Was ist? Was bleibt?
Was kommt?
Pflichten und Aufgaben
deutsch-polnischer Verständigung
Von
Beziehungen zwischen Nachbarn können sehr unterschiedlich sein. Mal
sind sie frostig, mal herzlich, mal sind sie unfreundlich, mal verständnislos
und mal freundschaftlich. Solange die beiderseitigen Interessen in einer
ausgleichenden Balance gehalten werden und der Umgang miteinander eine Basis
gegenseitigen Respekts und Vertrauens erkennen lässt, gibt es eine breite
Spanne normaler Nachbarschaftsformen. Die polnisch-deutsche Nachbarschaft ist
politisch und gesellschaftlich in einem Zustand, der nicht als Normalität
bezeichnet werden kann. Die Ursachen hierfür liegen vor allem in der
fortdauernden Wirkung historischer Ereignisse auf aktuelle politische Fragen
und auf gesellschaftliche Ansichten, Meinungen und Vorstellungen auf beiden
Seiten des angeblich nicht mehr vorhandenen Zaunes an Oder und Neiße und wohl
leider auch im mangelnden Willen verschiedener Akteure, diesen Wirkungen etwas
Adäquates entgegenzusetzen.
Am Tag des deutschen Überfalls
auf Polen war das deutsch-polnische Verhältnis auf dem absolut tiefsten Punkt
angelangt. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, zu denen Polen formal
nicht gehörte, ordneten die Strukturen dieser Nachbarschaft durch die Westverschiebung
Polens neu. In dieser Zeit erkannten verantwortliche Männer und Frauen den
Auftrag, für ein völlig neues deutsch-polnisches Verhältnis einzutreten und
gründeten eine Vereinigung mit dem Namen des liberalen Demokraten und Pazifisten
Hellmut von Gerlach. Sie hatten die Lehre aus der deutschen Geschichte gezogen,
dass die Überwindung des Nationalsozialismus untrennbar mit der Normalisierung
der Beziehungen zu Polen verbunden war, dass diese Beziehungen der Lackmustest
für die Einsichtsfähigkeit der Deutschen in die Debellatio
- die vollständige Niederwerfung - des räuberischen, terroristischen Reiches
und die Notwendigkeit einer auf Recht und Frieden aufbauenden staatlichen
Ordnung Europas war. Die unbedingte Voraussetzung dafür war die Anerkennung der
territorialen Realitäten und der Verantwortung für die Verbrechen
Nazideutschlands.
Das war 1948 und seitdem hat die
aus dieser Gründung hervorgegangene Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD e.V.
und ihre jeweiligen Vorläufer in der Bundesrepublik und in der Deutschen
Demokratischen Republik die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen in
den beiden deutschen Staaten und schließlich im vereinigten Deutschland
begleitet und unter den jeweiligen Bedingungen durch Aufklärung und
öffentliches Auftreten die Herstellung normaler nachbarschaftlicher
Verhältnisse gefordert. Sie befand und befindet sich mit ihren Forderungen in
der alten und in der neuen Bundesrepublik stets abseits der politischen Klasse,
ohne unmittelbaren Einfluss auf das Regierungshandeln. Dennoch hat das
Eintreten dieser Gesellschaft seit der Adenauer-Republik für die Anerkennung
der polnischen Westgrenze, für gleichberechtigte partnerschaftliche Begegnungen
von Menschen aus Polen und Deutschland, für kulturellen Austausch, wissenschaftliche
und wirtschaftliche Zusammenarbeit, für eine Entschädigung der polnischen Opfer
des NS-Terrors uvm. ohne Zweifel den Weg für zahlreiche
Fortschritte geebnet.
Nach sechs Jahrzehnten und fast
zwei Jahrzehnte nach den Verwerfungen des Jahres 1989 ist die Frage zu stellen,
ob es einer solchen deutsch-polnischen Gesellschaft noch bedarf, und falls ja:
Was hat sich gegenüber den Anfängen der Gesellschaft geändert? Welche Voraussetzungen
sind für ihre Tätigkeit anzunehmen? Wie ist der Auftrag einer deutsch-polnischen
Gesellschaft heute zu formulieren? Welche Ziele sind heute wichtig und
notwendig, und welche Methoden sind dabei sinnvoll?
1. Der historische Schnittpunkt 1989/90 hat die Konflikte aber auch die
Chancen im deutsch-polnischen Verhältnis freigelegt.
Der nach langer Krise
eingetretene Zusammenbruch des sozialistischen Lagers - als Sieg gefeiert von
einer Gesinnung, die nicht im Stande ist, ihn als Tragödie zu begreifen - hat,
wie sich inzwischen, nach einer gewissen zeitlichen Distanz zeigt, den Blick
auf den eigentlichen deutsch-polnischen Konflikt freigemacht, einen Blick, der
zuvor durch den Ost-West-Konflikt verstellt schien. Solange sich Polen und die
BRD durch die politische Teilung Europas jeweils auf der anderen Seite des
Zauns befanden, war man hüben wie drüben nicht müde geworden zu behaupten, die
zwischen Deutschland und Polen liegenden Fragen ließen sich schon lösen, wenn
erst einmal die Kommunisten verschwunden wären. Die Kommunisten sind „verschwunden“
(und mit ihnen die DDR, welche keinen geringen Beitrag zur Lösung dieser Fragen
geleistet hatte) - der deutsch-polnische Konflikt wirft indessen seinen
Schatten deutlicher denn je.
Die Vereinigung der beiden
deutschen Staaten zog einen Strich durch 45 Jahre Deutschlanddoktrin vom Fortbestand
des Deutschen Reiches und besiegelte de facto die Ergebnisse des Zweiten
Weltkrieges. Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, wie an einer Stelle - der
deutsch-polnischen Grenze - versucht wird, die Möglichkeit einer Revision offen
zu halten. Der christdemokratische Bundeskanzler Kohl betrieb über die
Minderheitenfrage eine aktive Politik in dieser Richtung. Seine Nachfolger
Schröder und die ostsozialisierte Merkel sind in dieser „urdeutschen Frage“
merklich desinteressiert.
Das Ende des Kalten Kriegs hatte
Konsequenzen für die Bündnisstrukturen: Polen und Deutschland befinden sich nun
zum ersten Mal im selben Lager. Polen flüchtete gewissermaßen von der
russischen an die deutsche Brust, ließ sich gemeinsam mit seinen Nachbarn im
Norden und Süden durch die NATO verhaften und in die EU eingliedern. Statt
abzurüsten verlagerte die NATO ihr Militärpotential durch Inkorporation von
Streitkräften des ehemaligen Warschauer Paktes näher an Russland. Gleichzeitig
grenzten sich NATO und EU gegenüber Russland ab. Das erneute Entstehen einer
antirussischen Frontstellung wurde auch nicht durch das Angebot einer
privilegierten Zusammenarbeit an Russland gemindert. Das zunächst reibungslose
deutsch-polnische Zusammenwirken bei dieser strategischen Neuaufstellung ignorierte
jedoch die bestehende Abhängigkeit Europas von den russischen Energievorräten.
Den Versuch, diesen Widerspruch an Polen vorbei zu lösen, leitete der Realo
Schröder ein, inzwischen Aufsichtsratsvorsitzender bei einem russischen
Gaspipeline-Konsortium unter Führung von Gazprom.
Die NATO, einst als
Verteidigungsbündnis gegen das sozialistische Lager entstanden, hat nach der
Auflösung dieses Lagers ihre Identität als Bündnis verloren, was die gegenseitigen
Bindungskräfte der Mitglieder des verbliebenen Lagers schwächt und - teils
alte, teils neue - Gegensätze zwischen den Bündnispartnern hervortreten lässt.
Der dramatische Niedergang seiner Führungsmacht, die militärisch ihre
Überlegenheit in einem völkerrechtswidrigen, aussichtslosen Krieg gegen
primitiv bewaffnete religiöse Fanatiker opfert, wirtschaftlich auf dem Abhang
einer Rezession, deren Ende nicht absehbar ist, rutscht, und - last but not least - durch Missachtung
und Bruch des Völkerrechts und wesentlicher Normen der Rechtsstaatlichkeit
ihren moralischen Kredit verspielt, wird für den Bestand des ganzen Lagers
unabsehbare Folgen haben. Gleichzeitig wächst die
Konkurrenz der aufstrebenden Wirtschaftsmächte Ostasiens und die vorsichtige,
jedoch spürbare Emanzipation ehemaliger „Hinterhöfe“ (Lateinamerika). In einer
Zeit der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung verliert der westliche
„way of life“ von seiner einstigen Strahlkraft und wird von immer mehr Menschen
abgelehnt.
Indessen wird eine kurzfristig zu
erwartende wirtschaftliche und politische Gewichtszunahme Europas vor allem für
Deutschland, mehr als für Polen, die Gefahr in sich bergen, in den Sog des
amerikanischen Niedergangs gerissen zu werden und damit gegenüber aufstrebenden
Wirtschaftsmächten ins Hintertreffen zu geraten.
2. Friedenspolitik ist ein Kernthema deutsch-polnischer Verständigung.
Das polnisch-deutsche Verhältnis
hat eine Schlüsselrolle für den Frieden in Europa. Die Zugehörigkeit Polens und
Deutschlands zu demselben Militärbündnis und die Tatsache, dass kein europäisches
Land heute militärisch bedroht wird, schafft eine historisch einmalige Chance
für Abrüstungs- und Friedenspolitik. Doch eine Mehrung und Ausschöpfung der
Friedensdividende im Sinne einer Politik der internationalen Verständigung
wenigstens der europäischen Länder zum gemeinsamen Kampf gegen Armut und
Unterdrückung, zur Verhinderung von Krieg und Terrorismus und zu gemeinsamen
Aktionen gegen Umweltgefahren findet nicht statt. In Afghanistan führt die NATO
mit den USA und mit Beteiligung der Bundeswehr und der polnischen Armee einen
Bürgerkrieg mit Tausenden von Toten, während gleichzeitig die EU nicht in der
Lage ist, ein paar tausend Beamte zum Aufbau ziviler Strukturen in diesem
geschundenen Land zu stellen. In beiden Ländern wurde die Beteiligung an diesen
militärischen Operationen im Wesentlichen mit bündnispolitischen Erwägungen begründet.
Zwar hat Deutschland den Irak-Krieg von Anfang an abgelehnt, doch es gab für diese
Ablehnung auch merkwürdige Argumente. So trifft die polnische Kritik an
Antiamerikanismen in der deutschen Öffentlichkeit, für die auch die damalige
Bundesregierung verantwortlich war, durchaus einen wesentlichen Kern.
Anders als in Deutschland ist man
sich in Polen bewusst, dass die USA noch vor 60 Jahren als führende Macht der Anti-Hitler-Koalition maßgeblich zur Überwindung des
Nationalsozialismus und zur Schaffung einer stabilen Friedensordnung in Europa
beigetragen haben. Umgekehrt ist die Beteiligung Polens an der Koalition der
Willigen im Irak und damit seine Verstrickung in einen völkerrechtswidrigen,
blutigen Krieg auch Folge seines Misstrauens gegenüber Deutschland und Ausdruck
des polnischen Zweifels an der Stabilität und Sicherheit der europäischen
Bündnisstrukturen. So kommt auch in den Beziehungen Deutschlands und Polens zu
den USA gegenseitiges deutsch-polnisches Misstrauen zum Ausdruck.
Die polnische Haltung gegenüber
der Militärpolitik der USA in Verbindung mit der geplanten Stationierung eines
Raketenabwehrsystems, das sich angeblich gegen die Bedrohung durch iranische Interkontinentalraketen
richtet, belastet die Beziehungen Polens zu Russland und fördert gleichzeitig
die Spannungen innerhalb des NATO-Bündnisses. Auch in Europa ist der
Abrüstungsprozess ins Stocken geraten.
3. Die Vergangenheit wird historisch.
In den bilateralen Beziehungen
zwischen Deutschen und Polen ist die Anerkennung von Wahrheit als Grundlage
jeder Normalisierung eine unverzichtbare Voraussetzung. In den ersten
Nachkriegsjahren stand das Erschrecken über die unmittelbar zurückliegende
Vergangenheit im Vordergrund, wie es das Motto „Nie wieder Faschismus, nie wieder
Krieg!“ ausdrückte. Zwar war damals in Polen und in Deutschland das Wissen über
Hintergründe, Zusammenhänge und das wahre Ausmaß der Verbrechen des nationalsozialistischen
Deutschland viel geringer als heute, aber die meisten Menschen kannten die
Wahrheit, denn sie hatten die Erfahrung des Kriegs gemacht und wussten sehr
konkret, wovon die Rede war. Mit zunehmender zeitlicher Distanz nimmt die Zahl
der verfügbaren Zeitzeugen rasch ab, heute stehen nur noch wenige und nur noch
für eine absehbare Zeit zur Verfügung. Seitdem ein deutscher Außenminister mit
dem Satz „Nie wieder Auschwitz“ die Bombardierung Belgrads durch deutsche
Piloten glaubte rechtfertigen zu können, ist die Notwendigkeit unabweisbar, an
Stelle des verblassenden unmittelbaren Wissens auf wissenschaftlich fundierte
historische Erzählungen zurück zu greifen. Jetzt ist die Zeit, die Fakten -
Dokumente, Zeugenberichte - zu sichern und zu ordnen, die einmal den
gemeinsamen Schatz für diese Erzählungen bilden werden. Daher wird auch - in
Polen und in Deutschland und zwischen Polen und Deutschen - so erbittert über
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gestritten, wofür die Auseinandersetzung
über das Zentrum gegen Vertreibungen nur ein Beispiel ist.
Kennzeichnend für viele Debatten
polnischer und deutscher Politiker und Publizisten der letzten Jahre war, dass
sie weit hinter dem von der Wissenschaft in Polen und Deutschland unstrittig
formulierten Erkenntnisstand zurückblieben und stattdessen griffige
Erinnerungskulte und gefällige Vorurteile bedienten. Die ausufernde deutsche Opferdebatte
(Luftkrieg, Vertreibung) ist ein Beispiel dafür. Es ist an der Zeit, die
wissenschaftliche Faktenlage gegen mystifizierende oder nationalistische
Schuldzuweisungen zu stellen, die Komplexität und Rationalität der Planung und
Durchführung der deutschen Aggression und Vernichtungspolitik als Lehrstück für
Gegenwart und Zukunft erfahrbar zu machen. Die so verstandene Historisierung
der Vergangenheit heißt, sie zu bewerten und zu relativieren, und neue Aspekte
und neue Themen - dazu gehören z.B. die Rolle der Wehrmacht oder von
Funktionseliten, Diplomaten, Ärzten, Richtern, Technokraten der
Sozialverwaltungen, Jugendhilfe oder der Wissenschaft bei der Planung und
Durchführung des Krieges und der Ausplünderung der besetzten Gebiete, und auch
die „vergessenen Opfer“ wie Behinderte und Kranke oder die heute in vielen Ländern
Europas immer noch marginalisierten und diskriminierten Sinti und Roma - in den
historischen und politischen Diskurs einzubeziehen.
Die Historisierung der
Vergangenheit ist aber auch noch aus einem anderen Grunde unausweichlich.
Unmittelbar nach dem Krieg war das Verhältnis der Menschen „Diesseits und jenseits
der Oder“ übersichtlich: Drüben lebten die Opfer des NS-Terrors und hüben
diejenigen, die dafür die Verantwortung trugen, selbst wenn sie zu jener
Minderheit zählten, die als Antifaschisten ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten,
um der braunen Barbarei entgegen zu treten. Dieses Verhältnis hat sich
grundlegend gewandelt. Wer heute in Polen oder in Deutschland zur Schule geht,
hat Eltern, die in der Regel selber den Krieg nur aus dem Schulbuch kennen.
Unmittelbare Betroffenheit oder gar Schuldgefühle spielen bei solchen
Jugendlichen keine Rolle. Damit gerät aber das Bewusstsein für die auf sie
geladene Verantwortung in den Hintergrund. Dies ist in einer Situation, in der
in allen europäischen Ländern faschistische und neofaschistische Gruppierungen
an Einfluss gewinnen und vor allem auf Jugendliche eine wachsende
Anziehungskraft ausüben, von besonderer Wichtigkeit.
Für Deutschland kommt ein
wichtiger Umstand hinzu: Ein großer Teil der deutschen Jugendlichen hat Eltern
und Großeltern, die gar nicht in Deutschland geboren sind. Sie kommen aus den
klassischen Zuwanderungsländern des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens, die
entweder nicht (Türkei, Iran, Maghreb) oder ganz anders vom Krieg betroffen
waren (Griechenland, Jugoslawien oder Italien), und - last but
not least - aus Polen und den Ländern der ehemaligen
Sowjetunion. Ihre Integration in die deutsche Gesellschaft muss
notwendigerweise die Integration in die deutsche Geschichte, in die
historischen Erzählungen einschließen. Das heißt aber auch, die kollektiven
Erfahrungen der Migranten in einem universellen
historischen Narrativ zu berücksichtigen. Der gerade unter randständigen und
benachteiligten Jugendlichen in Deutschland (stärker) und in Polen (weniger
stark) verbreitete Antisemitismus beweist die Notwendigkeit einer integrierenden
Geschichtserzählung.
4. Der zeitliche und thematische Bezugsrahmen des deutsch-polnischen
Dialogs erweitert sich.
Die Wahrheit in den
deutsch-polnischen Beziehungen ist ohne die Jahre 1939 bis 1945 nicht zu
begreifen, sie ist aber nicht allein aus dieser Zeitspanne heraus zu verstehen.
Das Spezifikum der deutsch-polnischen Nachbarschaft,
das sie aus allen anderen Nachbarschaften heraushebt, liegt in der Summe von
„200 Jahren deutscher Polenpolitik“ (Martin Broszat),
die immer auch deutsche Innenpolitik war, nämlich das Bemühen der Einen, auf
deutschem Boden eine Demokratie nach dem Vorbild der westlich des Rheins
lebenden Völker zu errichten, und das - mehr als einmal erfolgreiche - Tun der
Anderen, eben dies zu verhindern. In allen Phasen dieser Entwicklung - von den
Teilungen Polens vor 250 Jahren über die „Polenfreundschaft“ des Vormärz, den
Kulturkampf und Hakatismus des Kaiserreichs, den
Ludendorff-Plan im Ersten Weltkrieg, den Revanchismus und Revisionismus der
Weimarer Zeit bis zur Katastrophe des NS-Regimes und zur Nachkriegszeit - sind
deutsche und polnische Interessen und Konflikte miteinander verwoben. Daher
muss der Rahmen der deutsch-polnischen Verständigung über die Jahre des Krieges
hinaus historisch und thematisch erweitert werden. Von besonderem Interesse
sind dabei Personen wie Hellmut von Gerlach, die sich der Zwangsläufigkeit des
Scheiterns von Demokratie und Frieden entgegengestemmt haben. Es ist notwendig,
in der polnischen und deutschen Geschichte nach Menschen mit Vorbildcharakter
zu suchen und sich ihr Erbe anzueignen.
Eine weitere thematische
Erweiterung des deutsch-polnischen Dialogs betrifft die Dreiecksbeziehung Polen
- Juden - Deutsche. Die Mehrzahl der im deutschen Machtbereich ermordeten Juden
waren polnische Juden; ihr Schicksal während und nach der deutschen Okkupation
hat tiefe Spuren in Polen gelassen. Die Shoah war
nicht nur der unfassbare Massenmord an den europäischen Juden, sie hat eine
einzigartige, jahrhundertealte polnisch-jüdische Lebensgemeinschaft vernichtet.
Die großen Vernichtungslager der Nazis wurden auf besetztem polnischem
Territorium errichtet, was nicht allein die Leiden der nichtjüdischen Polen
unter dem Terror der Besatzer überschattet, sondern auch mit dem immer wieder
zitierten Begriff der „polnischen Lager“ ein Anknüpfungspunkt für
Verdächtigungen und Verfälschungen ist. Die polnisch-jüdische Geschichte und
ihre komplizierten Konflikte können aber heute ohne den Aspekt der Shoah nicht verstanden werden. Das gilt auch für die
Erörterung lange Zeit tabuisierter Themen, wie die Schuld polnischer
Antisemiten für die Ermordung von Juden während und nach dem Krieg. Auch diese
Verbrechen sind nicht erklärbar ohne den deutschen Vernichtungsterror und seine
Auswirkungen auf die gesamte polnische Gesellschaft, die diesem Terror
ausgesetzt war. Aus polnischer Sicht ist die deutsche Verantwortung für die
Verbrechen zwischen 1939 und 1945 und ihre Folgen in den polnisch-jüdischen
Dialog einzubeziehen; aus deutscher Sicht ist ein deutsch-polnischer Dialog,
der nicht auch die jüdische Perspektive berücksichtigt, unwahrhaftig.
5. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind ein Spiegel ungleicher
gesellschaftlicher Erwartungen und Interessen.
Beziehungen zwischen Polen und
Deutschland finden heute auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und in
allen Bereichen statt. Der Tourismus zwischen beiden Ländern hat stark
zugenommen, persönliche Kontakte und Begegnungen sind so vielfältig wie
alltäglich. Es dürfte inzwischen mehr als 50.000 binationale
Eheschließungen geben. Bekanntlich können auch solche Ehen scheitern, und dann
drohen die banalen wie schrecklichen Auseinandersetzungen um die Versorgung und
Erziehung gemeinsamer Kinder auf einmal zu einer nationalen Sache zu werden. In
den polnischen Medien ist immer wieder von Fällen zu lesen, wo polnischen
geschiedenen Elternteilen von deutschen Familiengerichten auf Antrag des deutschen
Elternteils und mit Zustimmung der Jugendämter das Sorgerecht entzogen wird,
weil sie das Kind in der polnischen Kultur erziehen wollen, was dem deutschen
Elternteil nicht passt und was nach Auffassung der Ämter das
"Kindeswohl" gefährdet. In solchen Konflikten wird auf der Seite
beteiligter deutscher Behörden neben fehlender Sensibilität für die in Polen
fortdauernde Erinnerung an die üble Rolle deutscher Jugendämter bei der
Zwangseindeutschung geraubter polnischer Kinder während der Okkupation immer
wieder auch ein Aspekt kultureller Überheblichkeit gegenüber der polnischen
Kultur und Sprache, wenn nicht sogar kultureller Hegemonie, deutlich. Derselben
Überheblichkeit und kulturellen Hegemonie sind polnische Spätaussiedler seit
Jahrzehnten ausgesetzt. Sie zeigt sich im mehr oder minder offenen Zwang zur
Umschreibung ihrer slawischen Namen in deutsch klingende und in der Umschreibung
ihrer polnischen Geburtsorte auf die früheren deutschen Ortsnamen, auch wenn
die Betroffenen lange nach dem Krieg dort geboren wurden. Angehörige der
polnischen Minderheit in Deutschland beklagen daher auch eine Neigung zu
antipolnischen Ressentiments, die in allen gesellschaftlichen Schichten und in
allen Milieus salonfähig seien. Zu den harmloseren Ausdrucksformen solcher Ressentiments
gehören immer noch Stereotype von polnischen Autoschiebern und illegalen
Bauarbeitern.
Generell ist festzustellen, dass
die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen,
Institutionen und Vereinigungen besser sind als die politischen Beziehungen, ja
dass sie sogar von den politischen Auseinandersetzungen z.B. um das Zentrum
gegen Vertreibungen oft gar nicht berührt wurden. Die zahlreichen Städtepartnerschaften
und die deutsch-polnischen Gesellschaften, die oft innerhalb dieser
Partnerschaften entstanden sind, leisten mit ihren mitunter mit großem
persönlichem Engagement Einzelner durchgeführten Aktivitäten einen unverzichtbaren
Beitrag zur Normalisierung. Aber zugleich ist eine starke Asymmetrie auch in
diesem Bereich festzustellen. Die Zahl der aktiv an solchen Begegnungen
Beteiligten auf deutscher Seite ist wesentlich kleiner als auf polnischer. Oft
hat man den Eindruck, dass die polnischen Partner der deutschen Seite gewisse
Dinge und gewisse Themen lieber nicht zumuten wollen, weil sie damit rechnen,
nicht verstanden zu werden.
6. Aufgaben und Handlungsfelder für die Deutsch-Polnische Gesellschaft
der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Rasche Fortschritte auf dem Weg
der Normalisierung sind zurzeit weder in Warschau noch in Berlin zu erwarten.
Die Gründe hierfür sind evident: Die deutsche Seite leugnet hartnäckig die
Existenz von Hindernissen welcher Art auch immer, die polnische Seite
ihrerseits sieht aus der Umklammerung mit Deutschland keinen Rück- bzw. Ausweg.
Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass auf polnischer Seite inzwischen eine
erhebliche Ernüchterung eingetreten ist, auch wenn man deren tiefere Ursachen
nicht zu orten weiß. Die politischen Klassen beider Länder sind sich
offenkundig darin einig, dass sie sich in einer Reihe von Grundfragen nicht
einigen können. Dass man darüber nicht in eine politische „Eiszeit“ fällt, ist
vielleicht auch Zeichen eines gewissen Fortschritts. Doch ist damit kein
stabiler Zustand geschaffen: In diesem Frühjahr wird das Urteil des
Europäischen Gerichtshofs aufgrund der Klage der „Preußischen Treuhand“
erwartet, und der Richterspruch könnte, wenn er wider Erwarten doch dem
Anspruch der „Preußen“ auf enteignetes Grundeigentum stattgibt, zu einem
politischen Erdbeben führen. Im besten Falle, wenn nämlich die Klage abgewiesen
werden sollte, wäre kein Fortschritt in der Sache zu verzeichnen, sondern
lediglich der Status quo in eine weitere Runde gerettet.
Die Qualität der Beziehungen kann
angesichts der Verweigerungshaltung der politischen Klasse nur durch
bürgerschaftliches Engagement in jeder Beziehung gefördert werden. Ein großer
Teil dieses Engagements wird von den örtlichen und regionalen
Deutsch-Polnischen Gesellschaften geleistet und kann gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Allerdings sind diese Gesellschaften zurückhaltend mit
Aussagen und Aktivitäten, die sich mit den hier angesprochenen Themen
beschäftigen. Dadurch entsteht zwischen der gesellschaftlichen und politischen
Realität und den Aktivitäten der örtlichen Gesellschaften eine Lücke.
Diese Lücke muss durch eine
politisch vorausdenkende Organisation geschlossen
werden, und eine solche war und ist seit ihrer Gründung vor nun bald 60 Jahren
die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V. Ihre
Aufgabe lautet, die deutsch-polnische Verständigung als Kern einer Bewegung für
zivilgesellschaftliche, demokratische und friedliche Verhältnisse in einem
offenen, multiethnischen Europa zu entwickeln, für soziale Gerechtigkeit und
Solidarität einzutreten und allen Gefahren und Widerständen für die Erreichung
dieser Ziele, die sich als demokratiefeindliche, fremdenfeindliche und
freiheitswidrige Tendenzen zeigen, entgegen zu wirken. Die Gesellschaft hat den
Menschen in Deutschland, die ihre Adressaten sind, die Wirklichkeit, in der sie
leben und die Wirklichkeit Polens zu erklären, sie hat zu sagen, was in den
beiden Ländern in Bezug aufeinander geschieht. Die Gesellschaft dient der
Verständigung und nicht, wie ein in Polen und Deutschland weit verbreiteter
Irrtum lautet, der Versöhnung, welche bekanntlich nur zwischen in einen
Konflikt verwickelten Individuen möglich ist, und Verständigung hat
Normalisierung zur Voraussetzung, Normalisierung im Sinne einer Beseitigung der
im Laufe der Geschichte aufgebauten Hürden, die einer Verständigung im Wege
stehen.
Die Deutsch-Polnische
Gesellschaft der BRD e.V. wird ihre bescheidenen Möglichkeiten als NGO - als
eine bürgerschaftliche Initiative ohne Regierungsmacht - im deutsch-polnischen
Spannungsfeld immer in diesem Sinne einsetzen müssen. Sie wird dabei manches
von dem tun, was auch andere auf dem Gebiet der Völkerverständigung und der
internationalen Zusammenarbeit tätige Vereinigungen machen: Sportliche und
touristische Aktivitäten, Stammtische und kulturelle Events etc. Sie wird dabei
nicht darauf verzichten dürfen, den Anspruch politischer Aufklärung
hochzuhalten. Sie wird vor allem den Weg der Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen
müssen, auf dem sie seit Jahrzehnten Aufmerksamkeit weit über ihre Mitgliederschaft hinaus erregt. Dazu gehören die Herausgabe
der Zeitschrift POLEN und wir, die Veranstaltung
von Tagungen und Herausgabe weiterer Publikationen.
Die Gesellschaft sucht dabei die
Zusammenarbeit mit Persönlichkeiten und Vereinen, die in ähnlicher Weise
arbeiten und dabei die gleichen Ziele verfolgen. Dazu gehören seit langem die
Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V. in Deutschland und das Instytut Zachodni (Westinstitut)
in Poznañ. Diese Kontakte müssen erweitert werden.
Wichtige Partner einer Zusammenarbeit sind für die Gesellschaft dabei zum
Beispiel die Kopernikus-Gruppe, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern und
Publizisten aus Deutschland und Polen, die Zeitschrift und Verein Welttrends
e.V., die sich ebenfalls die Erforschung des deutsch-polnischen Verhältnisses
zur Aufgabe gemacht hat, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Organisationen
der NS-Verfolgten, Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der
Polnische Sozialrat Berlin oder das Georg Eckert Institut Braunschweig, und
insbesondere Vereinigungen in Polen, wie die Stiftungen Pogranicze
und Pro publico bono. Nach wie vor wartet die
Gesellschaft auch auf eine Antwort des Bundesverbandes Deutsch-Polnischer Gesellschaften
auf einen Aufnahmeantrag, der dort seit Jahren vorliegt.
Die Spaltungslinie Europas, die angeblich entlang der Elbe verlief, verlief tatsächlich immer westlich des Rheins. Sie trennte jene Länder, die sich nach eigenem Willen und aus eigener Kraft eine auf aufgeklärte Vernunft gegründete Ordnung - nämlich die der Demokratie - gaben, von jenen, die sich an mythischen oder metaphysischen Modellen orientierten. Heute gehören Polen und Deutschland gemeinsam zu einer Europäischen Union, deren Zentren in Brüssel und Straßburg eindeutig im Reich der aufgeklärten Vernunft liegen. Darin liegt eine Chance.