 40 Jahre früher geboren, hätte ich
nicht auch als junger ehrgeiziger Jurist im Referendarlager mit besoffenem
Grinsen das Recht symbolisch an den Galgen gehängt? Hätte ich nicht auch bei
der Beseitigung jüdischer Konkurrenten ein fröhlich
Liedchen pfeifend weggeschaut? Welche religiöse Überzeugung hätte mich vor
Furchtbarerem bewahrt, wenn Bischöfe die 10 Gebote vergaßen, die Verbrechen
nahezu gänzlich beschwiegen, zum Gebet riefen für den größten Feldherrn und das
Gelingen des Vernichtungs- und Raubkrieges, die katholischen treu ergeben dem
jämmerlichen, ewig unseligen Stellvertreter in Rom?
Die Eliten der kapitalistischen
Wirtschaft werden mit Blick auf Gewinn- und Verlustrechnungen nicht von
Versagen reden wollen. Anschubfinanzierung des Terrors und laufendes Sponsoring
erwiesen sich als renditestarkes Investment, sterbende Zwangsarbeiter als
kriegsbedingte Durchlaufposten; die Überlebten glaubte man Jahrzehnte später
mit ein paar widerstrebend abgetrotzten Entschädigungsgroschen abfinden zu
können. Wie großzügig dagegen war der in diesem Jahr aus steuerlichen Gründen
in Österreich verblichene Erbe, als er ein paar Jahrzehnte später erneut mit
Millionen Politiker und ihre Parteien ausstattete, die als Herren zu bezeichnen
sein Hausmeier die Güte hatte, - mit Geld, an dem noch das Blut und die Asche
von Auschwitz klebten.
Heutige konservative Denker reden
das Versagen klein. Der Zeithistoriker Arnulf Baring
nannte unlängst zum Auftakt einer Vortragsreihe der hessischen CDU “Was uns
leitet - Eckpfeiler einer bürgerlichen Kultur” den Nationalsozialismus eine
"beklagenswerte Entgleisung". Immerhin habe Hitler bis 1938 die
Gesellschaft wieder konsolidiert - Karl Springer und Fritz Husemann
sind also Konsolidierungsopfer! - Die Auffassung, das Verbrechen der Judenvernichtung
sei "einzigartig und unvergleichbar" sei aber
"Übertreibung", Ausdruck eines "Sünderstolzes", "eine
merkwürdige Art von Überheblichkeit". Auch der Richter am
Bundesverfassungsgericht Udo di Fabio redet in seinem Buch “Die Kultur der
Freiheit” die größte existenzielle und moralische Katastrophe unserer
Geschichte als "Entgleisung" und "Verirrung" herunter. Der
Nationalsozialismus sei - gleichsam von außen angeflogen - eine
"heimtückische Krankheit" gewesen, die "wie ein wucherndes
Krebsgeschwür" die Nation befallen habe. Hitler sei gar "kein
Deutscher" gewesen, sondern "nur ein verkleideter Deutscher, ein
entwurzelter Gaukler aus der Gosse", der das Volk "verführt und
belogen" habe. Die wissenschaftlichen Vorfahren des Verfassungsrichters,
all die eingeknickten Großfürsten des Geistes im Land der Dichter und Denker,
wir wissen es nun, ergaben sich den Faxen eines undeutschen Gossengauklers.
Nein, nicht bei diesen
Wegbereitern eines wieder ins Gleis gebrachten unbeschwerten Nationalismus -
wenn wir uns irgendwo festhalten wollen: wir haben das Vermächtnis des
Widerstandes: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! - Und: Die Würde des
Menschen ist unantastbar!
Doch diese Flamme der Hoffnung
gerät sogleich wieder heillos ins Flackern. Denn es ist wahr: Beim Aufbau ihrer
ersehnten besseren Gesellschaft fielen manche Gequälte und Gebrannte selbst auf
Kerker, Folter, ja Totschlag zurück - und scheiterten daran. Und bei uns hier
im "bürgerlich-sozialen Rechtsstaat" fand sich bald manch einer, dem
braunen Terror knapp entronnen, erneut im Zuchthaus, weil er kapitalistische
Ausbeutung nicht als das Ende der Geschichte akzeptieren mochte oder sich auch
"nur" dem Kampf gegen den Atomtod anschloss; im schlimmsten Fall von
einem reaktivierten furchtbaren Richter straferschwerend verhöhnt, er habe sich
die Qualen des Nazikerkers nicht zur Warnung dienen lassen.
Nie wieder Krieg: dieses Gelübde
hielt nicht einmal 10 Jahre. Es folgte in beiden deutschen Staaten eine
wahrhaft endzeitliche Hochrüstung bis zum Szenario einer Verteidigung durch
atomares Inferno auf beiden Seiten. Viele von uns waren vor 25 Jahren im Bonner
Hofgarten: Unser Überlebenswille gegen die Mittelstreckenraketen wurde als
naive Gesinnungsethik verspottet, die infernale
"Verantwortungsethik" des opferbereiten Weltkrieg 2-Leutnants setzte
sich vorerst durch. Immer noch halten die Strategen des jüngsten
Verteidigungsweißbuchs deutsche nukleare Teilhabe für unerlässlich. Unter der
Hand wurde die Bundeswehr auf weltweite Intervention umgerichtet und selbst das
Friedensvölkerrecht der UN-Charta wird seit dem Jugoslawienkrieg nicht mehr als
grundgesetzlich bindend geachtet, sondern gilt eher als überwindbares
Einsatzhindernis. Krieg zur Sicherung unserer Interessen und des Wohlstandes
etwa bei Störung der Ölversorgung wird zum Einsatzziel, Aufrüstung gar zur
Verfassungspflicht der bisher noch gescheiterten EU-Verfassung.
Nie wieder Faschismus? Eine
Blutspur zieht sich durch unser Land. 133 Menschen fielen seit 1990 in
Deutschland rechtsextremistischer Gewalt zum Opfer, vor allem Migranten, aber auch Obdachlose und Behinderte. Wir werden
im Frühjahr nächsten Jahres in Bochum diese Opfer eines neuen
Herrenmenschenwahns in einer Ausstellung der Verdrängung entreißen und sichtbar
machen. Rechtsextremistische Gewaltkriminalität ist im letzten Jahr erneut
gestiegen. Die braunen Knallchargen und Biedermänner in unseren Parlamenten
können ihre Hände nicht in Unschuld waschen. Sie sind die geistigen
Brandstifter, die Paten für Mord und Totschlag. Immer enger wird die Vernetzung
der Schlipsfaschisten mit den militanten rechten Kameradschaften. Sie rühmen
sich national befreiter Zonen. In Wahlkämpfen der NPD gibt es wieder rechte
Prügeltruppen. Ihre Wahlplakate zeigen tausendfach die Vertreibung muslimischer
Frauen mit der zynischen Parole "Gute Heimreise", abgekupfert von
Vertreibungsbildern jüdischer Opfer der Deutschen in Polen auf dem Weg in ihre
Vernichtung und versehen mit Unbedenklichkeitsbescheinigungen der
Staatsanwaltschaften Berlin und Bochum.
Und die Menschenwürde - sie ist
antastbar. Folter zum Beispiel ist im führenden konservativen
Grundrechtskommentar kein Tabu mehr. Jahrelang war es der Bundesregierung
keiner Mühe wert, einen unschuldigen Menschen aus seiner rechtlosen
Erniedrigung im Foltergefängnis Guantanamo zu
erlösen. Weil sie die Foltervormacht nicht irritieren wollte? Oder weil der
Mensch nur ein Deutschtürke ist? Wenn ein ebenfalls unschuldiger Deutscher von
der Foltervormacht in das Gefängnis eines Folterstaates verschleppt wird,
schicken sie zum Verhör auch eigenes Personal, das beteuert, selbst nicht zu
foltern. Die mutige Kanzlerin hofft gar öffentlich, dass Guantanamo
"längerfristig" geschlossen wird. Aber im Grundgesetz ist
Menschenwürde keine nur zukünftige Glücksverheißung. Wer also stellt die Bündnisfrage?
Und was bedeutet die
Menschenwürde im Alltag? Immer mehr Menschen erleben sich als bloße
Verrechnungsposten in den Renditekalkulationen der wirtschaftlich Mächtigen,
ausgesondert, wenn sie keine Rendite bieten. Wer volle Schichten arbeitet, ist
nicht mehr sicher, sein Existenzminimum zu verdienen geschweige denn den
Unterhalt auch nur für ein einziges Kind: Markt erledigt Menschenwürde. Und der
Sozialstaat darf nicht mehr korrigieren und kompensieren, Förderung durch
Bildung bleibt eine hohle Parole des Kulturstaates: denn arm muss der Staat
sein, damit die Renditen der Wirtschaftsmächtigen und Reichen nicht enttäuscht
werden. Barmherzige Samariter lindern in Suppenküchen, Lebensmittel-, Kleider-
und Gebrauchtmöbeldepots die drängendste Not.
“Nie wieder Faschismus, nie
wieder Krieg, unantastbare Menschenwürde” - dieses Fundament unserer
Gesellschaft bei ihrer Rückkehr in die zivilisierte Welt ist rissig, ja brüchig
geworden. Das gehört zur Trauer am heutigen Tag. Das Vermächtnis der Menschenwürde
- Fundamentalrecht des Grundgesetzes, dass niemand das Objekt fremder Zwecke
werden darf, die Verheißung der Demokratie, die eigenen Lebensbedingungen in
Staat und Gesellschaft mitbestimmen zu können, werden täglich dementiert.
Zum offiziellen Ritual dieses
Tages gehören Hymne und Lied. Mir geht ein gut 120 Jahre altes Lied nicht aus
dem Kopf: die damals schon globale, leidenschaftliche Antwort auf Erniedrigung,
Entrechtung, Not und Ausbeutung. Wie heißt es dort in der 2. Strophe? Uns aus
dem Elend zu erlösen, können wir nur selber - tun! - "Das gilt immer
noch!" würden uns Karl Springer, Moritz Pöppe
und alle ihre mutigen Kampfgenossen zurufen. "Lasst euch nicht einreden,
dass eure Gesellschaft alternativlos ist. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“
Leicht
gekürzte Rede, gehalten bei der VVN-BdA-Gedenkveranstaltung
in Bochum am Volkstrauertag, den 19. November 2006. Ralf Feldmann ist
Familienrichter am Bochumer Amtsgericht und Mitglied des Bochumer
Friedensplenums.