Was ist? Was bleibt?

Was kommt?

Pflichten und Aufgaben deutsch-polnischer Verständigung

 

Von Christoph Koch und Friedrich Leidinger

 

Beziehungen zwischen Nachbarn können sehr unterschiedlich sein. Mal sind sie frostig, mal herzlich, mal sind sie unfreundlich, mal verständnislos und mal freundschaftlich. Solange die beiderseitigen Interessen in einer ausgleichenden Balance gehalten werden und der Umgang miteinander eine Basis gegenseitigen Respekts und Vertrauens erkennen lässt, gibt es eine breite Spanne normaler Nachbarschaftsformen. Die polnisch-deutsche Nachbarschaft ist politisch und gesellschaftlich in einem Zustand, der nicht als Normalität bezeichnet werden kann. Die Ursachen hierfür liegen vor allem in der fortdauernden Wirkung historischer Ereignisse auf aktuelle politische Fragen und auf gesellschaftliche Ansichten, Meinungen und Vorstellungen auf beiden Seiten des angeblich nicht mehr vorhandenen Zaunes an Oder und Neiße und wohl leider auch im mangelnden Willen verschiedener Akteure, diesen Wirkungen etwas Adäquates entgegenzusetzen.

 

Am Tag des deutschen Überfalls auf Polen war das deutsch-polnische Verhältnis auf dem absolut tiefsten Punkt angelangt. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, zu denen Polen formal nicht gehörte, ordneten die Strukturen dieser Nachbarschaft durch die Westverschiebung Polens neu. In dieser Zeit erkannten verantwortliche Männer und Frauen den Auftrag, für ein völlig neues deutsch-polnisches Verhältnis einzutreten und gründeten eine Vereinigung mit dem Namen des liberalen Demokraten und Pazifisten Hellmut von Gerlach. Sie hatten die Lehre aus der deutschen Geschichte gezogen, dass die Überwindung des Nationalsozialismus untrennbar mit der Normalisierung der Beziehungen zu Polen verbunden war, dass diese Beziehungen der Lackmustest für die Einsichtsfähigkeit der Deutschen in die Debellatio - die vollständige Niederwerfung - des räuberischen, terroristischen Reiches und die Notwendigkeit einer auf Recht und Frieden aufbauenden staatlichen Ordnung Europas war. Die unbedingte Voraussetzung dafür war die Anerkennung der territorialen Realitäten und der Verantwortung für die Verbrechen Nazideutschlands.

Das war 1948 und seitdem hat die aus dieser Gründung hervorgegangene Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD e.V. und ihre jeweiligen Vorläufer in der Bundesrepublik und in der Deutschen Demokratischen Republik die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen in den beiden deutschen Staaten und schließlich im vereinigten Deutschland begleitet und unter den jeweiligen Bedingungen durch Aufklärung und öffentliches Auftreten die Herstellung normaler nachbarschaftlicher Verhältnisse gefordert. Sie befand und befindet sich mit ihren Forderungen in der alten und in der neuen Bundesrepublik stets abseits der politischen Klasse, ohne unmittelbaren Einfluss auf das Regierungshandeln. Dennoch hat das Eintreten dieser Gesellschaft seit der Adenauer-Republik für die Anerkennung der polnischen Westgrenze, für gleichberechtigte partnerschaftliche Begegnungen von Menschen aus Polen und Deutschland, für kulturellen Austausch, wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit, für eine Entschädigung der polnischen Opfer des NS-Terrors uvm. ohne Zweifel den Weg für zahlreiche Fortschritte geebnet.

Nach sechs Jahrzehnten und fast zwei Jahrzehnte nach den Verwerfungen des Jahres 1989 ist die Frage zu stellen, ob es einer solchen deutsch-polnischen Gesellschaft noch bedarf, und falls ja: Was hat sich gegenüber den Anfängen der Gesellschaft geändert? Welche Voraussetzungen sind für ihre Tätigkeit anzunehmen? Wie ist der Auftrag einer deutsch-polnischen Gesellschaft heute zu formulieren? Welche Ziele sind heute wichtig und notwendig, und welche Methoden sind dabei sinnvoll?

1. Der historische Schnittpunkt 1989/90 hat die Konflikte aber auch die Chancen im deutsch-polnischen Verhältnis freigelegt.

Der nach langer Krise eingetretene Zusammenbruch des sozialistischen Lagers - als Sieg gefeiert von einer Gesinnung, die nicht im Stande ist, ihn als Tragödie zu begreifen - hat, wie sich inzwischen, nach einer gewissen zeitlichen Distanz zeigt, den Blick auf den eigentlichen deutsch-polnischen Konflikt freigemacht, einen Blick, der zuvor durch den Ost-West-Konflikt verstellt schien. Solange sich Polen und die BRD durch die politische Teilung Europas jeweils auf der anderen Seite des Zauns befanden, war man hüben wie drüben nicht müde geworden zu behaupten, die zwischen Deutschland und Polen liegenden Fragen ließen sich schon lösen, wenn erst einmal die Kommunisten verschwunden wären. Die Kommunisten sind „verschwunden“ (und mit ihnen die DDR, welche keinen geringen Beitrag zur Lösung dieser Fragen geleistet hatte) - der deutsch-polnische Konflikt wirft indessen seinen Schatten deutlicher denn je.

Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zog einen Strich durch 45 Jahre Deutschlanddoktrin vom Fortbestand des Deutschen Reiches und besiegelte de facto die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges. Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, wie an einer Stelle - der deutsch-polnischen Grenze - versucht wird, die Möglichkeit einer Revision offen zu halten. Der christdemokratische Bundeskanzler Kohl betrieb über die Minderheitenfrage eine aktive Politik in dieser Richtung. Seine Nachfolger Schröder und die ostsozialisierte Merkel sind in dieser „urdeutschen Frage“ merklich desinteressiert.

Das Ende des Kalten Kriegs hatte Konsequenzen für die Bündnisstrukturen: Polen und Deutschland befinden sich nun zum ersten Mal im selben Lager. Polen flüchtete gewissermaßen von der russischen an die deutsche Brust, ließ sich gemeinsam mit seinen Nachbarn im Norden und Süden durch die NATO verhaften und in die EU eingliedern. Statt abzurüsten verlagerte die NATO ihr Militärpotential durch Inkorporation von Streitkräften des ehemaligen Warschauer Paktes näher an Russland. Gleichzeitig grenzten sich NATO und EU gegenüber Russland ab. Das erneute Entstehen einer antirussischen Frontstellung wurde auch nicht durch das Angebot einer privilegierten Zusammenarbeit an Russland gemindert. Das zunächst reibungslose deutsch-polnische Zusammenwirken bei dieser strategischen Neuaufstellung ignorierte jedoch die bestehende Abhängigkeit Europas von den russischen Energievorräten. Den Versuch, diesen Widerspruch an Polen vorbei zu lösen, leitete der Realo Schröder ein, inzwischen Aufsichtsratsvorsitzender bei einem russischen Gaspipeline-Konsortium unter Führung von Gazprom.

Die NATO, einst als Verteidigungsbündnis gegen das sozialistische Lager entstanden, hat nach der Auflösung dieses Lagers ihre Identität als Bündnis verloren, was die gegenseitigen Bindungskräfte der Mitglieder des verbliebenen Lagers schwächt und - teils alte, teils neue - Gegensätze zwischen den Bündnispartnern hervortreten lässt. Der dramatische Niedergang seiner Führungsmacht, die militärisch ihre Überlegenheit in einem völkerrechtswidrigen, aussichtslosen Krieg gegen primitiv bewaffnete religiöse Fanatiker opfert, wirtschaftlich auf dem Abhang einer Rezession, deren Ende nicht absehbar ist, rutscht, und - last but not least - durch Missachtung und Bruch des Völkerrechts und wesentlicher Normen der Rechtsstaatlichkeit ihren moralischen Kredit verspielt, wird für den Bestand des ganzen Lagers unabsehbare Folgen haben. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz der aufstrebenden Wirtschaftsmächte Ostasiens und die vorsichtige, jedoch spürbare Emanzipation ehemaliger „Hinterhöfe“ (Lateinamerika). In einer Zeit der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung verliert der westliche „way of life“ von seiner einstigen Strahlkraft und wird von immer mehr Menschen abgelehnt.

Indessen wird eine kurzfristig zu erwartende wirtschaftliche und politische Gewichtszunahme Europas vor allem für Deutschland, mehr als für Polen, die Gefahr in sich bergen, in den Sog des amerikanischen Niedergangs gerissen zu werden und damit gegenüber aufstrebenden Wirtschaftsmächten ins Hintertreffen zu geraten.

2. Friedenspolitik ist ein Kernthema deutsch-polnischer Verständigung.

Das polnisch-deutsche Verhältnis hat eine Schlüsselrolle für den Frieden in Europa. Die Zugehörigkeit Polens und Deutschlands zu demselben Militärbündnis und die Tatsache, dass kein europäisches Land heute militärisch bedroht wird, schafft eine historisch einmalige Chance für Abrüstungs- und Friedenspolitik. Doch eine Mehrung und Ausschöpfung der Friedensdividende im Sinne einer Politik der internationalen Verständigung wenigstens der europäischen Länder zum gemeinsamen Kampf gegen Armut und Unterdrückung, zur Verhinderung von Krieg und Terrorismus und zu gemeinsamen Aktionen gegen Umweltgefahren findet nicht statt. In Afghanistan führt die NATO mit den USA und mit Beteiligung der Bundeswehr und der polnischen Armee einen Bürgerkrieg mit Tausenden von Toten, während gleichzeitig die EU nicht in der Lage ist, ein paar tausend Beamte zum Aufbau ziviler Strukturen in diesem geschundenen Land zu stellen. In beiden Ländern wurde die Beteiligung an diesen militärischen Operationen im Wesentlichen mit bündnispolitischen Erwägungen begründet. Zwar hat Deutschland den Irak-Krieg von Anfang an abgelehnt, doch es gab für diese Ablehnung auch merkwürdige Argumente. So trifft die polnische Kritik an Antiamerikanismen in der deutschen Öffentlichkeit, für die auch die damalige Bundesregierung verantwortlich war, durchaus einen wesentlichen Kern.

Anders als in Deutschland ist man sich in Polen bewusst, dass die USA noch vor 60 Jahren als führende Macht der Anti-Hitler-Koalition maßgeblich zur Überwindung des Nationalsozialismus und zur Schaffung einer stabilen Friedensordnung in Europa beigetragen haben. Umgekehrt ist die Beteiligung Polens an der Koalition der Willigen im Irak und damit seine Verstrickung in einen völkerrechtswidrigen, blutigen Krieg auch Folge seines Misstrauens gegenüber Deutschland und Ausdruck des polnischen Zweifels an der Stabilität und Sicherheit der europäischen Bündnisstrukturen. So kommt auch in den Beziehungen Deutschlands und Polens zu den USA gegenseitiges deutsch-polnisches Misstrauen zum Ausdruck.

Die polnische Haltung gegenüber der Militärpolitik der USA in Verbindung mit der geplanten Stationierung eines Raketenabwehrsystems, das sich angeblich gegen die Bedrohung durch iranische Interkontinentalraketen richtet, belastet die Beziehungen Polens zu Russland und fördert gleichzeitig die Spannungen innerhalb des NATO-Bündnisses. Auch in Europa ist der Abrüstungsprozess ins Stocken geraten.

3. Die Vergangenheit wird historisch.

In den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen ist die Anerkennung von Wahrheit als Grundlage jeder Normalisierung eine unverzichtbare Voraussetzung. In den ersten Nachkriegsjahren stand das Erschrecken über die unmittelbar zurückliegende Vergangenheit im Vordergrund, wie es das Motto „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ ausdrückte. Zwar war damals in Polen und in Deutschland das Wissen über Hintergründe, Zusammenhänge und das wahre Ausmaß der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland viel geringer als heute, aber die meisten Menschen kannten die Wahrheit, denn sie hatten die Erfahrung des Kriegs gemacht und wussten sehr konkret, wovon die Rede war. Mit zunehmender zeitlicher Distanz nimmt die Zahl der verfügbaren Zeitzeugen rasch ab, heute stehen nur noch wenige und nur noch für eine absehbare Zeit zur Verfügung. Seitdem ein deutscher Außenminister mit dem Satz „Nie wieder Auschwitz“ die Bombardierung Belgrads durch deutsche Piloten glaubte rechtfertigen zu können, ist die Notwendigkeit unabweisbar, an Stelle des verblassenden unmittelbaren Wissens auf wissenschaftlich fundierte historische Erzählungen zurück zu greifen. Jetzt ist die Zeit, die Fakten - Dokumente, Zeugenberichte - zu sichern und zu ordnen, die einmal den gemeinsamen Schatz für diese Erzählungen bilden werden. Daher wird auch - in Polen und in Deutschland und zwischen Polen und Deutschen - so erbittert über Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gestritten, wofür die Auseinandersetzung über das Zentrum gegen Vertreibungen nur ein Beispiel ist.

Kennzeichnend für viele Debatten polnischer und deutscher Politiker und Publizisten der letzten Jahre war, dass sie weit hinter dem von der Wissenschaft in Polen und Deutschland unstrittig formulierten Erkenntnisstand zurückblieben und stattdessen griffige Erinnerungskulte und gefällige Vorurteile bedienten. Die ausufernde deutsche Opferdebatte (Luftkrieg, Vertreibung) ist ein Beispiel dafür. Es ist an der Zeit, die wissenschaftliche Faktenlage gegen mystifizierende oder nationalistische Schuldzuweisungen zu stellen, die Komplexität und Rationalität der Planung und Durchführung der deutschen Aggression und Vernichtungspolitik als Lehrstück für Gegenwart und Zukunft erfahrbar zu machen. Die so verstandene Historisierung der Vergangenheit heißt, sie zu bewerten und zu relativieren, und neue Aspekte und neue Themen - dazu gehören z.B. die Rolle der Wehrmacht oder von Funktionseliten, Diplomaten, Ärzten, Richtern, Technokraten der Sozialverwaltungen, Jugendhilfe oder der Wissenschaft bei der Planung und Durchführung des Krieges und der Ausplünderung der besetzten Gebiete, und auch die „vergessenen Opfer“ wie Behinderte und Kranke oder die heute in vielen Ländern Europas immer noch marginalisierten und diskriminierten Sinti und Roma - in den historischen und politischen Diskurs einzubeziehen.

Die Historisierung der Vergangenheit ist aber auch noch aus einem anderen Grunde unausweichlich. Unmittelbar nach dem Krieg war das Verhältnis der Menschen „Diesseits und jenseits der Oder“ übersichtlich: Drüben lebten die Opfer des NS-Terrors und hüben diejenigen, die dafür die Verantwortung trugen, selbst wenn sie zu jener Minderheit zählten, die als Antifaschisten ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um der braunen Barbarei entgegen zu treten. Dieses Verhältnis hat sich grundlegend gewandelt. Wer heute in Polen oder in Deutschland zur Schule geht, hat Eltern, die in der Regel selber den Krieg nur aus dem Schulbuch kennen. Unmittelbare Betroffenheit oder gar Schuldgefühle spielen bei solchen Jugendlichen keine Rolle. Damit gerät aber das Bewusstsein für die auf sie geladene Verantwortung in den Hintergrund. Dies ist in einer Situation, in der in allen europäischen Ländern faschistische und neofaschistische Gruppierungen an Einfluss gewinnen und vor allem auf Jugendliche eine wachsende Anziehungskraft ausüben, von besonderer Wichtigkeit.

Für Deutschland kommt ein wichtiger Umstand hinzu: Ein großer Teil der deutschen Jugendlichen hat Eltern und Großeltern, die gar nicht in Deutschland geboren sind. Sie kommen aus den klassischen Zuwanderungsländern des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens, die entweder nicht (Türkei, Iran, Maghreb) oder ganz anders vom Krieg betroffen waren (Griechenland, Jugoslawien oder Italien), und - last but not least - aus Polen und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Ihre Integration in die deutsche Gesellschaft muss notwendigerweise die Integration in die deutsche Geschichte, in die historischen Erzählungen einschließen. Das heißt aber auch, die kollektiven Erfahrungen der Migranten in einem universellen historischen Narrativ zu berücksichtigen. Der gerade unter randständigen und benachteiligten Jugendlichen in Deutschland (stärker) und in Polen (weniger stark) verbreitete Antisemitismus beweist die Notwendigkeit einer integrierenden Geschichtserzählung.

4. Der zeitliche und thematische Bezugsrahmen des deutsch-polnischen Dialogs erweitert sich.

Die Wahrheit in den deutsch-polnischen Beziehungen ist ohne die Jahre 1939 bis 1945 nicht zu begreifen, sie ist aber nicht allein aus dieser Zeitspanne heraus zu verstehen. Das Spezifikum der deutsch-polnischen Nachbarschaft, das sie aus allen anderen Nachbarschaften heraushebt, liegt in der Summe von „200 Jahren deutscher Polenpolitik“ (Martin Broszat), die immer auch deutsche Innenpolitik war, nämlich das Bemühen der Einen, auf deutschem Boden eine Demokratie nach dem Vorbild der westlich des Rheins lebenden Völker zu errichten, und das - mehr als einmal erfolgreiche - Tun der Anderen, eben dies zu verhindern. In allen Phasen dieser Entwicklung - von den Teilungen Polens vor 250 Jahren über die „Polenfreundschaft“ des Vormärz, den Kulturkampf und Hakatismus des Kaiserreichs, den Ludendorff-Plan im Ersten Weltkrieg, den Revanchismus und Revisionismus der Weimarer Zeit bis zur Katastrophe des NS-Regimes und zur Nachkriegszeit - sind deutsche und polnische Interessen und Konflikte miteinander verwoben. Daher muss der Rahmen der deutsch-polnischen Verständigung über die Jahre des Krieges hinaus historisch und thematisch erweitert werden. Von besonderem Interesse sind dabei Personen wie Hellmut von Gerlach, die sich der Zwangsläufigkeit des Scheiterns von Demokratie und Frieden entgegengestemmt haben. Es ist notwendig, in der polnischen und deutschen Geschichte nach Menschen mit Vorbildcharakter zu suchen und sich ihr Erbe anzueignen.

Eine weitere thematische Erweiterung des deutsch-polnischen Dialogs betrifft die Dreiecksbeziehung Polen - Juden - Deutsche. Die Mehrzahl der im deutschen Machtbereich ermordeten Juden waren polnische Juden; ihr Schicksal während und nach der deutschen Okkupation hat tiefe Spuren in Polen gelassen. Die Shoah war nicht nur der unfassbare Massenmord an den europäischen Juden, sie hat eine einzigartige, jahrhundertealte polnisch-jüdische Lebensgemeinschaft vernichtet. Die großen Vernichtungslager der Nazis wurden auf besetztem polnischem Territorium errichtet, was nicht allein die Leiden der nichtjüdischen Polen unter dem Terror der Besatzer überschattet, sondern auch mit dem immer wieder zitierten Begriff der „polnischen Lager“ ein Anknüpfungspunkt für Verdächtigungen und Verfälschungen ist. Die polnisch-jüdische Geschichte und ihre komplizierten Konflikte können aber heute ohne den Aspekt der Shoah nicht verstanden werden. Das gilt auch für die Erörterung lange Zeit tabuisierter Themen, wie die Schuld polnischer Antisemiten für die Ermordung von Juden während und nach dem Krieg. Auch diese Verbrechen sind nicht erklärbar ohne den deutschen Vernichtungsterror und seine Auswirkungen auf die gesamte polnische Gesellschaft, die diesem Terror ausgesetzt war. Aus polnischer Sicht ist die deutsche Verantwortung für die Verbrechen zwischen 1939 und 1945 und ihre Folgen in den polnisch-jüdischen Dialog einzubeziehen; aus deutscher Sicht ist ein deutsch-polnischer Dialog, der nicht auch die jüdische Perspektive berücksichtigt, unwahrhaftig.

5. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind ein Spiegel ungleicher gesellschaftlicher Erwartungen und Interessen.

Beziehungen zwischen Polen und Deutschland finden heute auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Bereichen statt. Der Tourismus zwischen beiden Ländern hat stark zugenommen, persönliche Kontakte und Begegnungen sind so vielfältig wie alltäglich. Es dürfte inzwischen mehr als 50.000 binationale Eheschließungen geben. Bekanntlich können auch solche Ehen scheitern, und dann drohen die banalen wie schrecklichen Auseinandersetzungen um die Versorgung und Erziehung gemeinsamer Kinder auf einmal zu einer nationalen Sache zu werden. In den polnischen Medien ist immer wieder von Fällen zu lesen, wo polnischen geschiedenen Elternteilen von deutschen Familiengerichten auf Antrag des deutschen Elternteils und mit Zustimmung der Jugendämter das Sorgerecht entzogen wird, weil sie das Kind in der polnischen Kultur erziehen wollen, was dem deutschen Elternteil nicht passt und was nach Auffassung der Ämter das "Kindeswohl" gefährdet. In solchen Konflikten wird auf der Seite beteiligter deutscher Behörden neben fehlender Sensibilität für die in Polen fortdauernde Erinnerung an die üble Rolle deutscher Jugendämter bei der Zwangseindeutschung geraubter polnischer Kinder während der Okkupation immer wieder auch ein Aspekt kultureller Überheblichkeit gegenüber der polnischen Kultur und Sprache, wenn nicht sogar kultureller Hegemonie, deutlich. Derselben Überheblichkeit und kulturellen Hegemonie sind polnische Spätaussiedler seit Jahrzehnten ausgesetzt. Sie zeigt sich im mehr oder minder offenen Zwang zur Umschreibung ihrer slawischen Namen in deutsch klingende und in der Umschreibung ihrer polnischen Geburtsorte auf die früheren deutschen Ortsnamen, auch wenn die Betroffenen lange nach dem Krieg dort geboren wurden. Angehörige der polnischen Minderheit in Deutschland beklagen daher auch eine Neigung zu antipolnischen Ressentiments, die in allen gesellschaftlichen Schichten und in allen Milieus salonfähig seien. Zu den harmloseren Ausdrucksformen solcher Ressentiments gehören immer noch Stereotype von polnischen Autoschiebern und illegalen Bauarbeitern.

Generell ist festzustellen, dass die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen und Vereinigungen besser sind als die politischen Beziehungen, ja dass sie sogar von den politischen Auseinandersetzungen z.B. um das Zentrum gegen Vertreibungen oft gar nicht berührt wurden. Die zahlreichen Städtepartnerschaften und die deutsch-polnischen Gesellschaften, die oft innerhalb dieser Partnerschaften entstanden sind, leisten mit ihren mitunter mit großem persönlichem Engagement Einzelner durchgeführten Aktivitäten einen unverzichtbaren Beitrag zur Normalisierung. Aber zugleich ist eine starke Asymmetrie auch in diesem Bereich festzustellen. Die Zahl der aktiv an solchen Begegnungen Beteiligten auf deutscher Seite ist wesentlich kleiner als auf polnischer. Oft hat man den Eindruck, dass die polnischen Partner der deutschen Seite gewisse Dinge und gewisse Themen lieber nicht zumuten wollen, weil sie damit rechnen, nicht verstanden zu werden.

6. Aufgaben und Handlungsfelder für die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V.

Rasche Fortschritte auf dem Weg der Normalisierung sind zurzeit weder in Warschau noch in Berlin zu erwarten. Die Gründe hierfür sind evident: Die deutsche Seite leugnet hartnäckig die Existenz von Hindernissen welcher Art auch immer, die polnische Seite ihrerseits sieht aus der Umklammerung mit Deutschland keinen Rück- bzw. Ausweg. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass auf polnischer Seite inzwischen eine erhebliche Ernüchterung eingetreten ist, auch wenn man deren tiefere Ursachen nicht zu orten weiß. Die politischen Klassen beider Länder sind sich offenkundig darin einig, dass sie sich in einer Reihe von Grundfragen nicht einigen können. Dass man darüber nicht in eine politische „Eiszeit“ fällt, ist vielleicht auch Zeichen eines gewissen Fortschritts. Doch ist damit kein stabiler Zustand geschaffen: In diesem Frühjahr wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs aufgrund der Klage der „Preußischen Treuhand“ erwartet, und der Richterspruch könnte, wenn er wider Erwarten doch dem Anspruch der „Preußen“ auf enteignetes Grundeigentum stattgibt, zu einem politischen Erdbeben führen. Im besten Falle, wenn nämlich die Klage abgewiesen werden sollte, wäre kein Fortschritt in der Sache zu verzeichnen, sondern lediglich der Status quo in eine weitere Runde gerettet.

Die Qualität der Beziehungen kann angesichts der Verweigerungshaltung der politischen Klasse nur durch bürgerschaftliches Engagement in jeder Beziehung gefördert werden. Ein großer Teil dieses Engagements wird von den örtlichen und regionalen Deutsch-Polnischen Gesellschaften geleistet und kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Allerdings sind diese Gesellschaften zurückhaltend mit Aussagen und Aktivitäten, die sich mit den hier angesprochenen Themen beschäftigen. Dadurch entsteht zwischen der gesellschaftlichen und politischen Realität und den Aktivitäten der örtlichen Gesellschaften eine Lücke.

Diese Lücke muss durch eine politisch vorausdenkende Organisation geschlossen werden, und eine solche war und ist seit ihrer Gründung vor nun bald 60 Jahren die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V. Ihre Aufgabe lautet, die deutsch-polnische Verständigung als Kern einer Bewegung für zivilgesellschaftliche, demokratische und friedliche Verhältnisse in einem offenen, multiethnischen Europa zu entwickeln, für soziale Gerechtigkeit und Solidarität einzutreten und allen Gefahren und Widerständen für die Erreichung dieser Ziele, die sich als demokratiefeindliche, fremdenfeindliche und freiheitswidrige Tendenzen zeigen, entgegen zu wirken. Die Gesellschaft hat den Menschen in Deutschland, die ihre Adressaten sind, die Wirklichkeit, in der sie leben und die Wirklichkeit Polens zu erklären, sie hat zu sagen, was in den beiden Ländern in Bezug aufeinander geschieht. Die Gesellschaft dient der Verständigung und nicht, wie ein in Polen und Deutschland weit verbreiteter Irrtum lautet, der Versöhnung, welche bekanntlich nur zwischen in einen Konflikt verwickelten Individuen möglich ist, und Verständigung hat Normalisierung zur Voraussetzung, Normalisierung im Sinne einer Beseitigung der im Laufe der Geschichte aufgebauten Hürden, die einer Verständigung im Wege stehen.

Die Deutsch-Polnische Gesellschaft der BRD e.V. wird ihre bescheidenen Möglichkeiten als NGO - als eine bürgerschaftliche Initiative ohne Regierungsmacht - im deutsch-polnischen Spannungsfeld immer in diesem Sinne einsetzen müssen. Sie wird dabei manches von dem tun, was auch andere auf dem Gebiet der Völkerverständigung und der internationalen Zusammenarbeit tätige Vereinigungen machen: Sportliche und touristische Aktivitäten, Stammtische und kulturelle Events etc. Sie wird dabei nicht darauf verzichten dürfen, den Anspruch politischer Aufklärung hochzuhalten. Sie wird vor allem den Weg der Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen müssen, auf dem sie seit Jahrzehnten Aufmerksamkeit weit über ihre Mitgliederschaft hinaus erregt. Dazu gehören die Herausgabe der Zeitschrift POLEN und wir, die Veranstaltung von Tagungen und Herausgabe weiterer Publikationen.

Die Gesellschaft sucht dabei die Zusammenarbeit mit Persönlichkeiten und Vereinen, die in ähnlicher Weise arbeiten und dabei die gleichen Ziele verfolgen. Dazu gehören seit langem die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V. in Deutschland und das Instytut Zachodni (Westinstitut) in Poznañ. Diese Kontakte müssen erweitert werden. Wichtige Partner einer Zusammenarbeit sind für die Gesellschaft dabei zum Beispiel die Kopernikus-Gruppe, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Publizisten aus Deutschland und Polen, die Zeitschrift und Verein Welttrends e.V., die sich ebenfalls die Erforschung des deutsch-polnischen Verhältnisses zur Aufgabe gemacht hat, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Organisationen der NS-Verfolgten, Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der Polnische Sozialrat Berlin oder das Georg Eckert Institut Braunschweig, und insbesondere Vereinigungen in Polen, wie die Stiftungen Pogranicze und Pro publico bono. Nach wie vor wartet die Gesellschaft auch auf eine Antwort des Bundesverbandes Deutsch-Polnischer Gesellschaften auf einen Aufnahmeantrag, der dort seit Jahren vorliegt.

Die Spaltungslinie Europas, die angeblich entlang der Elbe verlief, verlief tatsächlich immer westlich des Rheins. Sie trennte jene Länder, die sich nach eigenem Willen und aus eigener Kraft eine auf aufgeklärte Vernunft gegründete Ordnung - nämlich die der Demokratie - gaben, von jenen, die sich an mythischen oder metaphysischen Modellen orientierten. Heute gehören Polen und Deutschland gemeinsam zu einer Europäischen Union, deren Zentren in Brüssel und Straßburg eindeutig im Reich der aufgeklärten Vernunft liegen. Darin liegt eine Chance.