Polen ‘68

 

Von Holger Politt, Warschau

 

Zur politischen Vorgeschichte der Ereignisse des Jahres 1968 in Polen gehören ein öffentlicher Brief protestierender Intellektueller und ein auf dem Kongress der Einheitsgewerkschaft gehaltener Vortrag des damaligen mächtigsten Mannes im Lande. Im März 1964 meldeten 34 Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft in einem an den Ministerpräsidenten des Landes gerichteten offenen Brief ihre Kritik an der üblichen Praxis der Papierzuteilung an Buch- und Zeitungsverlage an. In der Konsequenz - so die Unterzeichner des Briefes - werde die Substanz der nationalen Kultur gefährdet. Eine deutlichere Kampfansage bekam Władysław Gomułka seit seinem zweiten Machtantritt 1956 noch nicht zu hören. Mit dem Argument des fehlenden und falsch zugeteilten Papiers wurde die Hoheit der staatlichen Kulturpolitik in Frage gestellt. Polens Öffentlichkeit erfuhr von dem Brief aus dem Westen, durch die Ätherwellen des Radiosenders „Freies Europa“.

 

Auf der Seite der Mächtigen wurde der Brief zunächst als unliebsamer Ausdruck der seit 1956 eingeleiteten Liberalisierung im öffentlichen Leben gewertet. Als aber in der Folge mehrere Dutzend Schriftsteller, die selbst ein Parteibuch besaßen, ihre Unterschriften unter ein Dokument verweigerten, mit dem den Briefunterzeichnern vorgehalten wurde, in die Angelegenheiten des Landes mittels eines ausländischen Senders eingreifen zu wollen, war die Dimension klarer. Die von der Staats- und Parteiführung seit 1956 angestrebte Vision einer - wenn auch breit verstandenen - „politisch-moralischen Einheit des Volkes“ begann sich als jene Fiktion zu erweisen, die sie von Anfang an gewesen war. Die folgenden Breschen ließen nicht lange auf sich warten. Karol Modzelewski und Jacek Kuroń, junge Parteimitglieder aus dem akademischen Milieu, warteten mit einem offenen Brief an die PVAP-Mitglieder auf, der ihnen die ersten Jahre ihrer langen Haftzeiten in der Volksrepublik einbrachte.

Im Juni 1967 verstieg sich Gomułka vor dem Gewerkschaftskongress zu der Feststellung, dass ein Bürger Polens nur ein einziges Vaterland haben könne. Er sprach im gleichen Zusammenhang von einer fünften Kolonne, deren Wirken nicht tatenlos hingenommen werde. Er bezog sich auf dienstliche Berichte, nach denen in zahlreichen Redaktionsstuben des Landes der Sieg der israelischen Waffen im nahöstlichen Sechs-Tage-Krieg feierlich begossen wurde. Es könne nicht angehen, so der Erste Sekretär, dass in Polen ein Aggressor verherrlicht werde, der den Weltfrieden - von dem Polens Schicksal abhänge - gefährde. Diejenigen aber, die diese Worte auf sich bezögen, sollten die für sie richtigen Schlussfolgerungen ziehen.

Unmittelbarer Auslöser der 68er Ereignisse in Polen war nun wieder ein Theaterstück - die „Totenfeier“ des Nationaldichters Adam Mickiewicz, dessen dritter - messianistischer - Teil im November 1967 am Warschauer Nationaltheater zur Aufführung gelangte. Kaum aufgeführt, hagelte es auch schon Proteste, die dem Regisseur unterstellten, leichtfertig einer Provokation aufgesessen zu sein, schüre das Stück doch in der polnischen Öffentlichkeit antirussische Ressentiments, die wenig zu den Feierlichkeiten des 50. Jahrestags des Großen Sozialistischen Oktobers passten. Mickiewicz schrieb den dritten Teil der „Totenfeier“ nach der Niederlage des Novemberaufstands von 1830/31, der ersten großen nationalen Erhebung der Polen nach der Vollendung der Dreiteilung des Landes. Da dieser Aufstand nur auf dem russischen Gebiet des geteilten Landes stattfand, hatte der Dichter in der Tat an mehreren Stellen wenig Schmeichelhaftes anzumerken zu den Herrschaftspraktiken jener, die die Insurrektion blutig niederschlugen.

Ein historischer Stoff also, wie er in Polen unumgänglich ist. Den Beifall des Publikums an entsprechenden Stellen in den Vorwurf zu münzen, hier werde auf Polens Stellung als Bündnispartner der Sowjetunion angespielt, war politische Dummheit oder kalkulierte politische Unterstellung. Das Stück, so konnte man amtlicherseits bald vernehmen, werde Ende Januar 1968 wieder vom Spielplan genommen.

Gegen diese Entscheidung regte sich Protest unter Warschaus Studenten. Angeführt u. a. von Adam Michnik, der bald neben Modzelewski und Kuroń zum prominentesten politischen Häftling des Landes werden sollte, zogen sie zum Adam-Mickiewicz-Denkmal nahe der Altstadt und forderten die sofortige Wiederaufführung des Stückes. Unterstützung fanden sie zuvörderst bei jenen, die vier Jahre zuvor den Brief der 34 unterzeichneten. Das konnte als Kampfansage verstanden werden, was Repressionen nach sich zog. Bestraft wurden die beiden als „Rädelsführer“ ausgemachten Studenten, die von der Uni flogen.

Am 8. März 1968 kam es auf dem Gelände der Warschauer Uni zu einem Protestmeeting, auf dem u. a. die Rücknahme der Relegierungen gefordert wurde. Gegen die protestierenden Studenten kamen Spezialeinheiten der Miliz zum Einsatz, die hier ihre Feuertaufe erhielten. An ihrer Seite standen Arbeitermilizen aus Warschauer Großbetrieben. Unter den zahlreich Festgenommenen fanden sich Namen, die einige Jahre später zu den geistigen Aktivposten in der „Solidarność“-Bewegung gehörten. In der Presse wurde kundgetan, dass es zu Störungen des Straßenverkehrs gekommen sei, weil eine kleine Gruppe von Studenten, der sich Rowdys zugesellten, auf dem Unigelände den Lehrbetrieb störte. In den Folgetagen kam es an Hochschulen im ganzen Land zu Solidaritätsaktionen. Höhepunkt der Studentenproteste war ein dreitägiger Okkupationsstreik an der Warschauer Uni, an dem über 2000 Studenten beteiligt waren. Ende März waren die Proteste, an denen sich Zehntausende Studenten beteiligten, vorbei.

Die Mächtigen reagierten auf ihre Weise - also hilflos - und summten ein Lied zu Ende, welches Gomułka im Juni 1967 selbst angestimmt hatte - die fünfte Kolonne. Auf eiligst im ganzen Land organisierten Massenveranstaltungen der Werktätigen wurde der Schulterschluss mit dem Ersten Sekretär erklärt, zugleich aber die Forderung erhoben, dass die „Zionisten nach Israel“ auswandern müssten. „Studenten in die Studierstube“, „Schriftsteller an die Feder“, „Zionisten nach Israel“ - so stand es landauf, landab auf den mitgeführten Plakaten. An den Hochschulen wurden Flugblätter verteilt, auf denen z. B. zu lesen stand: „Wen unterstützt ihr? Adam Michnik - Sohn von Ozjasz Szechter, Aleksander Smolar - Sohn des Redakteurs der Folks Sztymme, Henryk Szlajfer - Sohn eines Zensors“.

Ende März 1968 verloren mehrere bekannte Hochschullehrer jüdischer Herkunft ihre Lehraufträge an der Warschauer Uni, unter ihnen Polens weltbekannter Philosoph Leszek Kołakowski, der jüngst in Oxford seinen 80. Geburtstag beging. In den Jahren 1968/69 verließen mehrere Zehntausend Menschen jüdischer Herkunft das Land. Wer heute die „Politischen Tagebücher“ von Mieczysław F. Rakowski zur Hand nimmt, bekommt einen bestechend klaren Eindruck von der gespenstischen Stimmung jener Wochen. Rakowski, damals Chefredakteur der von verschiedener Seite als „revisionistisch“ eingestuften Wochenzeitung „Polityka“, notierte in jenen Tagen nach einem ZK-Treffen mit Chefredakteuren entsetzt: „Ich kann nicht mehr ruhig auf einige meiner Kollegen schauen, die die Spitze des Niedergangs erreicht und sich vollkommen beschmutzt haben“.

Die Ereignisse im März 1968 fanden vor dem Hintergrund scharfer Fraktionskämpfe in der PVAP statt, bei denen es um die Nachfolge Gomułkas ging. Der Verlierer stand aber von vornherein fest - die Option einer sich emanzipatorisch verstehenden, nichtkapitalistischen Gesellschaft.