Antisemitismus
und Erinnerungskulturen
Von Wulf Schade
Das Buch "Antisemitismus und Erinnerungskulturen im postkommunistischen Europa" ist im Wesentlichen die Dokumentation einer Tagung der Stiftung Schloss Neuhardenberg, die in Zusammenarbeit mit der Märkischen Oderzeitung, der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband, dem Deutsch-Polnischen Magazin DIALOG und der Zeitschrift "Kafka" durchgeführt wurde. Einige Beiträge wurden noch nachträglich hinzugenommen.
Das Buch besteht aus vier Teilen. Der erste - mit Beiträgen von Jean-Marie Kardinal Lustiger, Ryszard Kapuściński, Paweł śpiwak - ist mehr philosophisch-theoretischer Natur. Es wird versucht, den Antisemitismus und seine Funktion in der Geschichte zu beschreiben. Begriffe wie das Andere, das Fremde spielen hier eine bedeutende Rolle, aber auch der Versuch gesellschaftliche Ängste zu kanalisieren und zu funktionalisieren.
Im zweiten Teil wird in einem Beitrag des polnischen Soziologieprofessors Ireneusz Krzemiński anhand soziologischer Untersuchungen die Haltung verschiedener Teile der Bevölkerung Polens zum Antisemitismus in ihrer Entwicklung dargestellt. Dabei wird deutlich, dass eine offene Debatte über den Antisemitismus dazu führt, dass mehr Menschen ihn direkt ablehnen, auch wenn bei einem anderen Teil zuerst einmal eine Abwehrhaltung hervorgerufen bzw. verstärkt wird. In der anschließenden Niederschrift einer Podiumsdiskussion wird dann diese These weiter vertieft und auf nationale Mythen überhaupt ausgeweitet.
"Meine
Hypothese lautet, dass bei einer Veränderung der zentralen Haltungen und
Vorstellungen die Menschen die Neigung zeigen, sich zuerst in den alten Positionen
zu behaupten und sie zunächst verteidigen. In einem langsamen Prozess verändern
sich diese Haltungen allmählich doch". (Ireneusz Krzemiñski,
S.84).
Der folgende sehr lesenswerte Beitrag
von
“Anschläge
auf jüdische Synagogen und Einrichtungen wurden in den letzten fünfzehn Jahren
in Deutschland und in Frankreich verübt, nicht im östlichen Mitteleuropa.” (
Der dritte Teil - mit Beiträgen von Heinrich August Winkler, Andrzej Paczkowski, Krzysztof Czyżewski und Jurko Prochasko - weitet die Diskussion aus. Hier wird in vier Beiträgen und einer Diskussionsrunde herausgearbeitet, dass es im heutigen Europa mehrere Erinnerungskulturen gibt. In Osteuropa spielen dabei die Erfahrungen in der Zeit des Sozialismus eine große Rolle, weshalb die Frage nach der Vergleichbarkeit der zwei ‚totalitären Systeme', das des Nationalsozialismus und das des Kommunismus, intensiv gestellt wird. Letztlich wird eine Gleichsetzung in den Beiträgen wie auch in der Diskussionsrunde verneint, denn trotz deren Gemeinsamkeit als totalitäre Staaten ist der Vernichtungswille entlang ethnischer Kriterien, d.h. die Organisierung und Durchführung von Völkermord, nur für den Nationalsozialismus charakteristisch. Trotzdem hat die Erfahrung des Sozialismus eine prägende Bedeutung zurückgelassen. Die westeuropäische Diskussion muss diesen Aspekt in der osteuropäischen Diskussion erst einmal realisieren und aufgreifen, wobei sich namentlich die deutsche davor hüten sollte, ihre historische Aufarbeitung als vorbildhaft darzustellen. Das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" wird deutlich abgelehnt und vor einer Neubewertung der Geschichte durch ein Teil der Eliten in Deutschland gewarnt.
Im vierten Teil des Buches über den aktuellen Antisemitismus in Europa stellt Avi Primor die oftmals in Israel praktizierte automatische Gleichsetzung der Kritik an der Politik Israels mit Antisemitismus in Frage. Die anschließende Diskussion vertieft diese Frage und bezieht die aktuellen antisemitischen Vorgänge in den islamischen Staaten ein.
Es lohnt sich dieses Buch intensiv zu lesen. Man bekommt einen guten Einblick, wie gründlich, vielfältig und tabulos über wichtige Bereiche der eigenen Geschichte in weiten Kreisen osteuropäischer Gesellschaften diskutiert wird. Diese Diskussionen stehen den in Westeuropa geführten in nichts nach. Das Buch hilft hoffentlich, diese Tatsache zu verbreiten und die Arroganz westeuropäischer Eliten gegenüber osteuropäischem Denken in Schranken zu weisen,
Bernd Kaufmann,