Grautöne

 

Muss man das Buch „Angst“ fürchten?

 

Von Paweł Machcewicz

 

Tendenziöser Umgang mit historischen Quellen (oder einfach ihre Unterschätzung) ist wohl das beste Geschenk von Jan Tomasz Gross für seine Widersacher, die seine Thesen über den polnischen Antisemitismus ablehnen werden: Thesen zu einem Thema, das zweifelsohne einer soliden Überlegung bedarf. In seinem im Jahre 2000 herausgegebenen Buch „Nachbarn“ thematisiert Gross den Mord an Juden, den polnische Bewohner von Jedwabne im Juli 1941 verübten, einer im nord-westlichen Teil Masowiens gelegenen Kleinstadt. Mit diesem Buch entfachte er eine der wichtigsten öffentlichen Debatten Polens nach 1989; eine Debatte, die nicht nur das allgemein anerkannte Bild  der polnisch-jüdischen Beziehungen, sondern bis zu einem gewissen Grade auch das über unsere gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts in Frage stellte und das sich bisher auf zwei Pfeiler stützte: Heroismus und Leid, erlitten von Seiten anderer Nationen.

 

Es gibt nicht viele Bücher, die eine so große Rolle gespielt und so heftige Reaktionen hervorgerufen haben. Konservative Intellektuelle, die die ideellen Prämissen der „historischen Politik“ formuliert haben, zogen direkte Verbindungen zur Diskussion um Jedwabne. Diese hätte die Proportionen gefährlich ins Wanken gebracht, in dem sie die Strömung des „kritischen Patriotismus“ übermäßig stärkte, dessen Idee es ist, die polnischen Verfehlungen in Erinnerung zurückzurufen.

Alte Tatsachen, neue Sprache

In seinem nächsten Buch greift Gross dasselbe Motiv auf - den Antisemitismus, der zum Mord an Juden geführt hat: diesmal in der Nachkriegszeit, in den Jahren 1944-46. Er schildert die Feindschaft, auf die die Holocaust-Überlebenden gestoßen sind, Morde (man schätzt, dass ihnen zwischen  600 bis 3000 polnische Juden zum Opfer gefallen sind) und Pogrome - darunter der größte und schrecklichste - der Pogrom von Kielce.

Die von Gross zitierten Erinnerungen und Dokumente skizzieren ein bedrückendes Bild, das schwer anzufechten ist. Aber im Gegensatz zu „Nachbarn“, das von Ereignissen handelt, die weder der Öffentlichkeit noch den Historikern bekannt waren, bringt das neue Buch keine neuen Feststellungen. Die in „Angst“ angesprochenen Tatsachen und Quellen sind den Forschern vertraut und wurden bereits in den letzten Jahren in vielen Veröffentlichungen beschrieben. Mindestens ein Teil von ihnen - vor allem der Pogrom von Kielce selbst - ist selbst für diejenigen nichts Neues, die bloß etwas Ahnung von Geschichte haben, sich für sie allgemein interessieren oder etwas zu diesem Thema lesen.

Worin liegt also das Phänomen der „Angst“? Einerseits liegt es im Radikalismus der Interpretation und in der scharfen Sprache, die der Autor verwendet. Andererseits liegt das Phänomen in einer eindimensionaler Beschreibung, indem er den Antisemitismus und die Verbrechen an den Juden aus dem historischen Kontext löst, ihn nicht mit den anderen Prozessen verbindet, die damals in Polen im Gange waren und eine wichtige Rolle spielten - vielleicht ist das nicht so sehr für die Rechtfertigung bedeutend wie vielmehr für das Verständnis der Ursachen und Hintergründe von antisemitischen Verhaltensweisen. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass der Autor seine Thesen bewusst zuspitzt und brutal formuliert, als wäre das Buch sonst nicht imstande, einen entsprechenden Widerhall hervorzurufen, die Gewissen zu erschüttern, so wie es dem ein paar Jahre früher herausgegebenen Buch „Nachbarn“ gelungen ist.

So wie Gross hat in der polnischen Historiographie und sogar Publizistik über das Verhalten von Polen zu den Juden noch niemand geschrieben. Ein Historiker aus Princeton spricht „von einer spontan und unabhängig voneinander vorgenommenen ethnischen Säuberung, die in all den Groß- und Kleinstädten stattfanden, in denen Juden die Vernichtung überlebt hatten“. Er behauptet, dass der Mord an den Juden ein Akt war, der „sich im Rahmen allgemein akzeptierter Normen bewegte. Das Töten der Juden wurde nach dem Krieg in Polen nicht als Verbrechen, sondern eher als eine Form der sozialen Kontrolle zur Verteidigung gemeinsamer Interessen betrachtet. Die Mörder wurden seitens der lokalen Gemeinschaft nicht geächtet oder gar ausgeschlossen.“

Diese gemeinsamen Interessen lagen vor allem darin, dass man das jüdische Eigentum behalten wollte, das Polen während des Krieges in Besitz genommen hatten und an das die Holocaust-Überlebenden, die in ihre Städtchen zurückgekehrt waren,  erinnerten. Es war aber auch die Angst vor der Enthüllung unwürdiger Taten und Verhaltensweisen aus der Zeit der Besatzung. Einer der Pfeiler der Gross’schen Denkart ist nämlich die Ansicht, dass die polnische Gesellschaft in ihrer großen Mehrheit bei der Ausrottung von Juden nicht nur passiv und gleichgültig zusah, „sondern sich auch der Ausbeutung seiner jüdischen Mitbürger anschloss“.

Zwischen Essay und Pamphlet

Der Titel „Angst“ bedeutet jedoch nicht nur eine Furcht vor konkreten Konsequenzen der „Rückkehr“ der polnischen Juden, sondern hat auch einen moralischen, sogar metaphysischen Sinn - es ist eine Angst vor Gewalt und Verbrechen, die die ganze am Judenpogrom beteiligte oder mindestens von dem Pogrom auf verschiedene Weise profitierende polnische Gemeinschaft gekennzeichnet hat. Gross lässt keine Illusionen in Bezug darauf aufkommen, welche geistige Strömung in Polen die größte Verantwortung für die begangenen Untaten trägt: „Die Beteiligung der katholischen Polen an der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Mitbürger war eine im ganzen Land verbreitete Erscheinung. (...) Die katholische Kirche wurde durch ihre Geistlichen, die als Repräsentanten dieser Institution deren moralische Autorität verkörperten, zur Kollaborantin kraft Unterlassung, denn sie verkündeten nicht öffentlich, als vor den Fenstern ihrer Pfarrhäuser blutige Gemetzel stattfanden, dass auch für jeden Juden das Wort ecce homo gilt“.

Es ist schwer, gegen so weitgehende, mit einer so scharfen, kategorischen Sprache ausgedrückte Feststellungen rational zu polemisieren. Man kann sie entweder annehmen oder ablehnen, weil sich die Debatte doch nicht auf Tatsachen bezieht: diese sind allgemein bekannt und werden normalerweise nicht in Frage gestellt. Es geht eher um ihre Interpretation und das Recht, auf der Grundlage von diesen so schwerwiegende Anschuldigungen zu erheben. Viel passender fand ich die Art und Weise, wie Krystyna Kersten über diese Themen schrieb, die als erste Anfang der 90er Jahre den Versuch unternommen hat, die schwierigsten Punkte der polnisch-jüdischen Geschichte der 40er Jahre zu erklären. Darüber hinaus schätze ich Bo¿ena Szaynok, die über den Pogrom von Kielce schrieb und Anna Cichopek, die den Pogrom in Krakau vom August 1945 rekonstruierte.

Keine dieser Autorinnen scheute es, die drastischen Tatsachen zu beschreiben, genau dieselben, die jetzt von dem Autor von „Angst“ analysiert werden. Sie taten das aber sachlich, ohne jegliche unüberlegte Generalisierung, weil ihr Ziel Aufklärung statt Anklage war. Gross, der eine so emotionale und staatsanwaltliche Schreibweise einnimmt, geht oft von einem historischen Essay zum Pamphlet über, das nur einer heutigen ideologischen Abrechnung dienen soll. Denn wozu sonst schafft man einen Neologismus, der in dem Buch vielmals und, man kann wohl sagen, mit Vorliebe gebraucht wird: „katoendecja“1, also Katholiken mit „nationalen“ Anschauungen, die angeblich die wichtigsten Wegbereiter des polnischen Antisemitismus sind.

Eine Frage der Präzision

Sowohl die Sprache, als auch die Vergleiche, deren sich Gross bedient, rufen in vielen anderen Situationen Widerspruch hervor. Man kann nicht gelassen folgendes lesen, dass „wir es in Polen im 20. Jahrhundert mit zwei Prozessen einer großangelegten Aneignung fremden Eigentums zu tun hatten - einer nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und einer nach der Ermordung der Juden.“ Solche Feststellung ist aber eine logische Konsequenz einer von Gross vertretenen Vorstellung, nach der Polen gleich nach dem Krieg eine „ethnische Säuberung“ durchgeführt haben, denen nicht nur Juden, sondern auch Deutsche und Ukrainer zum Opfer gefallen sind.

Man muss sich auch fragen, auf welcher Grundlage der Autor behauptet, dass die Umsiedlungen der deutschen und ukrainischen Bevölkerung „mehrere Hunderttausend Todesopfer mit sich gebracht habe.“ Was die Deutschen anbelangt, nimmt man in der Historiographie an, dass tatsächlich mehrere hunderttausend Menschen ums Leben gekommen sein könnten, aber in Bezug auf gesamt Mittel- und Osteuropa, wobei die Mehrheit davon Opfer der Flucht und chaotischer Evakuierung vor der einziehenden Roten Armee war, womit sowohl polnische Behörden als auch Bevölkerung nichts zu tun hatten. Wenn es um die Aussiedlungen von Ukrainern, also die „Aktion Weichsel“ geht, überstieg die Zahl der Todesopfer nach den Forschungen der Historiker keine 200 Personen. Man muss präzise sein, wenn man über so drastische Angelegenheiten spricht.

Gross schreibt mehrmals von der „Befreiung“ Polens in den Jahren 1944/45, oder davon, dass Lublin bereits eine „freie Stadt“ war, als dort im August 1944 die geretteten Juden von der polnischen Bevölkerung auf einmal schikaniert wurden. In semantischer Hinsicht ist das eine Sichtweise, die aus ausschließlich jüdischer Perspektive geschieht, für die der Einmarsch der Roten Armee zweifelsohne nicht nur Befreiung, sondern auch Rettung vor dem Tod bedeutete. Für die Mehrheit der Polen war das jedoch der Anfang einer neuen Sklaverei und eines Terrors, dessen augenfälligster Beweis Verhaftungen, Verschleppungen und Hinrichtungen der AK2-Soldaten war.  In diesem „freien“ Lublin gab es schon im August 1944 ein NKWD3-Gefängnis  im Schloss, also genau an dem Ort, wo sich vorher die Folterkammer der Gestapo befand. Man kann sagen, das ist doch allgemein bekannt und selbstverständlich, aber so ostentative Nichtberücksichtigung der polnischen Empfindlichkeit sorgt dafür, dass manche Formulierungen noch umstrittener werden. In der amerikanischen Ausgabe von „Angst“ widmete Gross das ganze erste lange Kapitel dem Schicksal Polens während des Zweiten Weltkrieges, wodurch das Bild der 40er Jahre ausgeglichener und vielschichtiger ist. Die polnische Ausgabe beginnt mit der Beschreibung dessen, wie bereitwillig sich die Polen nach deutschem Rückzug zusammentaten, um die überlebenden Juden zu schikanieren und zu ermorden.

Unverzeihlich ist der Gebrauch kränkender, von der kommunistischen Propaganda geprägter Formulierungen. Gross schreibt, dass die „Ognia-Bande“ (Ognia = Feuer - eine Untergrundorganisation, w.s.) im Mai 1946 in der Nähe von Kroćcienko elf Juden ermordet hat, die mit einem Bus in Richtung der tschechoslowakischen Grenze fuhren. Die Empörung wird schon bei dem Wort „Bande“ hervorgerufen (man hoffte, dieses Wort in Polen nach 1989 in bedeutenden Veröffentlichungen nicht mehr anzutreffen), aber auch dadurch, dass Gross sich mit den Feststellungen der Historiker nicht vertraut gemacht hat, die die Aktivität des antikommunistischen Untergrunds in Podhale erforscht haben. Aus diesen folgt nämlich, dass an dem Judenmord zwar einige Partisanen aus der „Ognia“-Abteilung beteiligt waren, jedoch ohne Anweisung und Wissen von Józef Kurać.

Gross zitiert das „Tagebuch“ von Kurać, in dem der Leiter der Partisanenabteilung die durchgeführte Aktion so kommentiert haben soll: „Sei gegrüßt, Morgenröte im Mai! In der Nacht ein Auto mit Juden. Sie sollten über die Grenze geführt werden. Vor Kroćcienko in die Gräben. Salci ruft: Herr Ognia, so eine unschöne Demokratie machen Sie. Man schnitt die Zunge ab.“ Seit langem weiß man aber - darüber schrieb u.a. Maciej Korkuś (siehe das Gespräch in Tygodnik Powszechny Nr. 36/06) - dass diese Aussage nicht aus  dem Tagebuch von Kurać stammt, sondern einer Fälschung entnommen wurde, die der krakauer Parteiliterat Władysław Machejek angefertigt hat. Sie wurde im Roman „Am Morgen zog ein Orkan hinweg“ veröffentlicht, der dutzende Mal in einer Massenauflage in der Polnischen Volksrepublik herausgegeben wurde und die „Ognia“-Abteilung als Antisemitenbande darstellt.

Ein so tendenziöser Umgang mit historischen Quellen (oder einfach ihre Unterschätzung?) ist wohl das beste Geschenk von Jan Tomasz Gross für seine Widersacher, die seine Thesen über den polnischen Antisemitismus en bloc ablehnen werden, ein Thema, das zweifelsohne einer gründlichen Überlegung bedarf.

Gleich nach dem Krieg

Die größten Zweifel weckt, außer den extremen Interpretationen und der radikalen Sprache, die Art und Weise, auf die Gross mit dem historischen Hintergrund umgeht, also mit alldem, was nicht direkt mit dem Antisemitismus zusammenhängt. Der Autor von „Angst“ beschreibt wahre Mordfälle an den Juden, er hat auch recht, wenn er behauptet, das Leben eines Juden habe keinen großen Wert gehabt und sie wären ohne große Umstände getötet worden. Er schreibt jedoch nicht, dass während des Krieges und direkt danach das Leben eines jeden Menschen viel weniger bedeutete als in den Zeiten des Friedens und der Stabilisation, wo Zivilisationsnormen die niedrigsten menschlichen Instinkte weitgehend unter Kontrolle halten.

In den Jahren 1944-46 waren Gewalt und Verbrechen  nicht nur im Bezug gegenüber den Juden ein Alltagselement. UB4, KBW5 und NKWD führten grausame Befriedungen ganzer Dörfer, die die Unabhängigkeitsbewegung unterstützt haben, durch, „Knaben aus dem Wald“ beseitigten ohne zu zögern diejenigen, die sie für Parteigänger der kommunistischen Obrigkeit hielten. Im süd-östlichen Staatsteil fanden blutige polnisch-ukrainische Kämpfe statt, in denen beide Seiten ohne Skrupel handelten. Im März 1945 hat eine Partisanenabteilung an nur einem Tag in Pawłoko über 300 Ukrainer getötet, darunter Frauen und Kinder. In demselben Monat hat die UPA6  einige hunderte Bewohner von Wiązownica und Borownica ermordet. Ein anderes Problem stellte ein in einem heute nur schwer vorstellbaren Maße verbreitetes Banditentum dar, das durch den einfachen Zugang zur Waffe und das Zusammenbrechen der sozialen und staatlichen Strukturen begünstigt wurde, was Kriegsbedingungen mit sich ausbreitenden Fronten und einem faktischen staatlichen Machtvakuum in vielen Gebieten bedeutete.

Viele Morde an den Juden (wahrscheinlich auch die von Kroćcienko) hatten einen Raubcharakter, gefördert durch die Überzeugung, dass die Holocaust-Überlebenden über Geld, Gold und Kostbarkeiten verfügen würden. Ähnlich waren die Gründe für die Überfälle auf Menschen gelagert, die während des Krieges Juden versteckt hatten - von Gross nur als Zeichen des Antisemitismus geschildert - und die diese Tatsache aus Furcht vor der Reaktion der Umwelt verheimlichten. In vielen Fällen waren die Motive bestimmt vermischt, der Antisemitismus war Auslöser für gewöhnliche Raublust, aber das Schreiben nur über das erstere verzerrt trotz allem das wahre Bild der Ereignisse.

Stereotyp gegen Stereotyp

Unbefriedigend ist auch die Art und Weise, wie Gross auf das unter Polen damals verbreiteten Stereotyp des Judenkommunismus anknüpft, also einer Überzeugung, dass Juden eine Stütze der kommunistischen Obrigkeit sind, die ihre Interessen unterstützt. Der Autor von „Angst“ bemerkt richtig, dass wenn auch im Sicherheitsapparat eine Überrepräsentation an Juden existiert haben sollte (besonders in der Leitungszentrale, wo nach Angaben von Andrzej Paczkowski in den Jahren 1944-45 etwa 25% der Mitwirkenden Juden waren), keine Tatsachen die Überzeugung begründen, dass es eben die Kommunisten jüdischer Herkunft waren, die eine Schlüsselrolle beim Aufbau des kommunistischen Systems oder bei den Repressionen der polnischen Bevölkerung gespielt haben.

Charakteristisch für ein Stereotyp ist jedoch, dass es nicht auf statistischen Daten oder einer rationalen Realitätsanalyse basiert, sondern meistens auf Erscheinungen (manchmal sogar sporadischen), die einen symbolischen Charakter haben. Wie Bo¿ena Szaynok angibt, waren ein paar wichtige Stellen in der UB in Kielce durch Beamte jüdischer Herkunft besetzt, was einen Einfluss auf die Stimmung der polnischen Bevölkerung ausübte.

Das Stereotyp des „Judenkommunismus“ nährte sich übrigens nicht nur durch die Beteiligung von Juden am Herrschafts- und Repressionsapparat, sondern auch durch die politische und propagandistische Unterstützung, die die jüdischen Organisationen der neuen Obrigkeit gewährten. Im Februar 1945 verkündete das Zentralkomitee der Juden in Polen, die wichtigste jüdische Organisation, in ihrem Appell „Das ganze Polen fast frei“: „Die geretteten Juden werden nie (...) die Mörder unter dem Banner von NSZ7  und AK, die der Hitler-Bande gehorchend aktiv an der Ausrottung der wehrlosen Juden beteiligt waren, vergessen.“ Die mit dieser Rhetorik verbundene Gefahr und die Art und Weise der Behandlung der für Polen heiligsten Dinge bemerkten auch Menschen mit linksgerichteten Ansichten, die mit Antisemitismus wenig zu tun hatten. „Wie kann man den Warschauer Aufstand bespucken und schmähen und gleichzeitig ganz Warschau mit Plakaten „Ehre dem Andenken der Aufständischen im Ghetto“ bekleben“ - schrieb Maria Dąbrowska in ihrem „Tagebuch“ im Juni 1945.

Aus Sicht der Juden schützten die Kommunisten sie - so schien es wenigstens nach dem Krieg - vor dem polnischen Antisemitismus und sie sprachen sich darüber hinaus für eine Welt ohne Rassendiskriminierung aus. Doch für die meisten Polen bedeuteten Manifeste, wie das oben zitierte, einen offen Wechsel des jüdischen Milieus in das Lager der neuen Besatzer. Krystyna Kersten schrieb, dass „der Mythos von AK-Judenmördern seine Entsprechung im Mythos von UB-Juden, den Mördern der Polen fand“. Eines der tragischsten Missverständnisse aus dieser Zeit war, dass einerseits ein bedeutender Teil der Antikommunisten die neue Obrigkeit als jüdisch identifizierte, andererseits die PPR8-Propagande ein Fülle von Vorwürfen äußerte, durch die sie ihre Gegner als Antisemiten zeichnete. Nach jedem antijüdischen Angriff, einschließlich der Pogrome von Krakau und Kielce, legte die offizielle Propaganda dies der „Reaktion“, dem Untergrund, der Regierung in London und sogar der Polnischen Volkspartei zur Last. Die jüdischen Organisationen haben dieses Schema durch viele öffentliche Erklärungen scheinbar bestätigt.

Der Widerwille gegen die Teilnahme an dieser propagandistischen Lüge war eine der Hauptursachen für die Zurückhaltung der polnischen Bischöfe, die nach dem Pogrom von Kielce die Judenmorde nicht direkt verurteilen wollten, sondern sich darauf beschränkten, an die Nächstenliebe zu erinnern und Gewalt zu brandmarken, was Gross als unverbindliche „Gemeinplätze“ bezeichnete. Man darf nicht vergessen, dass die Bischöfe die damals im gesamten Lande begangenen Morde an den Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung wie auch von legal arbeitenden Gruppen nicht öffentlich missbilligen durften. Im Spiel war auch die Angst vor einer direkten Manipulation des Wortlauts, der der tschenstochauer Bischof Teodor Kubina zum Opfer fiel. In der durch PPR kontrollierten Presse hat man zugunsten der Obrigkeit Teile seines Appells gefälscht. Der Autor von „Angst“ erwähnt das nicht und das kritische Verhältnis anderer Episkopatsmitglieder zu Kubinas Rede schreibt er vor allem der Abneigung gegen die Juden zu.

Ein Beweis für Antisemitismus sind für Gross auch die Streiks der Arbeiter in Łódź, die auf diese Art gegen die in der Presse angegebenen Informationen protestierten, dass auf den Massenversammlungen in den Fabriken eine Resolution verabschiedet worden sei, die die Initiatoren des Pogroms, also die „polnische Reaktion“, gebrandmarkt hätte. Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass der Grund dafür nicht nur die Abneigung gegen die Juden war, sondern auch die Ablehnung der propagandistischen Manipulationen der Kommunisten. Das ist aber eine unabwendbare Folge einer eindimensionalen Beschreibung der damaligen, sehr heiklen und dramatischen historischen Situation, wenn man sie nur unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus beschreiben will.

Unentwirrtes Rätsel

Alle diese kritischen Bemerkungen sollen keiner Leugnung der antijüdischen Stimmungen und Verhaltensweisen im Polen der 40er Jahre dienen. Die meisten von Gross beschriebenen Ereignisse fanden tatsächlich statt, was zweifelsohne eines der dunkelsten Kapitel in der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt. Aber für ihr Verständnis braucht man keine so extreme Perspektive, wie sie der Autor von „Angst“ einnimmt, laut der die polnische Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg an dem Holocaust beteiligt war und dann, gleich nach dem Rückzug der Deutschen, die von diesen begonnene radikale ethnische Säuberung zu Ende führte.

Für die Beschreibung der Ursachen und Mechanismen dessen, was damals geschah, gibt es eine ausreichende Anzahl und zutreffendere Interpretationen, die die polnische Historiographie in den letzten Jahren ausgearbeitet hat. Sie weisen nicht auf eine einzige Ursache hin, sondern eher auf ein Geflecht von Faktoren. Einerseits war das der traditionelle christliche Antijudaismus (die drei größten Pogrome in Rzeszów, Kraków und Kielce fingen mit Gerüchten von einem Ritualmord an, dem polnische Kinder zum Opfer gefallen sein sollten), andererseits eine Fortsetzung des „modernen“ Antisemitismus der 30er Jahre, als die Entfernung der Juden aus dem gesellschaftlichen und ökonomischen Leben ein Element des Programm der Endecja war, der damals verbreitetsten politischen Bewegung. Eine immense Bedeutung hatte schließlich der Sittenverfall der Kriegszeit, in der sich Polen fünf Jahre lang die Entmenschlichung der Juden angesehen haben und zum Schluss kamen, dass gegenüber Juden weder moralische noch rechtliche Normen Geltung haben. Sie waren einer sehr starken antisemitischen Propaganda ausgesetzt - durch eine hetzerische Presse (erinnert sei daran, dass sie, ohne die Untergrundstrukturen zu erwähnen, massenhaft verkauft wurde), Straßenplakate und Ausstellungen, die speziell zu diesem Zweck organisiert wurden. Das erwähnt Gross aber nicht, wie er sich überhaupt schwach in der bisherigen Historiografie auszukennen scheint.

Große Bedeutung hatte auch die Furcht vor dem Verlust des während des Krieges übernommenen jüdischen Hab und Gutes (aus diesem Grund kam es  zu antijüdischen Unruhen auch in Ungarn und in der Tschechoslowakei, aber in einem nicht so großen Ausmaß). Und endlich kommen wir zu dem Stereotyp des „Judenkommunismus“, der einen großen Einfluss auf die Denkweise breiter gesellschaftlicher Kreise hatte, die feindlich zu der neuen Obrigkeit eingestellt waren. Wir dürfen auch  nicht vergessen, was das für Zeiten waren, als das alles geschah: einerseits wurde ein brutaler politischer Machtkampf geführt, andererseits lösten sich schrittweise gesellschaftliche Bande auf, staatliche Strukturen wurden geschwächt, es verbreitete sich Banditentum und menschliches Leben hatte eine mindere Bedeutung als in Friedenszeiten.

Erst wenn wir die Gesamtheit aller dieser Faktoren berücksichtigen, gibt es eine Aussicht, dass wir das Verhältnis der Polen zu den Juden in den 40er Jahren enträtseln. Die Erklärung von Jan Tomasz Gross ist zu einfach und zu eindimensional, die von ihm angewandte Sprache ist zu provokativ, mit einer anklägerischen Leidenschaft gekennzeichnet, die immer wieder zum Ausdruck kommt. Statt zur Reflexion und zur Gewissenserforschung zu bewegen, wie der Autor es sich wünschte, wird das Buch bei vielen auf Ablehnung stoßen. Anders als „Nachbarn“, das von früher unbekannten Tatsachen handelte und echte Erschütterung hervorrief, kann „Angst“ mit solchen Reaktionen nicht rechnen. Auch deshalb, weil die Polen, inspiriert durch das vorherige Buch von Gross, bereits vor ein paar Jahren eine qualvolle und redliche Abrechnung unternommen haben, was Gross offensichtlich nicht zu schätzen weiß.

Man mag sich mit den bisherigen Ergebnissen dieser Abrechnung nicht zufrieden geben. Man mag sein Bedauern deswegen ausdrücken, dass in Jedwabne während der Trauerfeierlichkeiten im Juli 2001 kein polnischer Bischof zugegen war und dass diejenigen, die die Wahrheit über die Morde an Juden nicht anerkennen, nicht unbedingt einer gesellschaftlichen Randgruppe angehören. Man soll jedoch die Augen nicht davor verschließen und sehen, dass eine umfassende Abrechnung mit dem eigenen Gewissen bereits begonnen hat und dass zu polnisch-jüdischen Verhältnissen immer mehr Bücher erscheinen, die sich auf die neuesten wissenschaftlichen Forschungen stützen (z.B. zu den Denunzianten). Nach der Jedwabne-Debatte wird der brutale Ton von „Angst“ nichts Gutes bringen. Es ist überhaupt nicht mehr notwendig, mit seiner Hilfe eine Mauer des Schweigens und der Gleichgültigkeit zu zerschlagen.

Paweł Machcewicz ist Historiker und Professor an der Mikołaj-Kopernik-Universität in Toruń und Dozent im Institut für Politische Studien bei der Polnischen Akademie der Wissenschaften. In den Jahren 2000-2005 leitete er die Abteilung für Forschung und Bildung am Institut der Nationalen Erinnerung; Redakteur (zusammen mit K. Persak) und Koautor des Verlages „Wokół Jedwabnego“ (Um Jedwabne) (2002); als letztes veröffentlichte er das Buch „Münchner Tierschau. Kampf gegen Radio Freies Europa“.                            m

Paweł Machcewicz, Odcienie czerni, Czy baś się „Strachu“? O ksią¿ce Jana T. Grossa, Tygodnik Powszechny Nr. 2 v. 13. Januar 2008, Überetzung: Hanna Kubiak, Recklinghausen und Wulf Schade, Bochum. Wir danken der Redaktion von Tygodnik Powszechny für die Erlaubnis zum Nachdruck in eigener Übersetzung.

Anmerkungen von der Redaktion:

1 Endecja - die National-Demokratische Partei

2 AK=Armia Krajowa - polnische Heimatarmee

3 NKWD - der sowjetische Sicherheitsdienst

4 UB=Urząd Bezpieczeństwa - Polnische Geheimpolizei 1945-1954

5 KBW=Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego - Korps der Inneren Sicherheit

6 UPA-Ukrainische Aufständischenarmee

7 NSZ=Narodowe Siły Zbrojne - Nationale Streitkräfte

8 PPR - Polska Partia Robotnicza. Polnische Arbeiterpartei