Josef Kotyczka
1926-2007
Polnischlehrer
und „Gerechter unter den Völkern“
Von Daniela Fuchs
Es gibt Lehrer, an die man sich auch nach Jahrzehnten noch erinnert. Im
September 1969 mit Beginn der 9. Klasse fieberte ich an der Erweiterten
Oberschule „Immanuel Kant“ in Ostberlin meiner ersten Polnischstunde entgegen.
Das Klassenzimmer betrat ein Herr, Anfang vierzig, in Anzug und Krawatte mit
schon etwas lichtem, zurückgekämmtem blondem Haar und schrieb in sauberer
Schulschreibschrift seinen Namen an die Tafel - Kotyczka.
Er sagte, dass wir nun gemeinsam Polnisch lernen werden und führte uns in eine
Sprache ein, die nur aus Zischlauten zu bestehen schien. Das Wort szczęśliwość zum Beispiel, es bedeutet
Glück, verursachte bei mir alles andere als ein Glücksgefühl. Ich glaubte einen
Knoten in der Zunge zu haben, der sich jedoch mit der Zeit langsam löste.
Das Polnischlehrbuch, das wir
verwendeten, hatte Kotyczka selbst entwickelt. Seine
Lehrbücher der Polnischen Sprache und eine Kurze polnische Sprachlehre gehören
auch heute im vereinten Deutschland zu den Standardwerken für Schulen und
Universitäten. Sie enthalten nicht nur Lesetexte und Grammatik, sondern auch
polnische Lieder. Überhaupt war Josef Kotyczka sehr
sangesfreudig. Manch eine unruhige Situation im Unterricht entschärfte er durch
Singen. Dieser Leidenschaft blieb er auch als Chorsänger bis zu seinem Tode
treu. Drei Handlungsprinzipien gab er den Schülern auf den Weg, die für ihn
eine Dreieinigkeit bildeten. Sie hießen wiedzieć
- wissen, rozumieć - verstehen und dzialać - handeln. Zu Kotyczkas
großer Leistung gehörte neben der Sprachvermittlung der Schüleraustausch mit
einer Oberschule in Warschau, den er mit unerhörtem organisatorischem Aufwand
viele Jahre gegen manche Widerstände staatlicher Stellen organisierte. So fuhr
auch ich jedes Jahr mit meiner Polnisch-Klasse für 14 Tage nach Warschau, einmal
sogar nach Zakopane. Wir schliefen bei polnischen
Familien und brachten den Mut auf, Polnisch zu sprechen. Im Gegenzug kamen polnische
Jugendliche nach Berlin. So wohnten bei mir nacheinander Mariola, Halina und
Janina. Durch diesen Austausch lernte ich Land und Leute erstmals bewusst
kennen. Wir besuchten den Unterricht in unserer Partnerschule, machten
Ausflüge, lernten Betriebe kennen und gingen in die Disco. Wir lebten die
Freundschaft zu Polen. Ahnungslos oder Ignoranten sind diejenigen, die dabei
von verordneter Freundschaft sprechen. Dass einmal Polen, seine Sprache,
Geschichte und Kultur zu meinem
Lebensinhalt werden würde, ahnte ich damals noch nicht. Heute empfinde ich
Dankbarkeit gegenüber Josef Kotyczka, der dafür den
Grundstein legte. Polen wurde für mich, die aus der DDR kam, das Tor zur Welt.
Im April 2001 gelang es Herrn Kotyczka nochmals
einige seiner Schüler für eine Fahrt nach Warschau zu gewinnen. Wir besuchten
unsere alte Austauschschule und es gab ein bewegendes Wiedersehen mit ehemaligen
Schülern und Lehrern. Wie viele Schüler und Erwachsene bei Josef Kotyczka insgesamt in 50 Jahren Polnischunterricht hatten,
ist nicht mehr zu klären. Die Chronik der Kant-Schule allein nennt Zahlen von
750 bis 800 Schüler. Er unterrichtete nicht nur an der Schule, sondern auch im
Polnischen Kultur- und Informationszentrum in Berlin und an der Botschaft. Auch
als Rentner, er ging 1992 in den Ruhestand, brachte er Zollbeamten und
Feuerwehrleuten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet die wichtigsten Vokabeln
bei. Über Kotyczkas bewegte Vergangenheit hatten wir
Schüler damals jedoch nicht die leiseste Ahnung.
Geboren wurde Josef Kotyczka 1926 in Królewska Huta (Königshütte), später Chorzów,
in Oberschlesien in einer polnischen Familie. Gerade fünf Jahre vorher hatte
bei der Volksabstimmung in Oberschlesien die Mehrheit der Bevölkerung der Stadt
für die Zugehörigkeit zu Deutschland votiert. Dennoch wurde die Stadt im Juni
1922 an Polen abgetreten. Nach dem Überfall Nazideutschlands auf Polen im
September 1939 galt Josefs Familie als „eindeutschungsfähig“. Josef,
aufgewachsen mit polnischer Kultur und Tradition, musste nun die deutsche
Schule besuchen. Die Kotyczkas riskierten 1942 ihr
Leben, als sie von einer ihnen unbekannten jüdischen Familie erfuhren, die in
großer Not war. Der 15jährige Josef in der Uniform der Hitlerjugend und sein
Vater holten Maria Birman mit ihren drei Kindern aus
einem Kellerversteck. Gemeinsam fuhren sie in die Zweizimmerwohnung der Kotyczkas. Drei Wochen lebten nun acht Personen, davon fünf
Kinder, auf engstem Raum. Josef Kotyczka schilderte
später wie schwierig es war, die Kinder ruhig zu halten. Für ihn war es selbstverständlich
zu helfen, wenn Menschen in Not waren. Später als die Gefahr des Entdecktwerdens immer größer wurde, halfen Josefs
Verwandte, die jüdische Familie mit gefälschten Papieren auf dem Land
unterzubringen. Aus Josefs Kinderausweis wurde das Bild entfernt und mit dem
Foto des kleinen Henryk Birman versehen. Der Junge
kam ins Generalgouvernement, wo ihm später die Flucht nach Palästina
gelang. Nur er und seine Mutter Maria
überlebten die Nazizeit. Dieses mutige Eintreten der Familie Kotyczka erfuhr eine späte Würdigung. Im September 2004
nahm Josef Kotyczka im Namen seiner Angehörigen die
Auszeichnung „Gerechte unter den
Völkern“ entgegen, die die Holocaust-Gedenkstätte in Yad
Vashem in Jerusalem an Nichtjuden verleiht, die ihr
Leben riskierten, um Juden zu retten. Noch kurz vor dem Untergang
Nazideutschlands wurde Josef Kotyczka zur Wehrmacht
eingezogen. Das Kriegsende erlebte er in einem Lazarett in Magdeburg, wo er
seine spätere Frau Hanna kennenlernte. Bereits am 1.
September 1946 stand der 20jährige als Neulehrer für Sport und Geographie vor
einer Schulklasse in der Sowjetischen Besatzungszone. In einem Interview gab er
schmunzelnd zu verstehen: „Nie hätte ich mir träumen lassen, dass aus einem
polnischen Kind in sieben Jahren ein deutscher Lehrer werden könnte.“ Fünf
Jahre später erteilte er seinen ersten Polnischunterricht, da hatte er gerade
das Lehrerbildungsinstitut in Magdeburg absolviert.
Am 11. Januar 2008 versammelten sich seine Familie, Freunde und Bekannte zu einer bewegenden Trauerfeier. Ehemalige Schüler Josef Kotyczkas sangen ihm zum Abschied ein polnisches Lied. Ein Platz im Himmel dürfte ihm nach einer jüdischen Überlieferung sicher sein, denn ein Gerechter unter den Völkern hat Anspruch darauf.